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Aktueller Online-Flyer vom 23. April 2024  

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Literatur
Benedict Anderson, Oswald Spengler, Arnold Toynbee und andere Autoren
Die Erfindung der Nation
Von Uri Avnery

Vor zwei Wochen ist Benedict Anderson gestorben. Oder, wie wir hebräisch sagen: „Er ging in seine Welt.“ Anderson war ein in China geborener Ire, er wurde in England erzogen, sprach fließend einige südasiatische Sprachen und übte großen Einfluss auf meine Geisteswelt aus. Seinem wichtigsten Buch "Imagined Communities" (Die Erfindung der Nation, wörtlich: Vorgestellte Gemeinschaften) verdanke ich sehr viel.

 

WIR ALLE haben einige Bücher, die unsere Weltsicht geformt und verändert haben.

In meiner frühen Jugend las ich Oswald Spenglers monumentales Buch Der Untergang des Abendlandes. Es beeinflusste mich nachhaltig.

Spengler, der heute fast vergessen ist, glaubte, dass die gesamte Weltgeschichte aus einer Anzahl von „Kulturen“ bestehe; diese seien Menschen ähnlich: Sie würden geboren, reiften, alterten und stürben jeweils in einer Zeitspanne von tausend Jahren.

Die antike Kultur Griechenlands und Roms dauerte von 500 v.Chr. bis 500 n.Chr. Ihr folgte die „magische“ östliche Kultur, die im Islam gipfelte und bis zum Aufstieg des Abendlandes dauerte. Diese Kultur ist im Sterben begriffen und ihre Nachfolgerin ist die Russlands. (Wenn Spengler heute lebte, hätte er Russland wahrscheinlich durch China ersetzt.)

Spengler war so etwas wie ein Universalgenie und er erkannte auch einige Kulturen in anderen Kontinenten.

Das nächste monumentale Werk, das meine Weltsicht beeinflusste, war Arnold Toynbees A Study of History (Der Gang der Weltgeschichte). Wie Spengler glaubte er, die Geschichte bestehe aus „Kulturen“ ("civilizations"), die reiften und alterten; er fügte Spenglers Liste noch einige hinzu.

Spengler als Deutscher war bedrückt und pessimistisch. Toynbee als Brite war fröhlich und optimistisch. Er akzeptierte die Ansicht nicht, Kulturen seien nach einer gewissen Lebenszeit zum Sterben verurteilt. Zwar sei das bisher tatsächlich immer so gewesen, aber die Menschen könnten aus Fehlern lernen und ihren Kurs ändern.

ANDERSON BEHANDELTE nur einen Teil der Geschichte: die Geburt der Nationen.

Für ihn ist eine Nation eine menschliche Schöpfung der letzten Jahrhunderte. Er widersprach der akzeptierten Sichtweise, nach der es immer schon Nationen gegeben habe, die sich nur unterschiedlichen Zeiten angepasst hätten, wie wir es in der Schule gelernt haben. Er vertrat die Ansicht, dass Nationen erst vor etwa 350 Jahren „erfunden“ worden seien.

Nach europa-zentrierter Ansicht nahmen die „Nationen“ ihre gegenwärtige Form in der Französischen Revolution oder unmittelbar davor an. Bis dahin lebte die Menschheit in unterschiedlichen Organisationsformen.

Die primitiven Menschen lebten in Stämmen, die im Allgemeinen aus jeweils etwa 800 Menschen bestanden. Ein solcher Stamm war so klein, dass er sich von einem kleinen Gebiet ernähren konnte, und er war so groß, dass er sich gegen benachbarte Stämme verteidigen konnte, die immer darauf aus waren, ihm das Gebiet wegzunehmen.

Danach entstanden unterschiedliche Formen menschlicher Kollektive, z. B. die griechischen Stadtstaaten, die persischen und römischen Reiche, der ethnisch gemischte byzantinische Staat, die islamische „Umma“, die europäischen Viel-Völker-Monarchien und die abendländischen Kolonialreiche.

Jede dieser Schöpfungen passte in ihre Zeit und in ihre Realitäten. Der moderne Nationalstaat war eine Reaktion auf die Herausforderungen der Moderne („Herausforderung und Reaktion“ war Toynbees Veränderungsmechanismus). Durch neue Realitäten - die industrielle Revolution, die Erfindung von Eisenbahn und Dampfschiff, immer verheerendere moderne Waffen usw. – wurden kleine Herrschaftsgebiete unmodern.

Ein neues Modell wurde gebraucht und fand seine optimale Form in einem Staat, der aus Zig-Millionen Menschen bestand und der also so groß war, dass er eine moderne Industriewirtschaft betreiben, sein Gebiet mit Massenheeren verteidigen und eine gemeinsame Sprache als Grundlage der Verständigung aller Bürger miteinander entwickeln konnte.

(Man möge mir verzeihen, wenn ich meine eigenen schlichten Gedanken mit denen Andersons vermische. Ich bin zu faul, um sie auseinanderzuklamüsern.)

SCHON VOR der Blütezeit der neuen Nationen wurden England, Schottland, Wales und Irland durch Zwang zu Großbritannien vereinigt, zu einer Nation, die so groß und stark war, dass sie einen großen Teil der Welt erobern konnte. Franzosen, Bretonen, Provenzalen, Korsen und viele andere vereinigten sich und wurden dadurch zu Frankreich. Sie waren riesig stolz auf ihre gemeinsame Sprache, die von der Druckerpresse und den Massenmedien gefördert wurde.

Deutschland, ein Nachzügler auf der Bildfläche, bestand aus Dutzenden souveräner Königreiche und Fürstentümer. Preußen und Bayern verabscheuten einander, Städte wie Hamburg waren stolz auf ihre Unabhängigkeit. Erst während des französisch-preußischen Krieges von 1970 wurde das Deutsche Reich gegründet – sozusagen auf dem Schlachtfeld. Die Vereinigung „Italiens“ fand sogar noch später statt.

Die Angehörigen eines jeden dieser neuen Gebilde mussten ein gemeinsames Bewusstsein und eine gemeinsame Sprache haben und eben daher kam der „Nationalismus“. „Deutschland über alles“ wurde schon vor der Einigung geschrieben und bedeutete ursprünglich nicht, dass Deutschland über allen Nationen stände, sondern dass das gemeinsame deutsche Vaterland über allen lokalen Fürstentümern stehe.

Alle diese neuen „Nationen“ waren auf Eroberungen aus – aber zuallererst „eroberten“ und annektierten sie ihre eigene Vergangenheit. Philosophen, Historiker, Lehrer und Politiker machten sich eifrig daran, ihre Vergangenheit zu einer „Nationalgeschichte“ umzuschreiben.

So wurde zum Beispiel die Schlacht im Teutoburger Wald (9 n. Chr.), in der drei germanische Stämme eine römische Armee entscheidend besiegt hatten, zu einem nationalen „deutschen“ Ereignis. Der Führer Herman (Arminius) wurde posthum zu einem frühen „nationalen“ Helden.

Auf eine solche Weise entstanden Andersons „vorgestellte Gemeinschaften“.

Aber nach Anderson wurde die moderne Nation durchaus nicht in Europa, sondern in der westlichen Hemisphäre geboren. Als die nach Süd- und Nordamerika eingewanderten Gemeinschaften von Weißen die Nase von ihren unterdrückerischen europäischen Herren voll hatten, entwickelten sie lokalen (weißen) Patriotismus und wurden zu neuen „Nationen“: Argentinien, Brasilien, den Vereinigten Staaten und all den anderen. Jede wurde zu einer Nation mit einer eigenen nationalen Geschichte. Von dort drang die Idee in Europa ein, bis schließlich die gesamte Menschheit in Nationen unterteilt war.

Als Anderson starb, begannen die Nationen bereits wie antarktische Eisberge auseinanderzubrechen. Der Nationalstaat veraltet und wird schnell zur Fiktion. Eine weltweite Wirtschaft, übernationale Militärbündnisse, Raumfahrt, weltumspannende Kommunikationsmittel, Klimawandel und viele weitere Faktoren schaffen eine neue Realität. Organisationen wie die Europäische Union und die NATO übernehmen die Funktionen, die einmal die Nationalstaaten ausgeübt haben.

Nicht zufällig wird die Vereinigung geografischer und ideologischer Blöcke von etwas begleitet, das eine entgegengesetzte Tendenz zu sein scheint. In Wirklichkeit handelt es sich um einen komplementären Prozess: Nationalstaaten brechen auseinander. Schotten, Basken, Katalanen, Quebecer, Kurden und viele andere beanspruchen nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion, Jugoslawiens, Serbiens, des Sudan und einiger anderer übernationaler Gebilde ihre Unabhängigkeit. Warum müssen Katalonien und das Baskenland unter demselben spanischen Dach leben, wenn jedes ein separates, unabhängiges Mitglied der Europäischen Union sein kann?

HUNDERT Jahre nach der Französischen Revolution „erfanden“  Theodor Herzl und seine Kollegen die jüdische Nation.

Die Wahl des Zeitpunktes war nicht zufällig. Ganz Europa wurde „national“. Die Juden waren eine internationale ethnisch-religiöse Diaspora, ein Überbleibsel der ethnisch-religiösen Welt des Byzantinischen Reiches. Als solche erweckten sie Verdacht und Feindseligkeit. Herzl war ein glühender Bewunderer sowohl des Deutschen Reiches als auch des Britischen Empire und glaubte, dass er dem Antisemitismus ein Ende setzen könnte, indem er die Juden als eine territoriale Nation unter anderen neu definieren würde.  

Verspätet taten er und seine Schüler das, was alle anderen Nationen schon vor ihnen getan hatten: Sie erfanden eine „nationale“ Geschichte. Ihre Geschichte gründete sich auf biblische Mythen, auf Legenden und die Realität und sie nannten sie Zionismus. Dessen Wahlspruch war: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“.

Der Zionismus war – was von heftigem Antisemitismus unterstützt wurde – unglaublich erfolgreich. Juden ließen sich in Palästina nieder, schufen ihren eigenen Staat und wurden im Laufe der Ereignisse zu einer wirklichen Nation. „Eine Nation wie alle anderen“, wie eine berühmte Redensart lautet.

Das Problem war, dass der zionistische Nationalismus während dieses Prozesses nie wirklich die alte jüdische religiöse Identität überwand. Von Zeit zu Zeit zerplatzten unbequeme Kompromisse, die aus Zweckmäßigkeit eingegangen worden waren. Da der neue Staat von der Macht und den finanziellen Mitteln des Weltjudentums profitieren wollte, war er ganz zufrieden damit, die Beziehungen nicht abzubrechen, und gab vor,  die neue Nation in Palästina ("Eretz Israel") wäre nur eine unter vielen jüdischen Gemeinschaften, wenn auch die vorherrschende.

Anders als der Prozess, in dem sich Staaten vom Mutterland getrennt hatten, wie Anderson es beschrieben hat, missglückten die schwachen Versuche, in Palästina eine neue separate „hebräische“ Nation – etwa wie Argentinien und Kanada – zu errichten. (Schlomo Sand beschreibt das in seinen Büchern.)

Unter der gegenwärtigen israelischen Regierung wird Israel immer weniger israelisch und immer mehr jüdisch. Kippa tragende religiöse Juden übernehmen zunehmend zentrale Regierungsfunktionen, die Bildungseinrichtungen werden immer religiöser.

Jetzt will die Regierung ein Gesetz erlassen, in dem der Staat Israel „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ genannt wird. Damit setzt sie die Rechtsfiktion eines „jüdischen und demokratischen Staates“ außer Kraft. Der Kampf um dieses Gesetz kann durchaus zur Entscheidungsschlacht für Israels Identität werden.

Der Begriff an sich ist natürlich lächerlich. Ein Volk und eine Nation sind zwei unterschiedliche Begriffe. Ein Nationalstaat ist ein territoriales Gebilde, das seinen Bürgern gehört. Er kann nicht den Mitgliedern einer weltweiten Gemeinschaft gehören, die ihrerseits unterschiedlichen Nationen angehören, unterschiedlichen Armeen dienen und ihr Blut für die unterschiedlichen Anliegen ihrer Staaten vergießen.

Außerdem bedeutet die Formulierung, dass der Staat 20 oder mehr Prozent seiner Bürger, die gar keine Juden sind, nicht gehört. Könnte man sich eine Änderung in der Verfassung der USA vorstellen, in der erklärt wird, dass alle Angelsachsen weltweit US-Bürger seien, während Afroamerikaner und Hispanoamerikaner es nicht sind?

Na gut, vielleicht kann sich Donald Trump das vorstellen. Vielleicht auch nicht.

ICH HABE Benedict Anderson nie persönlich kennengelernt. Wie schade! Ich hätte sehr gerne über einige dieser Begriffe mit ihm gesprochen. (PK)

 

Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer Mitarbeiterinnen für die NRhZ rezensiert.
Für die Übersetzung dieses Buches und von Avnerys Artikeln aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie hat selbst auch ein neues eBuch bei Amazon veröffentlicht: "Ira Chernus, Amerikanische Nationalmythen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft". Alle ihre Bücher findet man unter
http://www.amazon.com/s/ref=nb_sb_noss?url=search-alias%3Daps&field-keywords. http://ingridvonheiseler.formatlabor.net

 



Online-Flyer Nr. 543  vom 30.12.2015

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