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Zum Tod von Arbeiterfotografie-Ehrenmitglied Horst Sturm
„...es wird vor allem der Krieg zu Ende sein...“
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
„...es wird ein neues Ideal entstehen, und es wird vor allem der Krieg zu Ende sein, aber man wird hart arbeiten müssen, aber man wird es erreichen.“ Dieser Satz aus einem der letzten Briefe von Käthe Kollwitz ist einem Artikel in der Horst Sturm gewidmeten Zeitschrift Arbeiterfotografie vorangestellt, die 2010 anlässlich der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Bundesverbands Arbeiterfotografie an ihn entstanden ist. Viele Jahrzehnte lebte Horst Sturm am Kollwitzplatz in Berlin, am Prenzlauerberg. Betrachtet man die unzähligen Fotos, die in seinem langen Fotografenleben entstanden sind, dann ist es, als habe Käthe Kollwitz ihre schützenden Hände auch um ihn gelegt und als hätte ihr Wunsch, den Menschen mit einer Umarmung Mut zu machen, Horst Sturm ein Leben lang geleitet. Er starb am 23. Dezember 2015 im Alter von 92 Jahren. Wir danken ihm für die Zuversicht und den Mut, die er an uns weitergegeben hat.
Horst Sturm, Berlin, 1952, fotografiert von Eva Kemlein – nachfolgend ein kleiner Querschnitt durch das fotografische Schaffen von Horst Sturm:
Oberbürgermeister Ebert spricht auf einer Straßenversammlung, Berlin, Palisadenstraße, 1951
Helene Weigel und Bertolt Brecht – Berlin, Berliner Ensemble, 1. Mai 1951
Weltfestspiele, Berlin, Unter den Linden, 1951
Alte Pumpe – an der im Zweiten Weltkrieg beim Wasserholen Menschen starben, Berlin, Kollwitz-Platz, 1965
November-Nachmittag – "Treffpunkt nach Feierabend", Berlin-Oberschöneweide, Edisonstraße/Ecke Wilhelminenhofstraße, 1968
Frau und Sohn im Hauseingang, Berlin, Kollwitz-Platz, 1967
Umgestaltung Kollwitzplatz mit Käthe-Kollwitz-Denkmal – Berlin, Prenzlauerberg, 1977
Meister und Geselle – Berlin, Köpenick, ca. 1960
Kohlenmänner – Willi und sein Kumpel, Berlin, am Kollwitz-Platz, 1965
Thomas Mann und Johannes R. Becher – Weimar, 1955
Besuch von Nikita S. Chruschtschow – Berlin, Schönhauser Allee/Ecke Dimitroffstraße, 1963
Mahn- und Gedenkstätte – Buchenwald, 1958
Verhaftung – West-Berlin, nahe Bahnhof Zoo, 1968
Schützende Hände – Mongolische Volksrepublik, 1975
Kranzniederlegung durch Bundeskanzler Willy Brandt (rechts neben ihm Otto Winzer, Außenminister der DDR) – Buchenwald bei Weimar, 19.3.1970
Im Flüchtlingslager Chatila – Beirut, 1980
Der nachfolgende Text ist der 2010 erschienenen Zeitschrift Arbeiterfotografie (Ausgabe 92) entnommen (Zitate von Horst Sturm kursiv).
Vierzig Jahre arbeitete Horst Sturm als Pressefotograf im Agenturdienst, und auch in der Zeit danach versteht er sich immer noch als aktiver Bildreporter, der das alltägliche Leben genauso wie das weltbewegende Zeitgeschehen - den Fall der Berliner Mauer zum Beispiel - mit der Kamera begleitet. Die Liebe zur Fotografie wurde schon beim Schüler geweckt, der von den optischen Eindrücken eines Periskops in einem Planetarium, das er mit der Schulklasse besuchte, gefangen war. Weil seine Eltern diese Neigung erkannten, schenkten sie dem 11jährigen zum Geburtstag eine Box-Kamera:
Ich hab heute noch so eine alte Kamera im Schrank. Man musste vier Mark haben mit den Prägungen a - g - f - a, und dann kriegte man für vier Mark diese Box. Damit hab ich meine erste Aufnahme gemacht: meinen Vater und meine Mutter mit Blitzlichtpulver. Pulver auf Pfanne mit ‘pfuiiiit’ - ein heller Schein - und dieses Bild von meinem Vater und meiner Mutter vor dem Ofen mit den Schlagschatten von dem Pulverblitz erblickte das Licht der Welt.
Det is ja unwahrscheinlich - hab ich gedacht... Ich hab meine Eltern fotografiert und konnte das jedem zeigen. Da kriegte ich die Liebe zur Fotografie. Ich hab dann versucht, selber zu entwickeln. Weil ich nicht wußte, wie das ging, hab ich mir Bücher besorgt. Damals gab es Sonnenlichtpapier. Also, wenn man das Negativ hatte, dann gab es dazu einen Kopierrahmen, in den legte man das Negativ zusammen mit dem Sonnenlichtpapier... und der Rahmen wurde dann ins Tageslicht in die Sonne gestellt. Und dann erschien das Bild - das brauchte nicht entwickelt zu werden - das Bild kam, aber wenn es nicht fixiert wurde, ging es wieder weg. Ich hatte nun das Bild - aber dann war es wieder weg.
Ich habe nachgelesen und festgestellt: entwickeln brauchte man das gar nicht. Das Bild war da, nur ich hätte es sofort fixieren müssen. Das hab ich dann so langsam mitgekriegt. Bald war mein größter Wunsch: ich wollte Fotografie lernen.
Fotografie ist seine Welt. Das entdeckt er schon als Schüler. Und mit der Unterstützung eines Onkels wird es für den Jugendlichen immer greifbarer, aus dem Wunsch einen Beruf zu machen:
Ich hatte einen Onkel bei Potsdam, der betrieb in Geltow eine Gaststätte, ein Baumblütenlokal. Mein Onkel hat auch fotografiert. Er hat mir sogar eine kleine Dunkelkammer eingerichtet, und immer wenn ich Ferien hatte, war ich da. Einmal kamen zwei Leute von der grafischen Kunstanstalt Karl Lemke in Berlin, die machten Postkartenaufnahmen für die Gaststätte. „Habt Ihr nicht 'ne Lehrstelle für den Jungen hier?“ fragte mein Onkel, und ich hab tatsächlich eine Lehrstelle bekommen. Vier Jahre habe ich Reproduktionsfotograf gelernt. Das heisst, ich habe Bilder abfotografiert, mit Raster, in Farbe - riesige Bilder und was sonst noch alles.
Das war meine Welt! Diese Chemikalien, diese Bilder, und der Raster, das war phantastisch - das war meine Welt. Daß ich jemals Pressefotograf werde, hätt ich nie für möglich gehalten. Ich habe vier Jahre richtig gelernt. Zum Abschluß gab's eine Urkunde. Aufgrund der Ausbildung war ich später technisch immer einwandfrei.
Die Ausbildung war kaum zu Ende, da mußte der im Mai 1923 Geborene als Siebzehnjähriger zur Musterung… Nach dem Krieg kam Horst Sturm auf Umwegen und mit Verzögerung nach Berlin zurück. Da stellte sich die Frage, was denn jetzt werden sollte. Die Mutter lebte noch und Horst hatte bald eine kleine Freundin und mit ihr einen Sohn. 1948 war die Zeit des Schwarzmarktes. Irgendwie mußte etwas zu Essen beschafft werden. Das war alles nicht so einfach. An eine reguläre Berufsausübung war noch nicht zu denken, schon gar nicht in einem Traumberuf.
Ich hab nie gedacht, mal als Bildjournalist zu arbeiten
1949 bin ich mit meiner alten Kamera durch Berlin spazieren gegangen. Ich hatte noch ein paar Filme und hatte auch noch Entwickler. Ich wohnte in Bonsdorf bei Grünau und mußte, um nach Berlin und zurückzukommen, mit der S-Bahn fahren. Die fuhr aber nur bis Schöneweide. Und es blieb eine Strecke mit dem Fahrrad von Schöneweide bis nach Bonsdorf.
Meine erste Aufnahme machte ich am Alexanderplatz. Die damalige Hilfspolizei stellte einen Schaukasten auf, darin stand: Die Bevölkerung stellt Fragen - die Polizei antwortet. Das habe ich fotografiert, bin nach Hause gefahren, hab das entwickelt und einen Abzug gemacht, bin wieder nach Berlin zur 'Berliner Zeitung' und hab das Bild dort abgegeben. Zwei Tage später war es gedruckt. Und da stand mein Name drunter! Da hab ich gesagt: das ist doch gar nicht zu begreifen. Ich hab ja nie gedacht, mal als Bildjournalist zu arbeiten. Mein Name stand unter dem Foto und das konnten jetzt alle sehn! Dann habe ich die Einweihung einer Schule mit dem Namen Wilhelm-Pieck-Schule fotografiert. Und das ist wieder veröffentlicht worden. Dann kam eine riesengroße Veranstaltung in Charlottenburg - da hat die Jugend protestiert gegen etwas, und die damalige Sturmpolizei hat derartig hart eingegriffen, hat die jungen Leute buchstäblich verprügelt, hat die Menschen so richtig auf die Lastwagen rauf geschmissen. Ich war mittendrin und habe das alles dokumentiert. Mir war nichts passiert, und ich hatte ganz tolle Bilder. Damals gab es die 'Tägliche Rundschau' und die 'Berliner Zeitung'. Die haben damals auf der ersten Seite ganze Balken gebracht und da stand jetzt mein Name drin! Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein! Es war aber wahr.
Die Ausbildung zum Reprofotografen hatte so ausgesehen, daß die Zeit entweder an der großen Rasterkamera im Studio zugebracht wurde und danach in der Dunkelkammer. Fotografie im bewegten Treiben auf der Straße oder womöglich in gefährlichen Situationen gehörte zur Ausbildung nicht dazu. Es sind grundsätzlich verschiedene Berufe, und - so meinte der stürmische Reporter aus Leidenschaft: "Daß ich jemals Pressefotograf werde, hätte ich nie für möglich gehalten."
Jetzt brauchst Du einen Ausweis!, habe ich mir gesagt. Ich habe rausgekriegt: es gibt einen Presseverband am Bahnhof Friedrichstraße. Da bin ich hin und traf auf Walter Heilig (Sohn des Arbeiterfotografen Eugen Heilig). Er war der Chef der damaligen Agentur 'Illus-Bilderdienst'. Ich komm da an und sage: 'Guten Tag!' Walter Heilig stellt sich vor und ich antworte: 'Sturm'. 'Was sagt der? Sturm?' - Der hatte die Bilder in den Zeitungen gesehn. - Wir brauchen Leute. Die alten Nazis sind doch alle weg. Die haben wir alle ausrangiert. Wir brauchen neue Leute, die wenigstens einigermaßen technisch gut sind, alles andere findet sich. Und er hat gesagt, ich soll mal zur Jägerstraße kommen. Da bekam ich eine 'Exacta Varex' und natürlich Blitzlicht auf Pfanne - was es so gab damals. Später kam Blitz mit Birne, nachher kam der Elektronenblitz...
Das Reporterleben hatte begonnen und sollte Horst Sturm rund um die Welt führen, das bedeutete: Leben aus dem Koffer mit Aufenthalt im Hotel oder einer mongolischen Jurte. Nicht selten unter entbehrungsreichen, unangenehmen oder gefährlichen Bedingungen, denen es sich anzupassen galt. Auf der anderen Seite fanden Begegnungen mit berühmten Künstlern statt, und es bot sich das hautnahe Erleben politischer Ereignisse wie internationale Staatsbesuche, Konferenzen... Arbeit- und Auftraggeber war die Agentur 'Illus', die sich später in 'Zentralbild' umbenannte und die danach dem ADN (Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst)- Zentralbild angegliedert wurde. Ziel der ersten Auslandsreise war Helsinki/Finnland und bald danach (1955) Genf in der Schweiz. Der volle Kontrast zum Rasterfotografen wurde überdeutlich. Für den Berufseinsteiger war aber bald eines klar: die Phantasie und die Gestaltungsidee mußte bei ihm immer mit an Bord sein. Horst Sturm hat den Begriff 'Terminerfüller' geprägt. Unter 'Terminerfüller' verstand er etwas, was er selbst nie sein wollte.
Als Bildjournalist Ideen, Phantasie zu haben…, das hat mich bewegt
Ich wollte nie nur Terminerfüller sein. Das ist zu wenig. Dann mach ich Termine. Termin erfüllt - Auf Wiedersehen. Ich habe riesengroße Aufträge erhalten, weil immer, wenn ich geschickt wurde, technisch alles in Ordnung ging.
Aber die andere Ebene ist eben: diese eingefahrenen Protokollbilder, Übersichten, Präsidium, Redner und so, Shake-Hands, das ist doch 08-15! Aber als Bildjournalist Ideen zu haben, Phantasie zu haben, Reportagen zu machen, das hat mich bewegt.
Es war nach meinem Empfinden unmöglich, dass Leute ins Ausland geschickt werden, zum Beispiel nach Kairo, um einen bestimmten Auftrag, einen Termin zu erfüllen und kein Bild mitbringen, das das Land vorstellt. Als ich nach Kairo kam, hab ich gedacht: 'Wo bin ich denn hier, was ist denn das?' Ich bin in die Stadt gekommen, eine zig-Millionenstadt, da ist Berlin gar nichts dagegen. Ich stand stundenlang auf dem Balkon und hab auf die Pyramiden geschaut und auf die Straße und auf alles, die ganze Atmosphäre. Ich hatte aber nur den Auftrag, die erste Industrieausstellung der DDR, die Gamal Abdel Nasser mit Heinrich Rau zusammen eröffnete, zu fotografieren. Das hab ich auch gemacht.
Ob auf Weltreise oder am Heimatort - Fotografie ist für Horst Sturm ein Faszinosum zwischen Nachrichtenauftrag und Reportage. Neben dem Anspruch an das jeweilige Bild entwickelt der Fotograf Ideen für größere Zusammenhänge. Einmal stehen die Hände im Vordergrund. Da sind Kinder, 'junge Mathematiker', die die Finger zu Hilfe nehmen oder Hände von Chirurgen - "die hatten Hände wie Dirigenten". Ein anderes Mal ist sein Thema 'Formulare - von der Wiege bis zur Bahre'...
Ich habe mal eine Reportage über Kinder aufgenommen, die in einer Entbindungsklinik mit der programmierten Entbindung zur Welt kommen - das gab's in der DDR. Die Frauen kamen dorthin, ohne Wehen, und an einem Vormittag wurden die Wehen eingeleitet. Da kamen sieben oder acht kleine Kinder der Reihe nach zur Welt und lagen alle da, waren frisch gewaschen und gewickelt und hatten alle oben auf der Wicklung ihre Papiere liegen. Da kam mir die Idee - und das hat nichts mit Nachricht zu tun - das sind die Reisepapiere ins Leben: ‘Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare’. Das haben wir ja heute auch. Ein anderes Mal war ich im Leichenschauhaus, da hatte der Tote am großen Zeh einen Zettel. Das war das Endbild. Ich hatte also von der Wiege bis zu Bahre. Und dann bin ich rumgelaufen und hab alles fotografiert, was mit Papieren zu tun hatte... auch bei der Polizei.
Das ist meine Welt: neben der Nachrichtenfotografie Ideen umzusetzen, Gefühle mit einzubringen. Wer das nicht kann, bleibt ewig ein Terminerfüller. Und ab einem bestimmen Punkt wollt ich das nicht mehr. Ich wollte nicht immer wieder zur Berichterstattung in die Volkskammer und dauernd Shake-Hands und Übersichten. Das kam mir zum Halse heraus.
Eigene Vorstellungen brachte der inzwischen erfahrene Bildjournalist auch in Form von Kritik ein, wenn er einen Auftrag nicht akzeptieren wollte:
Es geht um den Wahrheitsgehalt, das ist das A und O
Ich war ja fest angestellt. Da gab es Redaktionen. Wenn es einen Anlaß gab, hab ich einen Auftrag gekriegt. Einmal sollte ich zum Brandenburger Tor und ein Foto machen, wie in Westberlin die Welt untergeht und in Ostberlin die Sonne scheint. Da hab ich gesagt: 'Das geht nicht, da geh ich nicht hin. Da müßt Ihr erstmal mit dem Himmlischen Vater sprechen.' Ich hatte da keine Bedenken, es so auszusprechen. Das ging dann bis zur Direktorin Deba Wieland, die war Antifaschistin. Ich sagte zu ihr: 'Deba, was soll denn das?' Und sie sagte: 'Horst, pack das in'n Korb.' Und dann war der Fall erledigt.
So war das manchmal mit der Pressetätigkeit in der DDR, bei uns in der Agentur: Sie waren mit ihren Gedanken voraus, sie wollten oft Bilder haben, wie’s eigentlich mal wird, aber noch nicht ist. Und ich war immer der Meinung: Wir müssen das machen, was gerade ist. Was in zehn oder zwanzig Jahren ist - das ist eine ganz andere Angelegenheit.
Ein anderes Beispiel: Als der Kosmonaut Juri Gagarin schon im All war, wollte der Chefbildreporter einer großen Tageszeitung ein Bild, wie sich Arbeiter über den Start des ersten Kosmonauten ins All freuen. Er ist in einen Betrieb gefahren wo Arbeiter an einer Drehbank arbeiteten. Ein Radio stand auf der Arbeitsbank. An der Wand war die Steckdose und das Kabel hing über einen Schraubstock. Davor standen die Arbeiter und schrieen: 'Hurra (mit Geste), er ist gestartet!' Dabei war er aber schon oben. Sie konnten es aber gar nicht hören, weil der Stecker nicht in der Steckdose war, und das konnte man auf dem Foto anhand des losen Kabels erkennen. Das ist der Punkt. Es geht um den Wahrheitsgehalt, das ist nämlich das A und O, die Wahrheit, das war damals in der DDR oft so: es wurde gestellt und zusammengemauert, so wie man es gerne haben wollte , und wie es mal werden sollte, das war der Fehler.
Wobei heute gibt es ja noch ganz andere Beispiele, da kann man auch sagen: Jute Nacht. Was da teilweise alles gemacht wird. Prost! Gestellte Fotografie war nie meine Sache. Mein Thema war ja auch nicht Mode- und Theaterfotografie. Also, ich habe mehr Momentaufnahmen gemacht, die nicht wiederholbar waren.
1965 gründet Horst Sturm gemeinsam mit anderen Bild- und Textjournalisten die SIGNUM-Gruppe, die sich der ungeschönten und ungestellten Wahrheit verpflichtet wissen will. Auslöser ist eine Konferenz aller Agenturen der sozialistischen Länder in Prag.
Bei einer Konferenz aller Presse-Agenturen der sozialistischen Länder in Prag hat der Chef der sowjetischen Bildagentur bei TASS einen großen Vortrag gehalten gegen diese inszenierten und gestellten Bilder. Es geht jetzt um Nachrichtenfotos. Er hat gesagt: der Rubel kann noch so gut aussehen, der gefälschte Rubel bleibt immer falsch. Das bezog er auf die Bilder. Als wir zurückfuhren - da war Walter Heilig mit dabei - habe ich gesagt: 'Du, wenn ich nach Hause komme nach Berlin, ich fang sofort an.' Da hat Heilig geantwortet: 'Aber nich so schnell, aber nich so schnell...' Doch ich habe von dem Moment an immer versucht, gegen diese furchtbaren gestellten Bilder anzugehen.
Daß in der heutigen Massen- und Hochglanzpresse mit Bildern auf eine viel subtilere Art die Realität verzerrt wird, ist für den 86jährigen mit seinen ehrenhaften Anliegen in der Analyse kaum nachvollziehbar. Was er 'nach der Wende' immer wieder feststellen muß, ist, wie die DDR-Pressefotografie und die DDR-Fotoleistungen insgesamt verzerrt dargestellt werden.
Wenn ich mir heute die Pressefotografie ansehe, was die Nachrichten anbetrifft, so gibt es viele Dinge, wo ich nur sagen kann: Jute Nacht. Zur Pressefotografie in der DDR will ich doch noch sagen: 'So schlecht wie manchmal behauptet wird, waren wir gar nicht. Da könnten sich viele noch ein gutes Beispiel dran nehmen.
Die Nachricht bleibt immer eine Nachricht und die muss genau immer der Wahrheit entsprechend sein. Der Leser sagt doch, was die Zeitungen betrifft: das steht doch da, schwarz auf weiss. ... Und ein Foto gilt eben auch als Dokument... Und der Leser glaubt das. Wenn das nicht stimmt, dann geht das Vertrauen verloren. Aber ich glaube, wir leben heute in einer Zeit, wo es damit nicht so genau genommen wird.
Obwohl Horst Sturm nicht den üblichen Weg zum Bildjournalisten genommen hatte - er konnte nur acht Jahre Volksschule vorweisen und hatte nie die Gelegenheit gehabt, ein Studium zu absolvieren - bekam er die Ernennung zum Bildjournalisten und zum Ausbilder ehrenhalber. In vielen Fotosalons wurden seine Bilder mit Preisen bedacht. Von der Internationalen Gesellschaft fotografischer Kunst FIAP erhält er 1961 in Würdigung seines Schaffens den Titel: AFIAP, das heißt Artiste de la FIAP/Künstler der FIAP.
Ja, wir müssen hier durch!
Mein großes Anliegen war es, mit der Fotografie Ideen und Gedanken umzusetzen. Das wollte ich auch meinen Studenten mit auf den Weg geben: dass es darauf ankommt, eigene Ideen zu haben. Einmal hatte ich die Aufgabe vorgegeben: ein junger Mann muß zur Armee. Eine Volontärin, die Marion Dachwitz, die hat sich das Thema vorgenommen: zwei schwule Männer. Also ein Schwuler muss zur Armee und der andere Schwule hilft ihm, packt mit ihm den Koffer und bringt ihn dahin. Sie hat das gemacht, und das fand ich toll. Aber, was meint ihr denn, was in der Redaktion für ein Theater war, dass ich als Mentor, das gutheisse. Das fand ich unmöglich. Ich hab gesagt, das ist so, ich steh dazu und Punkt.
Ich habe meinen Studenten auch immer gesagt: mit dem Erlernen der Fotografie ist das wie beim Autofahren, richtig Autofahren kann man erst, wenn man die Technik beherrscht. Jetzt kann ich euch die Technik der Fotografie beibringen. Aber ob ihr Ideen habt, Phantasie, das müßt ihr selber herausfinden. Ich kann euch nur Beispiele geben. Wer keine Ideen hat ist Bildbeamter. Davon haben wir genug.
Ein anderes Mal hatten wir das Thema Braunkohle. Es war ein Sauwetter, Regen und Matsch und Dreck. Die Volontäre haben gefragt: 'Horst, müssen wir hier durch?' 'Ja, wir müssen hier durch!', hab ich gesagt, und ich bin vorne weg marschiert durch den Dreck. Die müssen sich dran gewöhnen, die müssen dadurch, was soll denn das...
Als Ausbilder und Mentor mußte er Leistungen anderer bewerten und oft die schwere Entscheidung treffen, ob er einen jungen Menschen zur weiteren Ausbildung, zum Studium empfehlen kann oder nicht. Neben seinen vielfältigen Tätigkeiten ist er zeitweise auch als Jurymitglied im Einsatz. Hier und in allen Fällen der Beurteilung gelten für ihn hohe Maßstäbe - und das nicht nur bezogen auf die technische Qualität:
Ich war oft in einer Jury, manchmal Vorsitzender. Wenn dann einer sagte: 'Ja, was soll denn die Printe?' Dann habe ich zu ihm gesagt: ja, was soll denn das nun? Da steckt ja Arbeit drin. Da hat jemand sich bemüht, etwas zu zeigen.... Dann möchte ich doch bitte genauer wissen, warum Dir das Bild nicht gefällt. Und dann kam keine präzise Begründung. Oder andersrum: jemand sagte, das sei ein Superbild, dann wollte ich es erklärt haben. Dann gab es eine große Ausstellung, da war John Heartfield Vorsitzender der Jury. John Heartfield ist ja sicher allen ein Begriff, da kamen die Bilder wie am Fließband. Und Heartfield hat immer gesagt: diese gut, diese nix gut. Und keiner hat sich gewagt, zu sagen: dann begründe doch bitte mal...
Für viele seiner eigenen Fotos hat Horst Sturm Auszeichnungen erhalten. Seine Leistung ist vielfach gewürdigt worden. Was ihm im Rückblick auf seine lange wechselvolle Schaffenzeit immer wichtig ist, ist zu betonen, dass er in seinem Leben auch immer wieder Glück gehabt hat, Glück, dem Unglück zu entgehen. Einer seiner Schüler im Kriegsgebiet des Nahen Osten hatte dem Meisterfotografen sogar angeboten: Du bringst mir das Fotografieren bei und ich Dir das Schießen. Das Angebot blieb uneingelöst. Beim Durchblättern von Fotoalben mit Bildern, die die Kollegen während der Arbeit gegenseitig aufnahmen, kommt so manche Erinnerung auf:
Jetzt ist Schluß. Man soll es nicht übertreiben.
Das hier war bei ADN. Der links auf dem Bild war auch mein Volontär, der ist abgestürzt mit dem Hubschrauber bei Gadhafi. Gadhafi empfängt seinen Staatsbesuch immer im Beduinenzelt außerhalb der Hauptstadt. Ich wurde befragt, ob ich diesen Termin machen möchte mit Gadhafi. Ich hatte aber was anderes Wichtiges; und dann haben sie den jungen Mann hier genommen. Der hatte am Abend zuvor noch in der Redaktion gesessen und mit der Bürste seinen Fotokoffer gereinigt: Ich hab ihn noch zum Flugplatz gebracht... Beim Rückflug ist der Hubschrauber explodiert. Der Reporter begleitete den ebenfalls dabei getöteten DDR-Politiker Werner Lamberz (die Sache ist bis heute nicht geklärt, es kam jemand und hat Gadhafi was ins Ohr geflüstert, der ist dann nicht mitgeflogen). Nach seiner Rückkehr habe ich den Sarg fotografiert und mußte bei der Beerdigung als ältester Bildreporter eine kleine Rede halten. Da ist mir ganz anders geworden, weil, wenn ich nun mitgeflogen wäre, wär ich ja weggewesen.
Als ich im Nahen Osten war, kamen nachts die Tiefflieger. Ich hab ein Tonband, wo ich nachts auf dem Balkon stehe und das kommentiere. Oder ein anderer Fall: acht Tage nach unserer Abreise flog das Hotel 'Beau Rivage' am Mittelmeer, in dem wir immer wohnten, in die Luft. Wäre ich noch dort gewesen, dann würde ich hier auch nicht mehr sitzen. Und auf dem Rückflug gab es noch eine Notlandung in Genf, weil etwas mit den Triebwerken nicht in Ordnung war. Wie gesagt: ich hab immer Glück gehabt in meinem Leben. Schon im Krieg bei der Marine mit den Minen und immer wieder. Manchmal rufen ehemalige palästinensische Schüler an und sagen, ich soll doch unbedingt in den Gaza-Streifen kommen. Ich sage, es tut mir leid, ich komm jetzt nicht mehr. Jetzt ist Schluß. Man soll es nicht übertreiben.
Der leidenschaftliche Fotograf Horst Sturm kommt in Berührung mit Geburt und Tod. In seinem langen Berufsleben durchquert er die Zeit in Orten und Situationen: von der mongolischen Steppe ins Kriegsgebiet, aus dem Operationssaal während einer Herz-OP geht es zum Bau des Berliner Fernsehturms am Alex von der Grundsteinlegung bis zur Fertigstellung. Seine Bilder werden weltweit in Ausstellungen gezeigt: in Mexiko City, Moskau, Tunis, Aden, Leipzig, Köln... Seinen Studenten in der Heimat gibt er den Ausspruch "die Kamera wird erst kurz vorm Friedhof abgegeben" mit auf den Weg. Bei seinen ausländischen Schülern in Tunesien, im Jemen und im Libanon hätte das - teils unter Kriegsbedingungen - zu makaber geklungen. Wie ein Übervater sei er dort behandelt worden.
Ich war über 55 Jahre Fotoreporter, habe jeden Tag fotografiert und 33 Länder bereist. Da kommt schon was zusammen. Ich habe junge Menschen ausgebildet. Der Kollwitzplatz war die Gegend, wo ich gewohnt und gelebt habe. Meine jungen Leuten sollten wissen: die Kamera wird nach der Arbeit für den Auftraggeber nicht eingeschlossen. Man muß die Kamera immer dabei haben.
Horst Sturm mit einem Bild von 1942 als 19jähriger Matrose, Berlin, 2008 (Foto: Anneliese Fikentscher)
Horst Sturm in seiner Wohnung am Kollwitz-Platz, Berlin, 17.9.2005 (Foto: Andreas Neumann)
Rückseite des Bildes mit Horst Sturm als 19jährigem Matrose, Berlin, 2008 (Foto: Anneliese Fikentscher)
Horst Sturm, Berlin, 31.1.2008 (Foto: Anneliese Fikentscher)
Zeitschrift Arbeiterfotografie, Ausgabe 92
Horst Sturm-Sonderausgabe zur Verleihung der Ehrenmitgliedschaft
zu beziehen über Galerie Arbeiterfotografie zum Preis von 12 Euro plus Versand
arbeiterfotografie@t-online.de
Online-Flyer Nr. 544 vom 06.01.2016
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Zum Tod von Arbeiterfotografie-Ehrenmitglied Horst Sturm
„...es wird vor allem der Krieg zu Ende sein...“
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
„...es wird ein neues Ideal entstehen, und es wird vor allem der Krieg zu Ende sein, aber man wird hart arbeiten müssen, aber man wird es erreichen.“ Dieser Satz aus einem der letzten Briefe von Käthe Kollwitz ist einem Artikel in der Horst Sturm gewidmeten Zeitschrift Arbeiterfotografie vorangestellt, die 2010 anlässlich der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Bundesverbands Arbeiterfotografie an ihn entstanden ist. Viele Jahrzehnte lebte Horst Sturm am Kollwitzplatz in Berlin, am Prenzlauerberg. Betrachtet man die unzähligen Fotos, die in seinem langen Fotografenleben entstanden sind, dann ist es, als habe Käthe Kollwitz ihre schützenden Hände auch um ihn gelegt und als hätte ihr Wunsch, den Menschen mit einer Umarmung Mut zu machen, Horst Sturm ein Leben lang geleitet. Er starb am 23. Dezember 2015 im Alter von 92 Jahren. Wir danken ihm für die Zuversicht und den Mut, die er an uns weitergegeben hat.
Horst Sturm, Berlin, 1952, fotografiert von Eva Kemlein – nachfolgend ein kleiner Querschnitt durch das fotografische Schaffen von Horst Sturm:
Oberbürgermeister Ebert spricht auf einer Straßenversammlung, Berlin, Palisadenstraße, 1951
Helene Weigel und Bertolt Brecht – Berlin, Berliner Ensemble, 1. Mai 1951
Weltfestspiele, Berlin, Unter den Linden, 1951
Alte Pumpe – an der im Zweiten Weltkrieg beim Wasserholen Menschen starben, Berlin, Kollwitz-Platz, 1965
November-Nachmittag – "Treffpunkt nach Feierabend", Berlin-Oberschöneweide, Edisonstraße/Ecke Wilhelminenhofstraße, 1968
Frau und Sohn im Hauseingang, Berlin, Kollwitz-Platz, 1967
Umgestaltung Kollwitzplatz mit Käthe-Kollwitz-Denkmal – Berlin, Prenzlauerberg, 1977
Meister und Geselle – Berlin, Köpenick, ca. 1960
Kohlenmänner – Willi und sein Kumpel, Berlin, am Kollwitz-Platz, 1965
Thomas Mann und Johannes R. Becher – Weimar, 1955
Besuch von Nikita S. Chruschtschow – Berlin, Schönhauser Allee/Ecke Dimitroffstraße, 1963
Mahn- und Gedenkstätte – Buchenwald, 1958
Verhaftung – West-Berlin, nahe Bahnhof Zoo, 1968
Schützende Hände – Mongolische Volksrepublik, 1975
Kranzniederlegung durch Bundeskanzler Willy Brandt (rechts neben ihm Otto Winzer, Außenminister der DDR) – Buchenwald bei Weimar, 19.3.1970
Im Flüchtlingslager Chatila – Beirut, 1980
Der nachfolgende Text ist der 2010 erschienenen Zeitschrift Arbeiterfotografie (Ausgabe 92) entnommen (Zitate von Horst Sturm kursiv).
Vierzig Jahre arbeitete Horst Sturm als Pressefotograf im Agenturdienst, und auch in der Zeit danach versteht er sich immer noch als aktiver Bildreporter, der das alltägliche Leben genauso wie das weltbewegende Zeitgeschehen - den Fall der Berliner Mauer zum Beispiel - mit der Kamera begleitet. Die Liebe zur Fotografie wurde schon beim Schüler geweckt, der von den optischen Eindrücken eines Periskops in einem Planetarium, das er mit der Schulklasse besuchte, gefangen war. Weil seine Eltern diese Neigung erkannten, schenkten sie dem 11jährigen zum Geburtstag eine Box-Kamera:
Ich hab heute noch so eine alte Kamera im Schrank. Man musste vier Mark haben mit den Prägungen a - g - f - a, und dann kriegte man für vier Mark diese Box. Damit hab ich meine erste Aufnahme gemacht: meinen Vater und meine Mutter mit Blitzlichtpulver. Pulver auf Pfanne mit ‘pfuiiiit’ - ein heller Schein - und dieses Bild von meinem Vater und meiner Mutter vor dem Ofen mit den Schlagschatten von dem Pulverblitz erblickte das Licht der Welt.
Det is ja unwahrscheinlich - hab ich gedacht... Ich hab meine Eltern fotografiert und konnte das jedem zeigen. Da kriegte ich die Liebe zur Fotografie. Ich hab dann versucht, selber zu entwickeln. Weil ich nicht wußte, wie das ging, hab ich mir Bücher besorgt. Damals gab es Sonnenlichtpapier. Also, wenn man das Negativ hatte, dann gab es dazu einen Kopierrahmen, in den legte man das Negativ zusammen mit dem Sonnenlichtpapier... und der Rahmen wurde dann ins Tageslicht in die Sonne gestellt. Und dann erschien das Bild - das brauchte nicht entwickelt zu werden - das Bild kam, aber wenn es nicht fixiert wurde, ging es wieder weg. Ich hatte nun das Bild - aber dann war es wieder weg.
Ich habe nachgelesen und festgestellt: entwickeln brauchte man das gar nicht. Das Bild war da, nur ich hätte es sofort fixieren müssen. Das hab ich dann so langsam mitgekriegt. Bald war mein größter Wunsch: ich wollte Fotografie lernen.
Fotografie ist seine Welt. Das entdeckt er schon als Schüler. Und mit der Unterstützung eines Onkels wird es für den Jugendlichen immer greifbarer, aus dem Wunsch einen Beruf zu machen:
Ich hatte einen Onkel bei Potsdam, der betrieb in Geltow eine Gaststätte, ein Baumblütenlokal. Mein Onkel hat auch fotografiert. Er hat mir sogar eine kleine Dunkelkammer eingerichtet, und immer wenn ich Ferien hatte, war ich da. Einmal kamen zwei Leute von der grafischen Kunstanstalt Karl Lemke in Berlin, die machten Postkartenaufnahmen für die Gaststätte. „Habt Ihr nicht 'ne Lehrstelle für den Jungen hier?“ fragte mein Onkel, und ich hab tatsächlich eine Lehrstelle bekommen. Vier Jahre habe ich Reproduktionsfotograf gelernt. Das heisst, ich habe Bilder abfotografiert, mit Raster, in Farbe - riesige Bilder und was sonst noch alles.
Das war meine Welt! Diese Chemikalien, diese Bilder, und der Raster, das war phantastisch - das war meine Welt. Daß ich jemals Pressefotograf werde, hätt ich nie für möglich gehalten. Ich habe vier Jahre richtig gelernt. Zum Abschluß gab's eine Urkunde. Aufgrund der Ausbildung war ich später technisch immer einwandfrei.
Die Ausbildung war kaum zu Ende, da mußte der im Mai 1923 Geborene als Siebzehnjähriger zur Musterung… Nach dem Krieg kam Horst Sturm auf Umwegen und mit Verzögerung nach Berlin zurück. Da stellte sich die Frage, was denn jetzt werden sollte. Die Mutter lebte noch und Horst hatte bald eine kleine Freundin und mit ihr einen Sohn. 1948 war die Zeit des Schwarzmarktes. Irgendwie mußte etwas zu Essen beschafft werden. Das war alles nicht so einfach. An eine reguläre Berufsausübung war noch nicht zu denken, schon gar nicht in einem Traumberuf.
Ich hab nie gedacht, mal als Bildjournalist zu arbeiten
1949 bin ich mit meiner alten Kamera durch Berlin spazieren gegangen. Ich hatte noch ein paar Filme und hatte auch noch Entwickler. Ich wohnte in Bonsdorf bei Grünau und mußte, um nach Berlin und zurückzukommen, mit der S-Bahn fahren. Die fuhr aber nur bis Schöneweide. Und es blieb eine Strecke mit dem Fahrrad von Schöneweide bis nach Bonsdorf.
Meine erste Aufnahme machte ich am Alexanderplatz. Die damalige Hilfspolizei stellte einen Schaukasten auf, darin stand: Die Bevölkerung stellt Fragen - die Polizei antwortet. Das habe ich fotografiert, bin nach Hause gefahren, hab das entwickelt und einen Abzug gemacht, bin wieder nach Berlin zur 'Berliner Zeitung' und hab das Bild dort abgegeben. Zwei Tage später war es gedruckt. Und da stand mein Name drunter! Da hab ich gesagt: das ist doch gar nicht zu begreifen. Ich hab ja nie gedacht, mal als Bildjournalist zu arbeiten. Mein Name stand unter dem Foto und das konnten jetzt alle sehn! Dann habe ich die Einweihung einer Schule mit dem Namen Wilhelm-Pieck-Schule fotografiert. Und das ist wieder veröffentlicht worden. Dann kam eine riesengroße Veranstaltung in Charlottenburg - da hat die Jugend protestiert gegen etwas, und die damalige Sturmpolizei hat derartig hart eingegriffen, hat die jungen Leute buchstäblich verprügelt, hat die Menschen so richtig auf die Lastwagen rauf geschmissen. Ich war mittendrin und habe das alles dokumentiert. Mir war nichts passiert, und ich hatte ganz tolle Bilder. Damals gab es die 'Tägliche Rundschau' und die 'Berliner Zeitung'. Die haben damals auf der ersten Seite ganze Balken gebracht und da stand jetzt mein Name drin! Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein! Es war aber wahr.
Die Ausbildung zum Reprofotografen hatte so ausgesehen, daß die Zeit entweder an der großen Rasterkamera im Studio zugebracht wurde und danach in der Dunkelkammer. Fotografie im bewegten Treiben auf der Straße oder womöglich in gefährlichen Situationen gehörte zur Ausbildung nicht dazu. Es sind grundsätzlich verschiedene Berufe, und - so meinte der stürmische Reporter aus Leidenschaft: "Daß ich jemals Pressefotograf werde, hätte ich nie für möglich gehalten."
Jetzt brauchst Du einen Ausweis!, habe ich mir gesagt. Ich habe rausgekriegt: es gibt einen Presseverband am Bahnhof Friedrichstraße. Da bin ich hin und traf auf Walter Heilig (Sohn des Arbeiterfotografen Eugen Heilig). Er war der Chef der damaligen Agentur 'Illus-Bilderdienst'. Ich komm da an und sage: 'Guten Tag!' Walter Heilig stellt sich vor und ich antworte: 'Sturm'. 'Was sagt der? Sturm?' - Der hatte die Bilder in den Zeitungen gesehn. - Wir brauchen Leute. Die alten Nazis sind doch alle weg. Die haben wir alle ausrangiert. Wir brauchen neue Leute, die wenigstens einigermaßen technisch gut sind, alles andere findet sich. Und er hat gesagt, ich soll mal zur Jägerstraße kommen. Da bekam ich eine 'Exacta Varex' und natürlich Blitzlicht auf Pfanne - was es so gab damals. Später kam Blitz mit Birne, nachher kam der Elektronenblitz...
Das Reporterleben hatte begonnen und sollte Horst Sturm rund um die Welt führen, das bedeutete: Leben aus dem Koffer mit Aufenthalt im Hotel oder einer mongolischen Jurte. Nicht selten unter entbehrungsreichen, unangenehmen oder gefährlichen Bedingungen, denen es sich anzupassen galt. Auf der anderen Seite fanden Begegnungen mit berühmten Künstlern statt, und es bot sich das hautnahe Erleben politischer Ereignisse wie internationale Staatsbesuche, Konferenzen... Arbeit- und Auftraggeber war die Agentur 'Illus', die sich später in 'Zentralbild' umbenannte und die danach dem ADN (Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst)- Zentralbild angegliedert wurde. Ziel der ersten Auslandsreise war Helsinki/Finnland und bald danach (1955) Genf in der Schweiz. Der volle Kontrast zum Rasterfotografen wurde überdeutlich. Für den Berufseinsteiger war aber bald eines klar: die Phantasie und die Gestaltungsidee mußte bei ihm immer mit an Bord sein. Horst Sturm hat den Begriff 'Terminerfüller' geprägt. Unter 'Terminerfüller' verstand er etwas, was er selbst nie sein wollte.
Als Bildjournalist Ideen, Phantasie zu haben…, das hat mich bewegt
Ich wollte nie nur Terminerfüller sein. Das ist zu wenig. Dann mach ich Termine. Termin erfüllt - Auf Wiedersehen. Ich habe riesengroße Aufträge erhalten, weil immer, wenn ich geschickt wurde, technisch alles in Ordnung ging.
Aber die andere Ebene ist eben: diese eingefahrenen Protokollbilder, Übersichten, Präsidium, Redner und so, Shake-Hands, das ist doch 08-15! Aber als Bildjournalist Ideen zu haben, Phantasie zu haben, Reportagen zu machen, das hat mich bewegt.
Es war nach meinem Empfinden unmöglich, dass Leute ins Ausland geschickt werden, zum Beispiel nach Kairo, um einen bestimmten Auftrag, einen Termin zu erfüllen und kein Bild mitbringen, das das Land vorstellt. Als ich nach Kairo kam, hab ich gedacht: 'Wo bin ich denn hier, was ist denn das?' Ich bin in die Stadt gekommen, eine zig-Millionenstadt, da ist Berlin gar nichts dagegen. Ich stand stundenlang auf dem Balkon und hab auf die Pyramiden geschaut und auf die Straße und auf alles, die ganze Atmosphäre. Ich hatte aber nur den Auftrag, die erste Industrieausstellung der DDR, die Gamal Abdel Nasser mit Heinrich Rau zusammen eröffnete, zu fotografieren. Das hab ich auch gemacht.
Ob auf Weltreise oder am Heimatort - Fotografie ist für Horst Sturm ein Faszinosum zwischen Nachrichtenauftrag und Reportage. Neben dem Anspruch an das jeweilige Bild entwickelt der Fotograf Ideen für größere Zusammenhänge. Einmal stehen die Hände im Vordergrund. Da sind Kinder, 'junge Mathematiker', die die Finger zu Hilfe nehmen oder Hände von Chirurgen - "die hatten Hände wie Dirigenten". Ein anderes Mal ist sein Thema 'Formulare - von der Wiege bis zur Bahre'...
Ich habe mal eine Reportage über Kinder aufgenommen, die in einer Entbindungsklinik mit der programmierten Entbindung zur Welt kommen - das gab's in der DDR. Die Frauen kamen dorthin, ohne Wehen, und an einem Vormittag wurden die Wehen eingeleitet. Da kamen sieben oder acht kleine Kinder der Reihe nach zur Welt und lagen alle da, waren frisch gewaschen und gewickelt und hatten alle oben auf der Wicklung ihre Papiere liegen. Da kam mir die Idee - und das hat nichts mit Nachricht zu tun - das sind die Reisepapiere ins Leben: ‘Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare’. Das haben wir ja heute auch. Ein anderes Mal war ich im Leichenschauhaus, da hatte der Tote am großen Zeh einen Zettel. Das war das Endbild. Ich hatte also von der Wiege bis zu Bahre. Und dann bin ich rumgelaufen und hab alles fotografiert, was mit Papieren zu tun hatte... auch bei der Polizei.
Das ist meine Welt: neben der Nachrichtenfotografie Ideen umzusetzen, Gefühle mit einzubringen. Wer das nicht kann, bleibt ewig ein Terminerfüller. Und ab einem bestimmen Punkt wollt ich das nicht mehr. Ich wollte nicht immer wieder zur Berichterstattung in die Volkskammer und dauernd Shake-Hands und Übersichten. Das kam mir zum Halse heraus.
Eigene Vorstellungen brachte der inzwischen erfahrene Bildjournalist auch in Form von Kritik ein, wenn er einen Auftrag nicht akzeptieren wollte:
Es geht um den Wahrheitsgehalt, das ist das A und O
Ich war ja fest angestellt. Da gab es Redaktionen. Wenn es einen Anlaß gab, hab ich einen Auftrag gekriegt. Einmal sollte ich zum Brandenburger Tor und ein Foto machen, wie in Westberlin die Welt untergeht und in Ostberlin die Sonne scheint. Da hab ich gesagt: 'Das geht nicht, da geh ich nicht hin. Da müßt Ihr erstmal mit dem Himmlischen Vater sprechen.' Ich hatte da keine Bedenken, es so auszusprechen. Das ging dann bis zur Direktorin Deba Wieland, die war Antifaschistin. Ich sagte zu ihr: 'Deba, was soll denn das?' Und sie sagte: 'Horst, pack das in'n Korb.' Und dann war der Fall erledigt.
So war das manchmal mit der Pressetätigkeit in der DDR, bei uns in der Agentur: Sie waren mit ihren Gedanken voraus, sie wollten oft Bilder haben, wie’s eigentlich mal wird, aber noch nicht ist. Und ich war immer der Meinung: Wir müssen das machen, was gerade ist. Was in zehn oder zwanzig Jahren ist - das ist eine ganz andere Angelegenheit.
Ein anderes Beispiel: Als der Kosmonaut Juri Gagarin schon im All war, wollte der Chefbildreporter einer großen Tageszeitung ein Bild, wie sich Arbeiter über den Start des ersten Kosmonauten ins All freuen. Er ist in einen Betrieb gefahren wo Arbeiter an einer Drehbank arbeiteten. Ein Radio stand auf der Arbeitsbank. An der Wand war die Steckdose und das Kabel hing über einen Schraubstock. Davor standen die Arbeiter und schrieen: 'Hurra (mit Geste), er ist gestartet!' Dabei war er aber schon oben. Sie konnten es aber gar nicht hören, weil der Stecker nicht in der Steckdose war, und das konnte man auf dem Foto anhand des losen Kabels erkennen. Das ist der Punkt. Es geht um den Wahrheitsgehalt, das ist nämlich das A und O, die Wahrheit, das war damals in der DDR oft so: es wurde gestellt und zusammengemauert, so wie man es gerne haben wollte , und wie es mal werden sollte, das war der Fehler.
Wobei heute gibt es ja noch ganz andere Beispiele, da kann man auch sagen: Jute Nacht. Was da teilweise alles gemacht wird. Prost! Gestellte Fotografie war nie meine Sache. Mein Thema war ja auch nicht Mode- und Theaterfotografie. Also, ich habe mehr Momentaufnahmen gemacht, die nicht wiederholbar waren.
1965 gründet Horst Sturm gemeinsam mit anderen Bild- und Textjournalisten die SIGNUM-Gruppe, die sich der ungeschönten und ungestellten Wahrheit verpflichtet wissen will. Auslöser ist eine Konferenz aller Agenturen der sozialistischen Länder in Prag.
Bei einer Konferenz aller Presse-Agenturen der sozialistischen Länder in Prag hat der Chef der sowjetischen Bildagentur bei TASS einen großen Vortrag gehalten gegen diese inszenierten und gestellten Bilder. Es geht jetzt um Nachrichtenfotos. Er hat gesagt: der Rubel kann noch so gut aussehen, der gefälschte Rubel bleibt immer falsch. Das bezog er auf die Bilder. Als wir zurückfuhren - da war Walter Heilig mit dabei - habe ich gesagt: 'Du, wenn ich nach Hause komme nach Berlin, ich fang sofort an.' Da hat Heilig geantwortet: 'Aber nich so schnell, aber nich so schnell...' Doch ich habe von dem Moment an immer versucht, gegen diese furchtbaren gestellten Bilder anzugehen.
Daß in der heutigen Massen- und Hochglanzpresse mit Bildern auf eine viel subtilere Art die Realität verzerrt wird, ist für den 86jährigen mit seinen ehrenhaften Anliegen in der Analyse kaum nachvollziehbar. Was er 'nach der Wende' immer wieder feststellen muß, ist, wie die DDR-Pressefotografie und die DDR-Fotoleistungen insgesamt verzerrt dargestellt werden.
Wenn ich mir heute die Pressefotografie ansehe, was die Nachrichten anbetrifft, so gibt es viele Dinge, wo ich nur sagen kann: Jute Nacht. Zur Pressefotografie in der DDR will ich doch noch sagen: 'So schlecht wie manchmal behauptet wird, waren wir gar nicht. Da könnten sich viele noch ein gutes Beispiel dran nehmen.
Die Nachricht bleibt immer eine Nachricht und die muss genau immer der Wahrheit entsprechend sein. Der Leser sagt doch, was die Zeitungen betrifft: das steht doch da, schwarz auf weiss. ... Und ein Foto gilt eben auch als Dokument... Und der Leser glaubt das. Wenn das nicht stimmt, dann geht das Vertrauen verloren. Aber ich glaube, wir leben heute in einer Zeit, wo es damit nicht so genau genommen wird.
Obwohl Horst Sturm nicht den üblichen Weg zum Bildjournalisten genommen hatte - er konnte nur acht Jahre Volksschule vorweisen und hatte nie die Gelegenheit gehabt, ein Studium zu absolvieren - bekam er die Ernennung zum Bildjournalisten und zum Ausbilder ehrenhalber. In vielen Fotosalons wurden seine Bilder mit Preisen bedacht. Von der Internationalen Gesellschaft fotografischer Kunst FIAP erhält er 1961 in Würdigung seines Schaffens den Titel: AFIAP, das heißt Artiste de la FIAP/Künstler der FIAP.
Ja, wir müssen hier durch!
Mein großes Anliegen war es, mit der Fotografie Ideen und Gedanken umzusetzen. Das wollte ich auch meinen Studenten mit auf den Weg geben: dass es darauf ankommt, eigene Ideen zu haben. Einmal hatte ich die Aufgabe vorgegeben: ein junger Mann muß zur Armee. Eine Volontärin, die Marion Dachwitz, die hat sich das Thema vorgenommen: zwei schwule Männer. Also ein Schwuler muss zur Armee und der andere Schwule hilft ihm, packt mit ihm den Koffer und bringt ihn dahin. Sie hat das gemacht, und das fand ich toll. Aber, was meint ihr denn, was in der Redaktion für ein Theater war, dass ich als Mentor, das gutheisse. Das fand ich unmöglich. Ich hab gesagt, das ist so, ich steh dazu und Punkt.
Ich habe meinen Studenten auch immer gesagt: mit dem Erlernen der Fotografie ist das wie beim Autofahren, richtig Autofahren kann man erst, wenn man die Technik beherrscht. Jetzt kann ich euch die Technik der Fotografie beibringen. Aber ob ihr Ideen habt, Phantasie, das müßt ihr selber herausfinden. Ich kann euch nur Beispiele geben. Wer keine Ideen hat ist Bildbeamter. Davon haben wir genug.
Ein anderes Mal hatten wir das Thema Braunkohle. Es war ein Sauwetter, Regen und Matsch und Dreck. Die Volontäre haben gefragt: 'Horst, müssen wir hier durch?' 'Ja, wir müssen hier durch!', hab ich gesagt, und ich bin vorne weg marschiert durch den Dreck. Die müssen sich dran gewöhnen, die müssen dadurch, was soll denn das...
Als Ausbilder und Mentor mußte er Leistungen anderer bewerten und oft die schwere Entscheidung treffen, ob er einen jungen Menschen zur weiteren Ausbildung, zum Studium empfehlen kann oder nicht. Neben seinen vielfältigen Tätigkeiten ist er zeitweise auch als Jurymitglied im Einsatz. Hier und in allen Fällen der Beurteilung gelten für ihn hohe Maßstäbe - und das nicht nur bezogen auf die technische Qualität:
Ich war oft in einer Jury, manchmal Vorsitzender. Wenn dann einer sagte: 'Ja, was soll denn die Printe?' Dann habe ich zu ihm gesagt: ja, was soll denn das nun? Da steckt ja Arbeit drin. Da hat jemand sich bemüht, etwas zu zeigen.... Dann möchte ich doch bitte genauer wissen, warum Dir das Bild nicht gefällt. Und dann kam keine präzise Begründung. Oder andersrum: jemand sagte, das sei ein Superbild, dann wollte ich es erklärt haben. Dann gab es eine große Ausstellung, da war John Heartfield Vorsitzender der Jury. John Heartfield ist ja sicher allen ein Begriff, da kamen die Bilder wie am Fließband. Und Heartfield hat immer gesagt: diese gut, diese nix gut. Und keiner hat sich gewagt, zu sagen: dann begründe doch bitte mal...
Für viele seiner eigenen Fotos hat Horst Sturm Auszeichnungen erhalten. Seine Leistung ist vielfach gewürdigt worden. Was ihm im Rückblick auf seine lange wechselvolle Schaffenzeit immer wichtig ist, ist zu betonen, dass er in seinem Leben auch immer wieder Glück gehabt hat, Glück, dem Unglück zu entgehen. Einer seiner Schüler im Kriegsgebiet des Nahen Osten hatte dem Meisterfotografen sogar angeboten: Du bringst mir das Fotografieren bei und ich Dir das Schießen. Das Angebot blieb uneingelöst. Beim Durchblättern von Fotoalben mit Bildern, die die Kollegen während der Arbeit gegenseitig aufnahmen, kommt so manche Erinnerung auf:
Jetzt ist Schluß. Man soll es nicht übertreiben.
Das hier war bei ADN. Der links auf dem Bild war auch mein Volontär, der ist abgestürzt mit dem Hubschrauber bei Gadhafi. Gadhafi empfängt seinen Staatsbesuch immer im Beduinenzelt außerhalb der Hauptstadt. Ich wurde befragt, ob ich diesen Termin machen möchte mit Gadhafi. Ich hatte aber was anderes Wichtiges; und dann haben sie den jungen Mann hier genommen. Der hatte am Abend zuvor noch in der Redaktion gesessen und mit der Bürste seinen Fotokoffer gereinigt: Ich hab ihn noch zum Flugplatz gebracht... Beim Rückflug ist der Hubschrauber explodiert. Der Reporter begleitete den ebenfalls dabei getöteten DDR-Politiker Werner Lamberz (die Sache ist bis heute nicht geklärt, es kam jemand und hat Gadhafi was ins Ohr geflüstert, der ist dann nicht mitgeflogen). Nach seiner Rückkehr habe ich den Sarg fotografiert und mußte bei der Beerdigung als ältester Bildreporter eine kleine Rede halten. Da ist mir ganz anders geworden, weil, wenn ich nun mitgeflogen wäre, wär ich ja weggewesen.
Als ich im Nahen Osten war, kamen nachts die Tiefflieger. Ich hab ein Tonband, wo ich nachts auf dem Balkon stehe und das kommentiere. Oder ein anderer Fall: acht Tage nach unserer Abreise flog das Hotel 'Beau Rivage' am Mittelmeer, in dem wir immer wohnten, in die Luft. Wäre ich noch dort gewesen, dann würde ich hier auch nicht mehr sitzen. Und auf dem Rückflug gab es noch eine Notlandung in Genf, weil etwas mit den Triebwerken nicht in Ordnung war. Wie gesagt: ich hab immer Glück gehabt in meinem Leben. Schon im Krieg bei der Marine mit den Minen und immer wieder. Manchmal rufen ehemalige palästinensische Schüler an und sagen, ich soll doch unbedingt in den Gaza-Streifen kommen. Ich sage, es tut mir leid, ich komm jetzt nicht mehr. Jetzt ist Schluß. Man soll es nicht übertreiben.
Der leidenschaftliche Fotograf Horst Sturm kommt in Berührung mit Geburt und Tod. In seinem langen Berufsleben durchquert er die Zeit in Orten und Situationen: von der mongolischen Steppe ins Kriegsgebiet, aus dem Operationssaal während einer Herz-OP geht es zum Bau des Berliner Fernsehturms am Alex von der Grundsteinlegung bis zur Fertigstellung. Seine Bilder werden weltweit in Ausstellungen gezeigt: in Mexiko City, Moskau, Tunis, Aden, Leipzig, Köln... Seinen Studenten in der Heimat gibt er den Ausspruch "die Kamera wird erst kurz vorm Friedhof abgegeben" mit auf den Weg. Bei seinen ausländischen Schülern in Tunesien, im Jemen und im Libanon hätte das - teils unter Kriegsbedingungen - zu makaber geklungen. Wie ein Übervater sei er dort behandelt worden.
Ich war über 55 Jahre Fotoreporter, habe jeden Tag fotografiert und 33 Länder bereist. Da kommt schon was zusammen. Ich habe junge Menschen ausgebildet. Der Kollwitzplatz war die Gegend, wo ich gewohnt und gelebt habe. Meine jungen Leuten sollten wissen: die Kamera wird nach der Arbeit für den Auftraggeber nicht eingeschlossen. Man muß die Kamera immer dabei haben.
Horst Sturm mit einem Bild von 1942 als 19jähriger Matrose, Berlin, 2008 (Foto: Anneliese Fikentscher)
Horst Sturm in seiner Wohnung am Kollwitz-Platz, Berlin, 17.9.2005 (Foto: Andreas Neumann)
Rückseite des Bildes mit Horst Sturm als 19jährigem Matrose, Berlin, 2008 (Foto: Anneliese Fikentscher)
Horst Sturm, Berlin, 31.1.2008 (Foto: Anneliese Fikentscher)
Zeitschrift Arbeiterfotografie, Ausgabe 92
Horst Sturm-Sonderausgabe zur Verleihung der Ehrenmitgliedschaft
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Online-Flyer Nr. 544 vom 06.01.2016
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