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Aktuelles
Dem Kulturwissenschaftler Roland Günter zum 80sten Geburtstag
Ein Granitblock auf den Barrikaden der Demokratie
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
Um ein achtzigjähriges Leben zu beschreiben, braucht es 80 Jahre, war die Überzeugung der widerständigen Künstlerin und Protestakteurin Eva tom Moehlen. Bei Roland Günter könnte es 160 und mehr Jahre füllen, seine vielfältigen und vielschichtigen Wirkungsbereiche allein im Deutschen Werkbund und als Vorreiter der Denkmal-Unterschutzstellung von Industriearchitektur erfassbar zu machen. Daher konzentriert sich diese Betrachtung auf einen Kern seines Werkes, der bis heute seine Strahlkraft bewahrt und wie ein Handbuch in aktueller Entwicklung genutzt werden darf. Es ist das bürgerschaftliche Engagement im Kampf gegen eine institutionelle Politik, die die Demokratie bestenfalls als Kulisse duldet – am Beispiel Wohnraum.
Räuber und Räuberhauptmann
„Früher gab’s Räuber, die Kutschen überfallen hatten, wie man heute im Fernsehen noch sieht. Der Unternehmer, der war der Räuber, aber Räuberhauptmann meines Erachtens muß die Stadt gewesen sein, weil die uns mit unserem Inventar, unserem Eigentum, was wir als Eigentum nennen können, noch betrogen haben,“ äußert der Duisburger Bergmann Ernst Honak in der 1976 veröffentlichten Zusammenstellung, einem Vademecum, einem Handbuch über und von „Arbeiterinitiativen im Ruhrgebiet“, herausgegeben von Roland Günter und Jörg Boström. Da heißt es: „Bis 1972 wurden Bürgerinitiativen fast ausschließlich von Angehörigen der Mittelschichten gebildet. Dieses Buch beschreibt, wie Arbeiterinitiativen entstanden. Ihre konkreten Probleme und Lösungsmöglichkeiten werden gezeigt.“ Um was geht es? Es ging in den 1970er Jahren darum, dass Bergarbeitersiedlungen im Ruhrgebiet von großflächigem Abriss, „Flächenkahlschlag“, bedroht waren. Darin sahen die Bewohner eine existentielle Bedrohung ihres aus geringen Mitteln geschaffenen Hab und Guts. Wenzel Tolmar, Schießmeister auf der Zeche Neumühl: „Wenn ich so im Bett liege, höre ich immer den Bagger rauschen, wie die Mauer, die der Bergmann, also der Kumpel, sich selbst erarbeitet hat, abreißt.“ Kapitalkräftige Käufer sahen in den einfachen Häuschen mit Gärten eine Goldgrube. Hochhäuser sollten entstehen.
Januar 1976 in Oberhausen-Eisenheim: Besuch von NRW-Innenminister Burkhard Hirsch (FDP), hier mit Roland Günter. Kommentare der Eisenheimer: „Der trat so arrogant auf, wie ein schlechter Schulmeister“, „Unsere Probleme kümmern ihn nicht.“ alle Fotos: Jörg Boström (arbeiterfotografie.com)
Doch die Menschen schließen sich zusammen, organisieren sich, werden unterstützt von fachkundigen Beraterinnen und Beratern, die nicht immer Arbeiter, aber oft Teil der Initiative sind: Die Buch-Autoren (von Filmemacherin Helga Reidemeister bis Schriftsteller Max von der Grün) „sind keine außenstehenden Beobachter... Die Berater-Autoren verstanden sich als ihre (der Arbeiter) Sekretäre.“ 40 Berater waren zur Stelle, darunter vier Professoren. Im Vordergrund stand die Entwicklung zur Gegenwehr und das Aufzeigen von Möglichkeiten auf stadtplanerischem, sozialwissenschaftlichem, juristischem und publizistischem Gebiet.
Gesetze anwenden?
Der Erfolg bleibt nicht aus, wenn auch der Einsatz oft nach oder besser auf Grund von fortgeschrittenem Abriss stattfand. Wie fortan Arbeiter an Schulungen teilnehmen, ist ebenfalls dokumentiert. „Was lernen die Arbeiter nun in den Schulungen? Wie miserabel ihre Rechtslage ist – das wissen sie. Darüber braucht man nicht lange zu reden,“ schreiben Roland Günter, Jörg Boström und Bernd Segin, Mitglied der Arbeiterinitiative Lohberg in Dinslaken, „Und vor allem keine Zeit zu verlieren. Jammern nutzt nichts. Was dann? Die Arbeiter lernen, wie sie den Gesetzen das Bestmögliche abgewinnen können. Sie erfahren, daß es Gesetze gibt, die die Behörden nicht kennen oder nicht beachten. Gesetze, die angewandt werden müssen. Deren Anwendung erzwungen werden muß.“
Versammlung in der Gaststätte Koopmann. Filmvorführung und Fernsehdiskussion mit Moderator Ludwig Mezger. Teilnehmer sind 60 Bewohner und Berater. Auf der anderen Seite Politiker und Unternehmer, Vertreter von Wohnungsgesellschaften
Die beiden Herausgeber, Roland Günter und Jörg Boström, entwickeln darüber hinaus in ihren Hochschullehrstellen (in Bielefeld) das Zusammenspiel von Information und Illustration als visueller Kommunikation. Examensarbeiten entstehen. Arbeiterfotografie wird mit Leben erfüllt: Bildhaft begreifbar machen, wer sich - vom Bergmann bis zur Hausfrau - engagiert und wofür: für gewachsene Strukturen, für soziale Bindungen, die lebenswichtig sind für Rentner und Jugendliche. Jörg Boström ist mit dem Kunsthistoriker Richard Hiepe 1978 in Essen Gründungsmitglied des Bundesverbands Arbeiterfotografie. Roland Günter ist seit 2014 Arbeiterfotografie-Ehrenmitglied und unermüdlicher Kämpfer gegen den andauernden Flächenabriss in Duisburg, jüngst in Bruckhausen (Klagewort vom großen Häusermord, http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22262). Seiner Initiative und Mitwirkung ist der Erhalt der Siedlung Oberhausen-Eisenheim zu verdanken, die bis heute beispielhaft die Geschichten ihrer Bewohner nahe bringt. Mit der Erzählgeschichte der „oral history“ hatte Janne Günter in den 70er Jahren begonnen.
Gartenlaube in Eisenheim
Was in den 1970er Jahren unter anderem mit so genannter Privatisierung begann – Arbeiter sollten ihre Häuser kaufen, was sie sich kaum leisten konnten – setzt sich heute in fortschreitender Luxussanierung fort. Mieter werden aus bezahlbarem Wohnraum verdrängt. In Köln lässt die Stadt im Jahr 2007 ohne Not einen teils denkmalgeschützten Komplex von 300 Wohneinheiten im Barmer Viertel unmittelbar vor dem Messegelände abreißen – die Schicksale der darin lebenden Menschen ignorierend (http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=11960).
Zerstörung der Stadt und der Demokratie
Die Beraubung der öffentlichen Landgüter (des Ager publicus) war in der Römischen Republik eine zentrale innenpolitische Frage, die in Lager spaltete: in diejenigen, die das öffentliche Gut nach ihren Gesetzen bewahren wollten und diejenigen, denen der Raub immer wieder gelang. Von Rom nach Duisburg: geplant sind fünf Flächen-Zerstörungen, die der Stadthaushalt finanzieren soll. 2013 legt Roland Günter in einer Werkbund-Schriftenreihe die „Studie zur Kommunalpolitik am Fallbei(l)spiel – Stadtzerstörung und Stadtentwicklung in Duisburg“ unter dem schönen Titel „Stadtmassaker und Sozialverbrechen“ vor. Jahrzehnte langer Kampf endet in Duisburg Bruckhausen mit der Ignorierung des Bürger- oder besser des BewohnerInnen-Willens. Roland Günter entblößt die pervertierten Methoden von Parteien-Autorität: „Duisburg ist ein Lehrstück dafür, wie der absolutistische Fürstenstaat erneut in der Demokratie auftaucht.“ Ein schönes, ein ruhiges, ein erholsames Leben könnte er sich gönnen in Italien, wo er zum Ehrenbürger ernannte wurde, in Amsterdam, wo er eine Dependance für Arbeitsaufenthalte pflegt oder in „seinem“ Oberhausen-Eisenheim in der Kultstätte „Blaues Haus“. Eines ist sicher: Roland Günters Rat ist wertvoll, unverzichtbar.
Siehe auch:
Arbeiterinitiativen im Ruhrgebiet
Hrsg. Roland Günter und Jörg Boström
VSA (Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung)
Westberlin 1976
Stadtmassaker und Sozialverbrechen
Studie zur Kommunalpolitik am Fallbei(l)spiel
"Stadtzerstörung und Stadtentwicklung in Duisburg"
von Roland Günter, Dt. Werkbund NW, Klartext 2013
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19850
Online-Flyer Nr. 559 vom 27.04.2016
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Aktuelles
Dem Kulturwissenschaftler Roland Günter zum 80sten Geburtstag
Ein Granitblock auf den Barrikaden der Demokratie
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
Um ein achtzigjähriges Leben zu beschreiben, braucht es 80 Jahre, war die Überzeugung der widerständigen Künstlerin und Protestakteurin Eva tom Moehlen. Bei Roland Günter könnte es 160 und mehr Jahre füllen, seine vielfältigen und vielschichtigen Wirkungsbereiche allein im Deutschen Werkbund und als Vorreiter der Denkmal-Unterschutzstellung von Industriearchitektur erfassbar zu machen. Daher konzentriert sich diese Betrachtung auf einen Kern seines Werkes, der bis heute seine Strahlkraft bewahrt und wie ein Handbuch in aktueller Entwicklung genutzt werden darf. Es ist das bürgerschaftliche Engagement im Kampf gegen eine institutionelle Politik, die die Demokratie bestenfalls als Kulisse duldet – am Beispiel Wohnraum.
Räuber und Räuberhauptmann
„Früher gab’s Räuber, die Kutschen überfallen hatten, wie man heute im Fernsehen noch sieht. Der Unternehmer, der war der Räuber, aber Räuberhauptmann meines Erachtens muß die Stadt gewesen sein, weil die uns mit unserem Inventar, unserem Eigentum, was wir als Eigentum nennen können, noch betrogen haben,“ äußert der Duisburger Bergmann Ernst Honak in der 1976 veröffentlichten Zusammenstellung, einem Vademecum, einem Handbuch über und von „Arbeiterinitiativen im Ruhrgebiet“, herausgegeben von Roland Günter und Jörg Boström. Da heißt es: „Bis 1972 wurden Bürgerinitiativen fast ausschließlich von Angehörigen der Mittelschichten gebildet. Dieses Buch beschreibt, wie Arbeiterinitiativen entstanden. Ihre konkreten Probleme und Lösungsmöglichkeiten werden gezeigt.“ Um was geht es? Es ging in den 1970er Jahren darum, dass Bergarbeitersiedlungen im Ruhrgebiet von großflächigem Abriss, „Flächenkahlschlag“, bedroht waren. Darin sahen die Bewohner eine existentielle Bedrohung ihres aus geringen Mitteln geschaffenen Hab und Guts. Wenzel Tolmar, Schießmeister auf der Zeche Neumühl: „Wenn ich so im Bett liege, höre ich immer den Bagger rauschen, wie die Mauer, die der Bergmann, also der Kumpel, sich selbst erarbeitet hat, abreißt.“ Kapitalkräftige Käufer sahen in den einfachen Häuschen mit Gärten eine Goldgrube. Hochhäuser sollten entstehen.
Januar 1976 in Oberhausen-Eisenheim: Besuch von NRW-Innenminister Burkhard Hirsch (FDP), hier mit Roland Günter. Kommentare der Eisenheimer: „Der trat so arrogant auf, wie ein schlechter Schulmeister“, „Unsere Probleme kümmern ihn nicht.“ alle Fotos: Jörg Boström (arbeiterfotografie.com)
Doch die Menschen schließen sich zusammen, organisieren sich, werden unterstützt von fachkundigen Beraterinnen und Beratern, die nicht immer Arbeiter, aber oft Teil der Initiative sind: Die Buch-Autoren (von Filmemacherin Helga Reidemeister bis Schriftsteller Max von der Grün) „sind keine außenstehenden Beobachter... Die Berater-Autoren verstanden sich als ihre (der Arbeiter) Sekretäre.“ 40 Berater waren zur Stelle, darunter vier Professoren. Im Vordergrund stand die Entwicklung zur Gegenwehr und das Aufzeigen von Möglichkeiten auf stadtplanerischem, sozialwissenschaftlichem, juristischem und publizistischem Gebiet.
Gesetze anwenden?
Der Erfolg bleibt nicht aus, wenn auch der Einsatz oft nach oder besser auf Grund von fortgeschrittenem Abriss stattfand. Wie fortan Arbeiter an Schulungen teilnehmen, ist ebenfalls dokumentiert. „Was lernen die Arbeiter nun in den Schulungen? Wie miserabel ihre Rechtslage ist – das wissen sie. Darüber braucht man nicht lange zu reden,“ schreiben Roland Günter, Jörg Boström und Bernd Segin, Mitglied der Arbeiterinitiative Lohberg in Dinslaken, „Und vor allem keine Zeit zu verlieren. Jammern nutzt nichts. Was dann? Die Arbeiter lernen, wie sie den Gesetzen das Bestmögliche abgewinnen können. Sie erfahren, daß es Gesetze gibt, die die Behörden nicht kennen oder nicht beachten. Gesetze, die angewandt werden müssen. Deren Anwendung erzwungen werden muß.“
Versammlung in der Gaststätte Koopmann. Filmvorführung und Fernsehdiskussion mit Moderator Ludwig Mezger. Teilnehmer sind 60 Bewohner und Berater. Auf der anderen Seite Politiker und Unternehmer, Vertreter von Wohnungsgesellschaften
Die beiden Herausgeber, Roland Günter und Jörg Boström, entwickeln darüber hinaus in ihren Hochschullehrstellen (in Bielefeld) das Zusammenspiel von Information und Illustration als visueller Kommunikation. Examensarbeiten entstehen. Arbeiterfotografie wird mit Leben erfüllt: Bildhaft begreifbar machen, wer sich - vom Bergmann bis zur Hausfrau - engagiert und wofür: für gewachsene Strukturen, für soziale Bindungen, die lebenswichtig sind für Rentner und Jugendliche. Jörg Boström ist mit dem Kunsthistoriker Richard Hiepe 1978 in Essen Gründungsmitglied des Bundesverbands Arbeiterfotografie. Roland Günter ist seit 2014 Arbeiterfotografie-Ehrenmitglied und unermüdlicher Kämpfer gegen den andauernden Flächenabriss in Duisburg, jüngst in Bruckhausen (Klagewort vom großen Häusermord, http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22262). Seiner Initiative und Mitwirkung ist der Erhalt der Siedlung Oberhausen-Eisenheim zu verdanken, die bis heute beispielhaft die Geschichten ihrer Bewohner nahe bringt. Mit der Erzählgeschichte der „oral history“ hatte Janne Günter in den 70er Jahren begonnen.
Gartenlaube in Eisenheim
Was in den 1970er Jahren unter anderem mit so genannter Privatisierung begann – Arbeiter sollten ihre Häuser kaufen, was sie sich kaum leisten konnten – setzt sich heute in fortschreitender Luxussanierung fort. Mieter werden aus bezahlbarem Wohnraum verdrängt. In Köln lässt die Stadt im Jahr 2007 ohne Not einen teils denkmalgeschützten Komplex von 300 Wohneinheiten im Barmer Viertel unmittelbar vor dem Messegelände abreißen – die Schicksale der darin lebenden Menschen ignorierend (http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=11960).
Zerstörung der Stadt und der Demokratie
Die Beraubung der öffentlichen Landgüter (des Ager publicus) war in der Römischen Republik eine zentrale innenpolitische Frage, die in Lager spaltete: in diejenigen, die das öffentliche Gut nach ihren Gesetzen bewahren wollten und diejenigen, denen der Raub immer wieder gelang. Von Rom nach Duisburg: geplant sind fünf Flächen-Zerstörungen, die der Stadthaushalt finanzieren soll. 2013 legt Roland Günter in einer Werkbund-Schriftenreihe die „Studie zur Kommunalpolitik am Fallbei(l)spiel – Stadtzerstörung und Stadtentwicklung in Duisburg“ unter dem schönen Titel „Stadtmassaker und Sozialverbrechen“ vor. Jahrzehnte langer Kampf endet in Duisburg Bruckhausen mit der Ignorierung des Bürger- oder besser des BewohnerInnen-Willens. Roland Günter entblößt die pervertierten Methoden von Parteien-Autorität: „Duisburg ist ein Lehrstück dafür, wie der absolutistische Fürstenstaat erneut in der Demokratie auftaucht.“ Ein schönes, ein ruhiges, ein erholsames Leben könnte er sich gönnen in Italien, wo er zum Ehrenbürger ernannte wurde, in Amsterdam, wo er eine Dependance für Arbeitsaufenthalte pflegt oder in „seinem“ Oberhausen-Eisenheim in der Kultstätte „Blaues Haus“. Eines ist sicher: Roland Günters Rat ist wertvoll, unverzichtbar.
Siehe auch:
Arbeiterinitiativen im Ruhrgebiet
Hrsg. Roland Günter und Jörg Boström
VSA (Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung)
Westberlin 1976
Stadtmassaker und Sozialverbrechen
Studie zur Kommunalpolitik am Fallbei(l)spiel
"Stadtzerstörung und Stadtentwicklung in Duisburg"
von Roland Günter, Dt. Werkbund NW, Klartext 2013
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19850
Online-Flyer Nr. 559 vom 27.04.2016
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