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Literatur
Aus der Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" – Folge 3
Die Brücke über den Rhein
Von Erasmus Schöfer
Am 4. Juni 1931 – vor jetzt 85 Jahren – ist er geboren. Seit 1962 ist er als freier Schriftsteller tätig. 1965 zieht er nach München, wo er sich gegen die Notstandsgesetze und später in der Ostermarschbewegung engagiert. 1969 ist er Mitgründer des "Werkkreises Literatur der Arbeitswelt". Zwischen 2001 und 2008 erscheint seine Sisyfos-Tetralogie, ein auf vier Bände angelegter Romanzyklus "Die Kinder des Sisyfos" (Ein Frühling irrer Hoffnung, 2001; Zwielicht, 2004; Sonnenflucht, 2005; Winterdämmerung, 2008) über die deutsche und europäische Geschichte zwischen 1968 und 1989, die die Erinnerung an eine Linke vergegenwärtigt und bewahrt, die zwar erhebliche Veränderungen in Gang setzte, ihr Ziel, ein humane sozialistische Gesellschaftsordnung, jedoch verfehlte. Die NRhZ bringt aus den vier, insgesamt mehr als 2000 Seiten umfassenden Bänden neun Auszüge – Folge 3 aus "Zwielicht". In dem jahrelangen, schließlich erfolgreichen Kampf der Bevölkerung am badischen Kaiserstuhl gegen den Bau eines Atomkraftwerkes in den Wyhler Rheinauen gab es viele einzelne Aktionen, in denen sich der Widerstandswille der Bürgerinitiativen herausbildete und festigte. Wie eine Probe auf den großen Kampf gegen das AKW war 1974 die Besetzung des Baugeländes für das Bleiwerk im benachbarten französischen Marckolsheim.
Erasmus Schöfer mit seiner Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" (Foto aus dem Arbeiterfotografie-Projekt 68er Köpfe)
Empörung. Der Reporter vom Südwestfunk steckte Belz das Mikrophon fast in den Bart: Sagen Sie noch mal – was ist passiert?
Ich bin heute morgen um sechs auf den besetzten Bauplatz in Marckolsheim gefahren, in friedlicher Absicht. Bei der Rückfahrt hat man mich verhaftet und mich dann des Landes verwiesen. Ohne Begründung.
Herr Landrat Dr. Mayberg, was sagen Sie zu diesem Vorfall? Was werden Sie veranlassen? Kann eine deutsche Behörde das hinnehmen?
Es wurde plötzlich still, so schien es, obwohl nur die Nächststehenden auf eine Antwort warteten. Der Landrat überblickte die Runde, sah dann in die fordernden Augen des Reporters: Keinesfalls werden wir! Dieser Vorgang ist ohne Beispiel! Und mit etwas zurückgenommener Stimme: Aber ehe wir an weitere Schritte denken, werde ich jetzt mit Herrn Bürgermeister Forster nach Marckolsheim fahren und eine Erläuterung verlangen.
Und wieder zu seinem Publikum, herausfordernd: Da wollen wir doch mal sehn, was uns die Herren zu sagen haben!
Bravo! Das ist die Sprache! Auf den Tisch hauen! Ein paar Beifallsklatscher.
Inzwischen bitte ich die Bürgerinitiativen, sich nicht durch unbedachte Schritte selbst ins Unrecht zu setzen. Herr Dr. Schött, ich appelliere da auch an Sie als Sprecher der Bürgerinitiativen. Ich verspreche Ihnen, daß wir Sie sofort informieren.
Aber die Brücke bleibt besetzt!
Das war Belz. Und die Rufe sprangen wieder hin und her:
Den Riegel verstärken! Niemand mehr durchlassen! Begleitschutz für den Landrat! Warum nicht auch Breisach zumachen? Traktoren auf die Brücke! Über Breisach auf den Platz! Der Landrat muß rüber!
Die Herren bestiegen ihren schwarzen Mercedes, wurden zur Auffahrt durchgelotst, 9 Uhr 30, gleich hinter ihnen stellten sich wieder die Männer auf, die von der Platzwache in Windjacken und Regenmänteln, die vom Feld in Overalls und den blauen Leinenjacken. Die wartenden Touristen schimpften im Hintergrund, trauten sich nicht bis an diese Frontlinie.
Aber die Grünen von der Landpolizei wurden jetzt aktiv, zehn, zwölf Mann waren inzwischen an der Brücke, der Oberkommissar dabei, offenbar vom Landrat herbeizitiert. Betulich redeten sie auf die Bürger ein, solange der Landrat verhandele wenigstens einige Wagen durchzulassen, nicht Unrecht gegen Unrecht zu setzen, sie müßten sonst daran denken, die Öffnung zu erzwingen, was man ihnen doch ersparen möchte, schließlich handele es sich um die eignen Nachbarn, die zur Arbeit ins Elsaß müßten. Auch Hans Schött fand, daß den Franzosen ihr Unrecht nun eindeutig vor Augen geführt sei.
Ein Student aus Freiburg argumentierte dagegen, der Landrat würde gar nichts erreichen, wenn sie jetzt freiwillig die Brücke räumten, nur Druck könne etwas bewirken. Belz schlug vor, die Sperre aufzuheben, aber als erste müßten die Wagen der Bürgerinitiativen mit den Transparenten rüberfahren. Große Heiterkeit. Auch von den Polizisten konnten sich nicht alle das Grinsen verkneifen. Von weiter hinten dirigierten andere Polizisten zwei Touristen-PKWs durch die Menge, hinter jedem schwappten die Menschen sofort wieder zusammen, es entstand keine Gasse. Der Kommissar wedelte die Männer der Kette zur Seite, widerstrebend ließen sie die Wagen durch, auf Tuchfühlung mit den Karosserien, verängstigte, starre, neugierige Gesichter im Innern, und mit dem zweiten Wagen drängten zwanzig, dreißig Leute, viele Frauen nach vorn, standen die Brückeneinfahrt mitsamt den Polizisten zu, ein menschlicher Pfropfen.
Auf dem Platz sprach die Polizei jetzt über einen Lautsprecherwagen, verlas einige Autonummern, erzeugte Stille, klar war die Aufforderung an die Fahrer zu hören, sich zu ihren Fahrzeugen zu begeben, den Anweisungen der Polizei Folge zu leisten.
Keine Veränderung, keine Bewegung.
Mehrmals wurde die Aufforderung wiederholt, ausgeschmückt mit den Appellen an das Verantwortungsbewußtsein der Bürgerinitiativen, der öffentliche Fahrweg müsse freigehalten werden, andernfalls würden die Wagen abgeschleppt. Die späteren Einladungen, eher bittend als drohend vorgetragen, bewirkten schon keine Aufmerksamkeit, keine Stille mehr. Nur Flachsereien, die Fahrer seien Pinkeln, beim Frühschoppen, wieder bei der Mutti, zu lange hätte man sie hier schon warten lassen.
Die Polizei war gelähmt durch den passiven Widerstand der Kaiserstühler. Und kaum einer dachte jetzt daran, daß sie mit den Autokennzeichen das Mittel für spätere Rache in den Einsatzheften hatte.
Zwei ortsfremde PKWs wurden noch in Zentimeterarbeit durchgeschleust, dann blieb der Reisebus aus Titisee endgültig zwischen zwei Wagen stecken, der Fahrer stellte den Motor ab, stieg aus und erklärte den entmutigten Polizisten, daß er sich nicht den Lack zerkratzen lassen werde. Der letzte Durchlaß war zu. Sepp, der Königschaffhauser Winzer, stieg in den Bus, zog eine Flasche Spätburgunder seiner Winzergenossenschaft aus der Jackentasche, reichte sie entkorkt den beiden älteren Damen in der ersten Reihe, bemühte sich, hochdeutsch zu sprechen: Ich habe leider keinen Pokal dabei, aber probieren Sie mal – nicht gleich runterschlucken! Schmecken Sie die Blume von diesem Gewächs? Das produzieren wir hier. Nun schauen Sie aus dem Fenster – auf diesem Limberg, da wo die Bäume aufhören, da wächst so etwas Herrliches. Nicht in Italien, nicht in Afrika – in unserer Heimat! Geben Sie ruhig weiter, jeder einen Probeschluck. Der ganze Kaiserstuhl ist voll davon. Das wollen sie uns jetzt mit Bleistaub und Radioaktivität vergiften, die hohen Herren mit dem dicken Geld! Unsre Existenz zerstören! Drüben in Marckolsheim durch das Bleiwerk, hier in Wyhl mit einem Atomkraftwerk. Mitten in der Rheinaue. Gehen Sie da mal spazieren! Die ist nämlich einmalig in ganz Baden und Süddeutschland, dieser Oberrhein, was da gesungen und geschnattert wird von hundert Sorten Vögeln. Und das Wasser, die Quellen, wir sagen: der Altrhein – das können Sie so trinken, aus der Hand! Sepp sah die immer noch abwehrenden, skeptischen Blicke, keiner schien Lust auf Altrheinwasser zu haben, er schaute nach draußen, nach Unterstützung, umsonst, kratzte sich hörbar die borstigen Haarstoppeln.
Wenn Sies nicht glauben, ist ja auch kaum zu glauben, dann hol ich Ihnen einen von uns, der ist Fischer, der erzählt Ihnen einen Roman! In Sasbach, da wo Sie eben durchgefahren sind, da sehn Sie noch, wie schön hier früher die Dörfer mal waren, mit dem Fachwerk und den Blumen an jedem Fenster. Wir haben immer den Kopf hingehalten, wenn die oben Krieg machen wollten, hier an der Grenze, wir waren die ersten, die bezahlt haben. Die meisten Dörfer sind zerstört gewesen. Jetzt ist wieder Krieg am Kaiserstuhl! Aber nicht Deutsche gegen Franzosen. Wir haben ja dieselbe Sprache, Elsässer und Badener, wir wissen, daß wir keine Feinde sind, sondern die sitzen ganz woanders. Deshalb verteidigen wir unsre Heimat und sagen: Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv!
Sepp hatte immer wieder die beiden älteren Damen angesehn bei seiner Rede, als ob er sie ganz besonders überzeugen müßte. Sie klatschten ein bißchen, zaghaft, die eine sah sich um, ob die andern mitmachten, aber es ging nur ein allgemeines Gerede los, da lächelten sie verlegen zu Sepp und hörten wieder auf.
Plötzlich von hinten eine starke Männerstimme: Ihr könnt uns viel erzählen! Wie soll ich das glauben, wenn die Flasche leer ist! Und der Dicke, der nun sichtbar wurde, hielt die Rotweinflasche umgekehrt in die Höhe. Kein Tropfen mehr – alles ausgesoffen von unsern Damen!
Da brach das Eis. Die Leute klatschten, verlangten nach mehr Wein. Sepp konnte auch lachen, und seine erst zaghafte, fast schüchterne Stimme zeigte sich nun im vollen Umfang: Meine Herrschaften, rief er über den Lärm, meine Herrschaften – die beiden Cafés sind geöffnet. Die Sonne kommt auch raus – nutzen Sie die Gelegenheit zu einem unvergeßlichen Frühschoppen! Und sprechen Sie mit den Leuten draußen, wenn Sie mehr wissen wollen.
Auf gehts, schrie der Dicke entzückt – ob in Colmar oder am Kaiserstuhl, Hauptsache was zum Gurgeln! Einer fing an zu singen: Warum ist es am Rhein so schön, und Sepp wurde von den aufbrechenden Damen aus dem Bus gespült. Er hatte Mühe, nicht gleich untergehakt und mitgeschleppt zu werden, konnte sich nur durch das Versprechen befreien, gleich zu einem Viertele rüberzukommen in das Café.
An der Brücke hatte sich die Lage noch verschärft. Um den Franzosen ihren amtlichen Pflichteifer zu beweisen, hatten andre Polizisten einige Wagen aus Frankreich auf die Brücke gewinkt, die standen nun vor dem Menschenhaufen, konnten nicht vor und kaum zurück. Die Fahrer ließen ihre Ungeduld an den Hupen aus, machten damit aber nur den Polizisten ihre Hilflosigkeit noch deutlicher. Wütend liefen einige an der Wagenkette entlang, brachten das Hupkonzert zum Schweigen, begleitet vom Gelächter der Leute am Ufer.
Belz hatte nach Hause telefoniert, seine Freilassung gemeldet.
Als er wieder zur Brücke kam, bugsierte die Polizei grade die ersten französischen Wagen ans badische Ufer, Buhrufe und Proteste begleiteten die Aktion, die erst aufhörten, als auch der schwarze Dienst-Mercedes des Landratsamtes in der Reihe erschien. Landrat Mayberg stieg kopfschüttelnd aus dem Fond, die Männer und Frauen bestürmten ihn, aber er sagte nur: Nichts. Ziemlich leise.
Wie nichts? Was heißt das?
Lothar Mayberg hob beide Arme hoch, ließ sie herunterfallen: Nichts. Niemand weiß was. Und zuckte wenig staatsmännisch die Achseln.
Ja, und? Das gibts doch nicht! Spielen die Franzosen mit Ihnen Blindekuh? Verarschen tun die uns!
Der Funkreporter und der von der Badischen drängten sich an ihn, wollten Erklärungen, glücklos.
Dann gehn wir jetzt alle zu Fuß rüber und diskutieren mit ihnen! schrie Belz über die Köpfe. Das gab Feuer, Bewegung.
Einen Augenblick, Leute! schrie nun auch Bürgermeister Forster, und leise zum Landrat: Sie müssen etwas sagen. Das gerät sonst außer Kontrolle. Hier auf dem Platz sind mindestens dreihundert Kaiserstühler!
Lothar Mayberg sah ihn einen Augenblick an, dann über die Menge, entschloß sich, laut: Wo ist der Polizeilautsprecher? Ein Grüner wollte ihm eine Gasse freidrängen, da reichte ihm ein andrer schon das Handmegaphon, er trat in den Einstieg des Wagens, hielt sich etwas mühsam an der Tür fest, stürzte fast, als die Tür nachgab, wurde gestützt von seinem Adjutanten, bremste mit seinem Liebe Mitbürgerinnen und Bürger! grade noch die Richtung Brücke in Bewegung geratende Menge.
Ich muß Ihnen zu meinem Bedauern mitteilen, daß weder der Marckolsheimer Bürgermeister noch die französische Gendarmerie mir Auskunft über die Grenzschließung geben konnten. Am Grenzzoll wurde uns erklärt, daß die Sperre von der Präfektur in Straßburg direkt angeordnet wurde, zum Schutz des Eigentums der Bauplatzbesitzer. Wir haben gegen diese einmalige Diskriminierung der Bürger unseres Landkreises Protest erhoben. Man hat uns geantwortet, die Europabrücke in Breisach sei offen. Ich werde jetzt sofort den Regierungspräsidenten in Freiburg und Herrn Ministerpräsident Filbinger unterrichten. Alles weitere muß von dort aus veranlaßt werden. Ich kann Ihnen jetzt nur versichern: Ich bin empört! Aber Sie sehen – ich zügle mich. Und ich warne auch Sie noch einmal vor vielleicht verständlichen aber voreiligen Schritten. Mit einer Eskalation ist niemand gedient!
Seine Stimme hatte ihm wieder Mut zugesprochen, er winkte den Leuten zu, obwohl niemand geklatscht hatte, gab dem Polizisten das Megaphon und fuhr ohne weitere Anordnungen an den ihm etwas verdutzt nachsehenden Polizeikommissar mit seiner Mannschaft ab. Ratlosigkeit bei den Bürgerinitiativen.
Erasmus Schöfer: Die Kinder des Sisyfos
Roman-Tetralogie, Gesamtpreis 77 Euro
Dittrich Verlag (http://www.dittrich-verlag.de/)
Band 1: Ein Frühling irrer Hoffnung, 2001, 496 Seiten, 17,80 Euro
Band 2: Zwielicht, 2004, 600 Seiten, 19,80 Euro
Band 3: Sonnenflucht, 2005, 380 Seiten, 19,80 Euro
Band 4: Winterdämmerung, 2008, 632 Seiten, 24,80 Euro
Die NRhZ dankt dem Autor Erasmus Schöfer sowie dem Dittrich-Verlag für die Abdruckerlaubnis sowie der Redaktion von CONTRASTE, der Monatszeitung für Selbstorganisation, für die Bereitstellung der neun Auszüge.
Siehe auch:
Folge 1: 1968 – AktionsKomitee Kammerspiele München
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22817
Folge 2: Machen wir heute, was morgen erst schön wird
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22838
68er Köpfe
Portraits mit Statements zur 68er-Bewegung - Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln
Erasmus Schöfer: Ein Frühling irrer Hoffnung
http://www.arbeiterfotografie.com/af-koeln/68er/exponat-02.html
Online-Flyer Nr. 565 vom 08.06.2016
Druckversion
Literatur
Aus der Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" – Folge 3
Die Brücke über den Rhein
Von Erasmus Schöfer
Am 4. Juni 1931 – vor jetzt 85 Jahren – ist er geboren. Seit 1962 ist er als freier Schriftsteller tätig. 1965 zieht er nach München, wo er sich gegen die Notstandsgesetze und später in der Ostermarschbewegung engagiert. 1969 ist er Mitgründer des "Werkkreises Literatur der Arbeitswelt". Zwischen 2001 und 2008 erscheint seine Sisyfos-Tetralogie, ein auf vier Bände angelegter Romanzyklus "Die Kinder des Sisyfos" (Ein Frühling irrer Hoffnung, 2001; Zwielicht, 2004; Sonnenflucht, 2005; Winterdämmerung, 2008) über die deutsche und europäische Geschichte zwischen 1968 und 1989, die die Erinnerung an eine Linke vergegenwärtigt und bewahrt, die zwar erhebliche Veränderungen in Gang setzte, ihr Ziel, ein humane sozialistische Gesellschaftsordnung, jedoch verfehlte. Die NRhZ bringt aus den vier, insgesamt mehr als 2000 Seiten umfassenden Bänden neun Auszüge – Folge 3 aus "Zwielicht". In dem jahrelangen, schließlich erfolgreichen Kampf der Bevölkerung am badischen Kaiserstuhl gegen den Bau eines Atomkraftwerkes in den Wyhler Rheinauen gab es viele einzelne Aktionen, in denen sich der Widerstandswille der Bürgerinitiativen herausbildete und festigte. Wie eine Probe auf den großen Kampf gegen das AKW war 1974 die Besetzung des Baugeländes für das Bleiwerk im benachbarten französischen Marckolsheim.
Erasmus Schöfer mit seiner Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" (Foto aus dem Arbeiterfotografie-Projekt 68er Köpfe)
Empörung. Der Reporter vom Südwestfunk steckte Belz das Mikrophon fast in den Bart: Sagen Sie noch mal – was ist passiert?
Ich bin heute morgen um sechs auf den besetzten Bauplatz in Marckolsheim gefahren, in friedlicher Absicht. Bei der Rückfahrt hat man mich verhaftet und mich dann des Landes verwiesen. Ohne Begründung.
Herr Landrat Dr. Mayberg, was sagen Sie zu diesem Vorfall? Was werden Sie veranlassen? Kann eine deutsche Behörde das hinnehmen?
Es wurde plötzlich still, so schien es, obwohl nur die Nächststehenden auf eine Antwort warteten. Der Landrat überblickte die Runde, sah dann in die fordernden Augen des Reporters: Keinesfalls werden wir! Dieser Vorgang ist ohne Beispiel! Und mit etwas zurückgenommener Stimme: Aber ehe wir an weitere Schritte denken, werde ich jetzt mit Herrn Bürgermeister Forster nach Marckolsheim fahren und eine Erläuterung verlangen.
Und wieder zu seinem Publikum, herausfordernd: Da wollen wir doch mal sehn, was uns die Herren zu sagen haben!
Bravo! Das ist die Sprache! Auf den Tisch hauen! Ein paar Beifallsklatscher.
Inzwischen bitte ich die Bürgerinitiativen, sich nicht durch unbedachte Schritte selbst ins Unrecht zu setzen. Herr Dr. Schött, ich appelliere da auch an Sie als Sprecher der Bürgerinitiativen. Ich verspreche Ihnen, daß wir Sie sofort informieren.
Aber die Brücke bleibt besetzt!
Das war Belz. Und die Rufe sprangen wieder hin und her:
Den Riegel verstärken! Niemand mehr durchlassen! Begleitschutz für den Landrat! Warum nicht auch Breisach zumachen? Traktoren auf die Brücke! Über Breisach auf den Platz! Der Landrat muß rüber!
Die Herren bestiegen ihren schwarzen Mercedes, wurden zur Auffahrt durchgelotst, 9 Uhr 30, gleich hinter ihnen stellten sich wieder die Männer auf, die von der Platzwache in Windjacken und Regenmänteln, die vom Feld in Overalls und den blauen Leinenjacken. Die wartenden Touristen schimpften im Hintergrund, trauten sich nicht bis an diese Frontlinie.
Aber die Grünen von der Landpolizei wurden jetzt aktiv, zehn, zwölf Mann waren inzwischen an der Brücke, der Oberkommissar dabei, offenbar vom Landrat herbeizitiert. Betulich redeten sie auf die Bürger ein, solange der Landrat verhandele wenigstens einige Wagen durchzulassen, nicht Unrecht gegen Unrecht zu setzen, sie müßten sonst daran denken, die Öffnung zu erzwingen, was man ihnen doch ersparen möchte, schließlich handele es sich um die eignen Nachbarn, die zur Arbeit ins Elsaß müßten. Auch Hans Schött fand, daß den Franzosen ihr Unrecht nun eindeutig vor Augen geführt sei.
Ein Student aus Freiburg argumentierte dagegen, der Landrat würde gar nichts erreichen, wenn sie jetzt freiwillig die Brücke räumten, nur Druck könne etwas bewirken. Belz schlug vor, die Sperre aufzuheben, aber als erste müßten die Wagen der Bürgerinitiativen mit den Transparenten rüberfahren. Große Heiterkeit. Auch von den Polizisten konnten sich nicht alle das Grinsen verkneifen. Von weiter hinten dirigierten andere Polizisten zwei Touristen-PKWs durch die Menge, hinter jedem schwappten die Menschen sofort wieder zusammen, es entstand keine Gasse. Der Kommissar wedelte die Männer der Kette zur Seite, widerstrebend ließen sie die Wagen durch, auf Tuchfühlung mit den Karosserien, verängstigte, starre, neugierige Gesichter im Innern, und mit dem zweiten Wagen drängten zwanzig, dreißig Leute, viele Frauen nach vorn, standen die Brückeneinfahrt mitsamt den Polizisten zu, ein menschlicher Pfropfen.
Auf dem Platz sprach die Polizei jetzt über einen Lautsprecherwagen, verlas einige Autonummern, erzeugte Stille, klar war die Aufforderung an die Fahrer zu hören, sich zu ihren Fahrzeugen zu begeben, den Anweisungen der Polizei Folge zu leisten.
Keine Veränderung, keine Bewegung.
Mehrmals wurde die Aufforderung wiederholt, ausgeschmückt mit den Appellen an das Verantwortungsbewußtsein der Bürgerinitiativen, der öffentliche Fahrweg müsse freigehalten werden, andernfalls würden die Wagen abgeschleppt. Die späteren Einladungen, eher bittend als drohend vorgetragen, bewirkten schon keine Aufmerksamkeit, keine Stille mehr. Nur Flachsereien, die Fahrer seien Pinkeln, beim Frühschoppen, wieder bei der Mutti, zu lange hätte man sie hier schon warten lassen.
Die Polizei war gelähmt durch den passiven Widerstand der Kaiserstühler. Und kaum einer dachte jetzt daran, daß sie mit den Autokennzeichen das Mittel für spätere Rache in den Einsatzheften hatte.
Zwei ortsfremde PKWs wurden noch in Zentimeterarbeit durchgeschleust, dann blieb der Reisebus aus Titisee endgültig zwischen zwei Wagen stecken, der Fahrer stellte den Motor ab, stieg aus und erklärte den entmutigten Polizisten, daß er sich nicht den Lack zerkratzen lassen werde. Der letzte Durchlaß war zu. Sepp, der Königschaffhauser Winzer, stieg in den Bus, zog eine Flasche Spätburgunder seiner Winzergenossenschaft aus der Jackentasche, reichte sie entkorkt den beiden älteren Damen in der ersten Reihe, bemühte sich, hochdeutsch zu sprechen: Ich habe leider keinen Pokal dabei, aber probieren Sie mal – nicht gleich runterschlucken! Schmecken Sie die Blume von diesem Gewächs? Das produzieren wir hier. Nun schauen Sie aus dem Fenster – auf diesem Limberg, da wo die Bäume aufhören, da wächst so etwas Herrliches. Nicht in Italien, nicht in Afrika – in unserer Heimat! Geben Sie ruhig weiter, jeder einen Probeschluck. Der ganze Kaiserstuhl ist voll davon. Das wollen sie uns jetzt mit Bleistaub und Radioaktivität vergiften, die hohen Herren mit dem dicken Geld! Unsre Existenz zerstören! Drüben in Marckolsheim durch das Bleiwerk, hier in Wyhl mit einem Atomkraftwerk. Mitten in der Rheinaue. Gehen Sie da mal spazieren! Die ist nämlich einmalig in ganz Baden und Süddeutschland, dieser Oberrhein, was da gesungen und geschnattert wird von hundert Sorten Vögeln. Und das Wasser, die Quellen, wir sagen: der Altrhein – das können Sie so trinken, aus der Hand! Sepp sah die immer noch abwehrenden, skeptischen Blicke, keiner schien Lust auf Altrheinwasser zu haben, er schaute nach draußen, nach Unterstützung, umsonst, kratzte sich hörbar die borstigen Haarstoppeln.
Wenn Sies nicht glauben, ist ja auch kaum zu glauben, dann hol ich Ihnen einen von uns, der ist Fischer, der erzählt Ihnen einen Roman! In Sasbach, da wo Sie eben durchgefahren sind, da sehn Sie noch, wie schön hier früher die Dörfer mal waren, mit dem Fachwerk und den Blumen an jedem Fenster. Wir haben immer den Kopf hingehalten, wenn die oben Krieg machen wollten, hier an der Grenze, wir waren die ersten, die bezahlt haben. Die meisten Dörfer sind zerstört gewesen. Jetzt ist wieder Krieg am Kaiserstuhl! Aber nicht Deutsche gegen Franzosen. Wir haben ja dieselbe Sprache, Elsässer und Badener, wir wissen, daß wir keine Feinde sind, sondern die sitzen ganz woanders. Deshalb verteidigen wir unsre Heimat und sagen: Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv!
Sepp hatte immer wieder die beiden älteren Damen angesehn bei seiner Rede, als ob er sie ganz besonders überzeugen müßte. Sie klatschten ein bißchen, zaghaft, die eine sah sich um, ob die andern mitmachten, aber es ging nur ein allgemeines Gerede los, da lächelten sie verlegen zu Sepp und hörten wieder auf.
Plötzlich von hinten eine starke Männerstimme: Ihr könnt uns viel erzählen! Wie soll ich das glauben, wenn die Flasche leer ist! Und der Dicke, der nun sichtbar wurde, hielt die Rotweinflasche umgekehrt in die Höhe. Kein Tropfen mehr – alles ausgesoffen von unsern Damen!
Da brach das Eis. Die Leute klatschten, verlangten nach mehr Wein. Sepp konnte auch lachen, und seine erst zaghafte, fast schüchterne Stimme zeigte sich nun im vollen Umfang: Meine Herrschaften, rief er über den Lärm, meine Herrschaften – die beiden Cafés sind geöffnet. Die Sonne kommt auch raus – nutzen Sie die Gelegenheit zu einem unvergeßlichen Frühschoppen! Und sprechen Sie mit den Leuten draußen, wenn Sie mehr wissen wollen.
Auf gehts, schrie der Dicke entzückt – ob in Colmar oder am Kaiserstuhl, Hauptsache was zum Gurgeln! Einer fing an zu singen: Warum ist es am Rhein so schön, und Sepp wurde von den aufbrechenden Damen aus dem Bus gespült. Er hatte Mühe, nicht gleich untergehakt und mitgeschleppt zu werden, konnte sich nur durch das Versprechen befreien, gleich zu einem Viertele rüberzukommen in das Café.
An der Brücke hatte sich die Lage noch verschärft. Um den Franzosen ihren amtlichen Pflichteifer zu beweisen, hatten andre Polizisten einige Wagen aus Frankreich auf die Brücke gewinkt, die standen nun vor dem Menschenhaufen, konnten nicht vor und kaum zurück. Die Fahrer ließen ihre Ungeduld an den Hupen aus, machten damit aber nur den Polizisten ihre Hilflosigkeit noch deutlicher. Wütend liefen einige an der Wagenkette entlang, brachten das Hupkonzert zum Schweigen, begleitet vom Gelächter der Leute am Ufer.
Belz hatte nach Hause telefoniert, seine Freilassung gemeldet.
Als er wieder zur Brücke kam, bugsierte die Polizei grade die ersten französischen Wagen ans badische Ufer, Buhrufe und Proteste begleiteten die Aktion, die erst aufhörten, als auch der schwarze Dienst-Mercedes des Landratsamtes in der Reihe erschien. Landrat Mayberg stieg kopfschüttelnd aus dem Fond, die Männer und Frauen bestürmten ihn, aber er sagte nur: Nichts. Ziemlich leise.
Wie nichts? Was heißt das?
Lothar Mayberg hob beide Arme hoch, ließ sie herunterfallen: Nichts. Niemand weiß was. Und zuckte wenig staatsmännisch die Achseln.
Ja, und? Das gibts doch nicht! Spielen die Franzosen mit Ihnen Blindekuh? Verarschen tun die uns!
Der Funkreporter und der von der Badischen drängten sich an ihn, wollten Erklärungen, glücklos.
Dann gehn wir jetzt alle zu Fuß rüber und diskutieren mit ihnen! schrie Belz über die Köpfe. Das gab Feuer, Bewegung.
Einen Augenblick, Leute! schrie nun auch Bürgermeister Forster, und leise zum Landrat: Sie müssen etwas sagen. Das gerät sonst außer Kontrolle. Hier auf dem Platz sind mindestens dreihundert Kaiserstühler!
Lothar Mayberg sah ihn einen Augenblick an, dann über die Menge, entschloß sich, laut: Wo ist der Polizeilautsprecher? Ein Grüner wollte ihm eine Gasse freidrängen, da reichte ihm ein andrer schon das Handmegaphon, er trat in den Einstieg des Wagens, hielt sich etwas mühsam an der Tür fest, stürzte fast, als die Tür nachgab, wurde gestützt von seinem Adjutanten, bremste mit seinem Liebe Mitbürgerinnen und Bürger! grade noch die Richtung Brücke in Bewegung geratende Menge.
Ich muß Ihnen zu meinem Bedauern mitteilen, daß weder der Marckolsheimer Bürgermeister noch die französische Gendarmerie mir Auskunft über die Grenzschließung geben konnten. Am Grenzzoll wurde uns erklärt, daß die Sperre von der Präfektur in Straßburg direkt angeordnet wurde, zum Schutz des Eigentums der Bauplatzbesitzer. Wir haben gegen diese einmalige Diskriminierung der Bürger unseres Landkreises Protest erhoben. Man hat uns geantwortet, die Europabrücke in Breisach sei offen. Ich werde jetzt sofort den Regierungspräsidenten in Freiburg und Herrn Ministerpräsident Filbinger unterrichten. Alles weitere muß von dort aus veranlaßt werden. Ich kann Ihnen jetzt nur versichern: Ich bin empört! Aber Sie sehen – ich zügle mich. Und ich warne auch Sie noch einmal vor vielleicht verständlichen aber voreiligen Schritten. Mit einer Eskalation ist niemand gedient!
Seine Stimme hatte ihm wieder Mut zugesprochen, er winkte den Leuten zu, obwohl niemand geklatscht hatte, gab dem Polizisten das Megaphon und fuhr ohne weitere Anordnungen an den ihm etwas verdutzt nachsehenden Polizeikommissar mit seiner Mannschaft ab. Ratlosigkeit bei den Bürgerinitiativen.
Erasmus Schöfer: Die Kinder des Sisyfos
Roman-Tetralogie, Gesamtpreis 77 Euro
Dittrich Verlag (http://www.dittrich-verlag.de/)
Band 1: Ein Frühling irrer Hoffnung, 2001, 496 Seiten, 17,80 Euro
Band 2: Zwielicht, 2004, 600 Seiten, 19,80 Euro
Band 3: Sonnenflucht, 2005, 380 Seiten, 19,80 Euro
Band 4: Winterdämmerung, 2008, 632 Seiten, 24,80 Euro
Die NRhZ dankt dem Autor Erasmus Schöfer sowie dem Dittrich-Verlag für die Abdruckerlaubnis sowie der Redaktion von CONTRASTE, der Monatszeitung für Selbstorganisation, für die Bereitstellung der neun Auszüge.
Siehe auch:
Folge 1: 1968 – AktionsKomitee Kammerspiele München
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22817
Folge 2: Machen wir heute, was morgen erst schön wird
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22838
68er Köpfe
Portraits mit Statements zur 68er-Bewegung - Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln
Erasmus Schöfer: Ein Frühling irrer Hoffnung
http://www.arbeiterfotografie.com/af-koeln/68er/exponat-02.html
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