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Literatur
Aus der Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" – Folge 5
Der Tod hat uns angesprungen
Von Erasmus Schöfer

Am 4. Juni 1931 – vor 85 Jahren – ist er geboren. Seit 1962 ist er als freier Schriftsteller tätig. 1965 zieht er nach München, wo er sich gegen die Notstandsgesetze und später in der Ostermarschbewegung engagiert. 1969 ist er Mitgründer des "Werkkreises Literatur der Arbeitswelt". Zwischen 2001 und 2008 erscheint seine Sisyfos-Tetralogie, ein auf vier Bände angelegter Romanzyklus "Die Kinder des Sisyfos" (Ein Frühling irrer Hoffnung, 2001; Zwielicht, 2004; Sonnenflucht, 2005; Winterdämmerung, 2008) über die deutsche und europäische Geschichte zwischen 1968 und 1989, die die Erinnerung an eine Linke vergegenwärtigt und bewahrt, die zwar erhebliche Veränderungen in Gang setzte, ihr Ziel, ein humane sozialistische Gesellschaftsordnung, jedoch verfehlte. Die NRhZ bringt aus den vier, insgesamt mehr als 2000 Seiten umfassenden Bänden neun Auszüge – Folge 5 aus "Sonnenflucht". In Sonnenflucht, dem dritten Band der Tetralogie, erfährt Viktor Bliss vom gewaltsamen Tod einer griechischen Demonstrantin vor einer Athener Fabrik. Katina, die Genossin der getöteten Sotiria, erzählt dem selbst schwer verletzt isoliert im Krankenhaus liegenden Viktor, wie sie den Tod ihrer Freundin erlebt hat.


Erasmus Schöfer mit seiner Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" (Foto aus dem Arbeiterfotografie-Projekt 68er Köpfe)

    Gedicht

    Am 28. Juli 1980 wurde die Studentin
    Sotiria Vasilakopoulou beim Flugblatt-
    verteilen vor dem Tor der ETMA in Athen
    mit einem Firmenbus ermordet.

    Schwester Traumschwester Alptraumschwester
    Aus diesem grellen Licht bist du gesprungen
    in deinen Sarg die schimmerlose Nacht
    Da liegst du jetzt und bist gewesen was du bist
    Bei mir bist du nur noch
    bei uns
    nicht mehr bei dir
    Du bist herausgekommen aus dir zu uns

    Aufgeschnitten wurdest du gesprengt
    Das Ungeheuer wälzt sich auf dich zu
    Bruchteile von Blicken unbegrenzt
    zeitloser Schrecken vor dem Tod
    Das furchtbare Krachen des Universums
    mit dem dein Kopf zerbricht
    der Kosmos einstürzt
    In himmelhohen Flammen erlischt die eine Welt
    die ganze ungelebte Schönheit
    deines Lebens
    vernichtet

    Zerstört ist das Gefäß deiner
    Geheimnisse Vergangenheit Sehnsucht
    deiner Liebe Genossin
    Losgelassen deine Hoffnung
    zu uns
    Deine Gedanken fliegen rot in den Staub

    Deine Gedanken die roten Vögel
    flattern auf in unsre Köpfe
    nisten sich ein und wachsen
    zeigen sich als Schrift am Himmel
    Adlergedanken
    aus der Höhe
    über unsre Horizonte spähend
    Hoffnung in schwarzen Traueraugen
    Wolkenbreite Schwingen
    in die Zukunft
    Friedensadler

    aus dem Gedichtband "Zeit-Gedichte" von Erasmus Schöfer
    Damnitz-Verlag, München 1982

Zum Lesen fürs Studium ist einfach keine Zeit. Keine Ruhe. Wenn ich doch mal eine Stunde hab, les ich die Zeitungen – meinst du, ich könnte mich konzentriern? Als ob mir dauernd ein Sturm im Kopf bläst, so wirbeln meine Gedanken durcheinander. Am meisten denk ich vielleicht an dich, Vik. Weil du da so hilflos liegst. Liegst und kämpfst. Ohne dass einer dir wirklich helfen kann, außer den Ärzten. Und an Sotiria. Wie schnell das Leben weiterrennt. Heute hab ich zum ersten Mal nichts über sie in unsrer Zeitung gefunden. Gestern noch der Bericht über die Anfrage unsrer Abgeordneten im Parlament, die Karamanlis-Regierung will den Mord tatsächlich als einen Verkehrsunfall abtun. Was überhaupt alles in der bürgerlichen Presse an Verdrehungen über uns geschrieben wird. Ich denke manchmal, es ist ganz gleichgültig, was wir wirklich tun, also die Sozialisten in der Welt – die Realität ist das, was die bürgerlichen Kommentatoren über uns veröffentlichen. Und was sie verschweigen. Nicht die wirkliche Realität, aber die wirksame. Die dann gilt. Und eben dadurch doch wirklich wird.

Den Fahrer, diesen Charilos, haben sie freigelassen gegen eine Kaution von fünfzigtausend Drachmen! Ein Wochenlohn, lächerlich. Ich dachte, mir steht der Verstand still, vor Erbitterung, als ich das gelesen hab. Diesen Faschisten freigelassen! Hassgefühle bekomm ich da! Und dann sagen dir die Freunde, was hast du andres erwartet Katina – es ist die Regierung des Kapitals! Die wirklich Schuldigen, die den Mann losgeschickt haben, werden nie bestraft. Kostas, der! Hat bloß den Kopf geschüttelt, mit seinem unbegrenzten Überblick, als ich vor Wut angefangen hab zu heulen. Natürlich ist es klarer, weckt keine Illusionen, über die Gerechtigkeit unsrer Justiz. Aber ich will einfach nicht so denken Viktor! Ich kanns nicht! Ich will den Mörder bestraft sehn, der über ihren Kopf gefahren ist! Ist das nicht auch menschlich?

Entschuldige dass ich so emotional werde. Ja, ich weiß, es passt nicht zu Sotiria, solche Gefühle. Passt nicht zu dem, was ich dir von ihr erzählt habe. An den vietnamesischen Soldaten soll ich denken. Ach, jetzt hab ich richtig Herzklopfen. Dass einen bloße Gedanken so aus der Fassung bringen können, bloße Vorstellungen. Du würdest es nicht so nüchtern sehn wie Kostas, so politisch, nicht wahr? Obwohl du nichts von allem erlebt hast. Nicht einmal persönlich gekannt hast du sie, das vergesse ich manchmal fast. Darüber muss ich auch immer wieder nachdenken, wie es möglich ist, dass einer aus einem fremden Land hierherkommt und solche Fragen stellt wie du, nachforscht, mit dieser Einfühlung, dieser Nähe. Ich weiß fast nichts von dir. Außer dass du sehr traurig sein musst. Das hab ich gleich gesehn an deinen Augen, in der Redaktion, als wir uns gegenübergesessen haben. Vielleicht ist es diese Traurigkeit, die uns verbindet, mich und dich, und Sotiria unter der Erde. Obwohl ich eigentlich sonst nicht traurig bin, bestimmt nicht. Hab gar keinen Grund. Hatte keinen. Bei Sotiria war das schon anders. Hab ich dir ja erzählt, von ihrer Familie. Aber an dem Morgen ihres Todes war davon nichts zu spüren bei ihr.

Auf der Fahrt haben wir über die Situation vor der Fabrik gesprochen, keiner wusste was Genaues, ob sie alle mit Bussen raus- und reintransportiert werden, die Arbeiter, ob wir die stoppen könnten. Wir sind an der Ajas Annis ausgestiegen, du kennst die Haltestelle. Kostas hat uns schon erwartet, gab uns Instruktionen. Am Haupteingang war die Polizei, also würden die Busse aus den verschiednen Stadtteilen dort reinfahrn. Er gab uns die Schilder aus dem Wagen, und wir gingen die Ajas Annis entlang, hängten unterwegs die Schilder um. Ich sah sie zum ersten Mal, die Chemiefabrik des ETMA-Konzerns, das scheußliche graue Hauptgebäude. Am Haupteingang war das Gittertor aufgeschoben, aber der Schlagbaum geschlossen. Gleich dahinter der Polizeiwagen, direkt neben dem Pförtnerhaus.

Viertel vor zwei war es, als wir uns aufgestellt haben, auf beiden Seiten vom Tor. Wir haben gesehn, dass einer von den Zivilen in das Pförtnerhaus ging und telefonierte. Ich weiß noch genau, dass Sissu leise zu mir gesagt hat: Der holt sich Anweisungen von der Direktion, weil ich das seltsam fand, wie sie plötzlich flüsterte, trotz dem Verkehrslärm von der Straße, und sie hatte es gar nicht gemerkt und lachte darüber. Der Polizeioffizier ging dann zu Kosta, wahrscheinlich weil er unser Megafon trug. Es gab ein kleines Gerede, und das Ergebnis davon war, dass Kostas uns durchs Megafon zurief, wir müssten uns drüben auf der andern Straßenseite aufstelln, wegen Verkehrsgefährdung. Haben wir uns noch geärgert, dass er so schnell nachgegeben hat, aber sind doch rüber. Na gut, wir haben eben dort unsre Reihe gebildet. Waren irgendwie frustriert, man konnte uns kaum sehn vom Fabrikhof, dauernd die Lastzüge dazwischen, und zu Fuß kamen nur ganz wenige Arbeiter.

Kannst du dich an den kleinen Kiosk erinnern, gegenüber vom Eingang, halb in den Büschen? Da kauften grade zwei Arbeiterinnen Zigaretten, zu denen bin ich hin, hab meinen Spruch aufgesagt, von der Demonstration, die waren richtig verlegen, nicht feindlich, haben sich angeguckt und gekichert, und die Ältere hat auch das Flugblatt genommen und ganz nach unten in ihre Tasche gesteckt, im selben Augenblick, als ein Lastwagen die Sicht zum Tor verdeckt hat – also daran hab ich gemerkt, wie eingeschüchtert die warn, welches Angstklima herrschte in der Fabrik, hab das Sissu und Urania erzählt. Konnten aber nicht groß drüber nachdenken, weil plötzlich gerufen wurde: Achtung! Ein Bus! Wir dachten, sie kommen einzeln aus den verschiednen Stadtteilen. War sofort Hektik, zwei Polizisten rannten auf die Straße, versuchten, den Gegenverkehr zu stoppen, war schwierig für die, die Fahrer wollten weiter, da hielten die Busse schon vor uns, eine ganze Kolonne. Wir hin, Periklis hats gleich begriffen, die offnen Oberfenster, für ihn war das leicht, warf einen Packen Flugblätter rein. Wir versuchten es am zweiten und dritten, drin warn sie aufgestanden, schauten zu uns, fielen durcheinander, als die Fahrer Gas gaben, war sicher Absicht, und sind rüber über die freie Fahrbahn, einer dicht hinter dem andern, weg, vorbei, eine Sache von Minuten. Oder vielleicht bloß Sekunden. Kostas hat noch, glaubich, durchs Megafon geschrien, aber das ging unter.

War im Prinzip das gleiche Manöver, wie sie es jetzt wieder praktiziern, seit nicht mehr viele Demonstranten vor dem Tor sind. Wir warn natürlich überrascht, das ist ihnen gelungen, muss man zugeben, keiner hat damit gerechnet, dass sich die Busse vorher sammeln würden. War auch kurzsichtig von uns, wo der Rizospastis seit Tagen geschrieben hatte, dass vor den Betrieben für die große Demonstration der unabhängigen Gewerkschaften gegen Arbeitslosigkeit und Teuerung mobilisiert werden sollte. Wir hätten wissen müssen, dass die sich darauf einstelln. Die können doch lesen. Wir haben zwar mit einigem gerechnet, aber dass wir gut vorbereitet gewesen wärn, das kann man wirklich nicht behaupten.

Na war jetzt egal, ändern konnten wir sowieso nichts daran. Es gab nur einen Streit, ob wir stehnbleiben sollten wo wir warn oder rübergehn zum Tor, um wenigstens noch die zu erreichen, die zu Fuß – also Kostas hat uns gewarnt, er muss es gemerkt haben, dass die Chefs drin im Betrieb Angst hatten vor uns und Angst gefährlich macht, aber es hat keiner auf ihn gehört, ich auch nicht. Verstehst du, wir haben das für Legalismus gehalten, als Kostas uns bremsen wollte, sind einfach rüber, näher ran ans Tor. Müssen wir uns deshalb Vorwürfe machen? Solche Gedanken kommen einem schon – wenn wir – dann wäre – aber das sind so verzweifelte und auch sinnlose Überlegungen, die darf man wirklich nicht zulassen. Selbstzerstörerisch.

Also wir über die Straße rüber, vor den Schlagbaum. Da warn aber die Busse schon leer, die Arbeiter weg, wie verschluckt von den Fabrikgebäuden rechts und links. Von den paar Arbeitern zu Fuß hat keiner sich getraut, ein Flugblatt von uns zu nehmen, unter den Augen der Wächter hinter dem Schlagbaum. Dann um zwei, nach der Sirene, als die Frühschicht auf den Hof strömte, haben sie keinen zu Fuß durch das Tor gelassen. Wurden alle zu den Bussen geschickt. Saßen dann da drin. Türen zu, Fenster zu, in der prallen Sonne. Bestimmt zwanzig Minuten! Nach acht Stunden Arbeit! Eingesperrt, wirklich wie die Galeerensklaven.

Und wir vor dem Schlagbaum. So eine Spannung. Unsere Sprechköre haben die bestimmt nicht hören können. Ob sie nun auf uns wütend wären oder auf ihre Bosse, dass sie so lange warten mussten, darüber haben wir noch gesprochen, und dann hat Sissu zu mir gesagt, ich sollte auf die andre Straßenseite, in den Schatten, weil ich furchtbare Kopfschmerzen hatte, von der Hitze. Das waren ihre letzten Worte Viktor, da hat sie sich noch um mich gesorgt. Ja dann – dann ging plötzlich der Schlagbaum hoch, ich weiß nicht mehr – die Polizisten sind raus und der Polizeiwagen, mit Blaulicht, auf die Straße, und die Busse, der Lärm von den Motoren, kamen auf uns zu, wir mussten zur Seite springen, wie eine Panzerkolonne, zwei, drei waren schon vorbei, beim vierten riss drin einer ein Fenster auf, da bin ich mitgelaufen, hab versucht, Flugblätter reinzuwerfen, dadurch war ich weg von Sotiria, den einen Augenblick bloß, und hab den Fahrer von dem fünften gesehn, das war er, der Mörder, der drehte das Steuer nach rechts, dahin, wo sie stand, und war schon vorbei – und da lag sie Viktor, da lag sie am Boden – ich hab doch nichts begriffen – ich bin hingerannt, dachte, er hat sie angefahrn, komm, steh auf Sissu hab ich gesagt, dein weißes Kleid wird schmutzig, obwohl ich alles gesehn hab, das Blut lief aus ihrem Kopf und ihre Beine, die bewegten sich, als ob sie grad aufstehn wollte, und die Genossen um uns rum, Rettungswagen, das Wort hab ich gehört, und sah nur, wie ihr Blut in den Sand lief, immer größer wurde der See, hellrot, und ihr Gesicht war weg, weg, einfach weg, keine Augen mehr, nur noch die Nase, und was darin lag, in dem Blut, war ihr Leben, ein Stück von ihrem Leben, aus ihrem aufgeplatzten Schädel.

Viktor – es war so unsagbar schrecklich. Ich weiß nicht, ob ich es geschrien hab oder nur gedacht – wo ist der Mörder! Wahnsinnige Gedanken, sie sollten ihn holen, in den Staub werfen vor seinem Opfer, mit ihrem Blut sein Gesicht beschmiern, und zugleich noch wieder Hoffnung, verzweifelte Hoffnung, dass sie doch nicht tot wäre, gegen alle Vernunft, so ein Aufbäumen, dass es nicht wahr sein könnte, eben noch ihre Stimme in der Luft.

Die Genossen haben den Fahrer festgehalten. Sie sind auch in die andern Busse, die gestoppt wurden, sie wollten mich mitnehmen, wir müssten den Arbeitern jetzt erklären, was passiert war, aber ich konnte nicht, ich konnte das wirklich nicht, ich hab nur dagesessen, ihre Hand in meinen Händen, hab geweint, bis der Rettungswagen kam. Nun weißt du die Wahrheit auch über mich, wie schwach ich war. Nein, ich schäme mich nicht Vik. Der Tod hat uns angesprungen, so plötzlich.


Erasmus Schöfer: Die Kinder des Sisyfos




Roman-Tetralogie, Gesamtpreis 77 Euro
Dittrich Verlag (http://www.dittrich-verlag.de/)
Band 1: Ein Frühling irrer Hoffnung, 2001, 496 Seiten, 17,80 Euro
Band 2: Zwielicht, 2004, 600 Seiten, 19,80 Euro
Band 3: Sonnenflucht, 2005, 380 Seiten, 19,80 Euro
Band 4: Winterdämmerung, 2008, 632 Seiten, 24,80 Euro


Die NRhZ dankt dem Autor Erasmus Schöfer sowie dem Dittrich-Verlag für die Abdruckerlaubnis sowie der Redaktion von CONTRASTE, der Monatszeitung für Selbstorganisation, für die Bereitstellung der neun Auszüge.


Siehe auch:

Folge 1: 1968 – AktionsKomitee Kammerspiele München
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22817

Folge 2: Machen wir heute, was morgen erst schön wird
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22838

Folge 3: Die Brücke über den Rhein
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22850

Folge 4: Die Werkstatt hat Kopfschmerzen
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22871

68er Köpfe
Portraits mit Statements zur 68er-Bewegung - Ausstellung der Arbeiterfotografie Köln
Erasmus Schöfer: Ein Frühling irrer Hoffnung
http://www.arbeiterfotografie.com/af-koeln/68er/exponat-02.html

Online-Flyer Nr. 567  vom 22.06.2016

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