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Kultur und Wissen
Erzählt mir doch keine Märchen! – eine Schneller-Saga aus der Voreifel
Heimelig hinter Schloss und Riegel
Von Udo W. Hombach

„Traurig“ – „schlimm“ – „erbarmungswürdig“ – „haarsträubend“ – „furchtbare Zustände“ – Für die Kinder sei das Heim ein „Gefängnis“ gewesen. So ist über das Schneller-Heim in Vettelhoven am Rande der Eifel zu hören. Schläge oder nicht Schläge – das ist hier die Frage! Das vom Schneller-Trägerverein betriebene Syrische Waisenbaus in Jerusalem konnte seit dem Zweiten Weltkrieg nicht weiterarbeiten. Stattdessen gründete der Verein Kinderheime im Rheinland. Über die Pädagogik in einem dieser Heime, in Vettelhoven, gibt es unterschiedliche, zum Teil kritische Aussagen wie die eingangs aufgeführten. Damit und mit den Hintergründen des Heims befasst sich der Autor. In seinem Aufsatz "Ein Denkmal für Ludwig Schneller in Köln?" - veröffentlicht in der NRhZ vom 4. Mai 2016 - hat er über den Antisemitismus Ludwig Schnellers geschrieben.


Das Schloss von Vettelhoven im Gegenlicht (Foto © Udo W. Hombach)

2011, durch die Mosaiken am Schneller-Altar in Jerusalem, lernte ich das dortige Syrische Waisenhaus kennen; ich empfand eine große Hochachtung diesem Werk gegenüber. Auch heute noch sehe ich in ihm eine bedeutende, eine ethisch anspruchsvolle, die Gesellschaftskultur im damaligen Palästina fördernde Leistung – zunächst im Osmanischen Reich, dann im britischen Mandatsgebiet. Wie ich das auf einen Nenner bringe mit meinen neuen Recherche-Ergebnissen, weiß ich nicht. Im Frühjahr 2016 habe ich Ludwig Schnellers Antisemitismus entdeckt. Darüber hinaus musste ich realisieren, dass er insgesamt einem Typ von Männern entsprochen hatte, unter denen ich als Heranwachsender selbst mehr oder weniger gelitten habe. Mein glatt und glänzend poliertes Bild von Ludwig Schneller bekam Risse. Dann erfuhr ich Interna aus einem Schneller-Heim im Rheinland, in Vettelhoven. Noch einmal erlebte ich Enttäuschung: Ich hätte nicht erwartet, dass man über ein Heim in dieser großen Tradition kaum Besseres erzählen kann als über andere Heime aus der gleichen Zeit.

    „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“
    Ingeborg Bachmann

Ländliche Idylle

Die nordöstlichen Ausläufer der Eifel bilden eine liebliche Landschaft; leichte Hügel senken sich in Wellen vom Ahrgebirge in die Ebene des Rheintals hinab. Der Wind weht sanft über grüne Wiesen, saftige Pferdeweiden, einige dunkelbraune Äcker und die weiten Apfelplantagen vor Meckenheim. In einem der vielen Dörfer, die heute zur Gemeinde Grafschaft zusammengefasst sind, errichtete 1890 eine Adelsfamilie ein Herrenhaus, das die Leute im Dorf Schloss nennen. So stattlich sieht es auch aus, wenn man es von unten auf seiner Anhöhe stehen sieht. Umgeben ist es von einem Park, der mit großen Bäumen durchsetzt ist.

Direkt nebenan, unterhalb der Parklandschaft, liegt die sogenannte Burg, ein großer Komplex von Gebäuden, früher mal ein landwirtschaftliches Gut; das war der Gutshof, zu dem große Wälder und Ländereien gehörten. In einem diesem Häuser lebten die Knechte und Mägde, das Gesinde. Die Herrschaft wohnte natürlich früher auch in der Burg, „von adligem Rittervolk“ ist die Rede (10, S. 24).

Heiliges Vettelhoven

Links vor dem Eingang zum Park steht die neugotische Heilig-Kreuz-Kapelle, gebaut aus dunkelrotbraunen Backsteinen. Die „Feldbrandziegel“ waren in Vettelhoven selber hergestellt worden (10, S. 24). Die kleine Kirche ist „im Besitz eines kleinen Splitters des Kreuzes von Jesus. (…) Laurina [mit Jonathan auf heimatkundlicher Entdeckungsreise, über die in einem Buch der Grundschule der Oberen Grafschaft berichtet wird] ist ganz fasziniert von der Vorstellung, ein Stückchen von diesem Heiligtum hier in Vettelhoven vor Augen zu haben“ (10, S. 27). Auf welch wundersame Weise war wohl dieses heilige Holz von Golgatha hierher geflogen? Laurina würde wohl weit weniger staunen, wenn sie wüsste, dass es in der Welt so viele solcher hölzerner Reliquien gibt, dass sie zusammengenommen eine ganze Schiffsladung ergäben.

Köln kommt ins Spiel

„Vettelhoven gehörte als einziges Dorf der Oberen Grafschaft nie zur Grafschaft Neuenahr, sondern zum Erzbistum Köln“ (10, S. 29). „Hier haben über viele Jahrhunderte bedeutende Adelsfamilien gelebt, zum Beispiel die Metternichs. ‚Lothar von Metternich’ war ein hoher und mächtiger Mann der Kirche. Er ist hier in der Vettelhovener Burg geboren“ (10, S. 30).

Gutshof und Schloss waren nach dem Zweiten Weltkrieg heruntergewirtschaftet. 1948 wurden Schloss und Park von dem evangelischen Pfarrer Ludwig Schneller aus Köln erworben, der dort ein Waisenhaus einrichtete – aber nicht nur für Kinder ohne Eltern. Der Kauf geschah ###wohl unmittelbar nach der Währungsreform. 1948 endete die Amtszeit von Ludwig Schneller als Vorstandsvorsitzender des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem.

Auch dort war 1948 ein Jahr mit historisch bedeutenden Ereignissen: Die Engländer zogen sich aus Palästina zurück und überließen das Land den sich bekriegenden jüdischen und arabischen Terroristen. Der Staat Israel wurde gegründet, was für die Palästinenser eine Katastrophe war. Gelände und Gebäude des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem (Vorgänger des Heims in Vettelhoven), seit 1939 schon ein englisches Militärcamp, wurden israelische Kaserne.

„Kinderlandverschickung“

Zwei Menschen aus der Umgebung von Vettelhoven (s.u.: "meine persönlichen Quellen") erzählen mir einiges über das Kinderheim. Viele der Heimkinder wären aus kinderreichen Familien gekommen. (Nach den Erinnerungen aus meiner Kindheit in einem eher verschlafenen Eifelstädtchen galten solche Familien als asozial. Sie lebten häufig konzentriert in kleinen Wohnblocks, etwa in Häusern für sechs Familien, am Rande der sonstigen Ortsbesiedelung.) Bei Ehe- oder Erziehungsproblemen hätte das Jugendamt ganze Geschwisterreihen aus den Familien geholt und in das Heim im Schloss gesteckt. Man „schloss“ sie dort also ein: Diesen Kindern sei dann der Kontakt mit ihren Eltern verwehrt worden.

H. Warnecke schreibt darüber: „Die Nachkriegsjahre ließen es angesichts der vielen Familien, die oftmals unverschuldet in Schwierigkeiten geraten waren und deshalb mit den eigenen auffälligen oder verhaltensgestörten Kindern nicht mehr zurecht kamen, der Leitung des [Syrischen] Waisenhauses ratsam erscheinen, fernab von der Großstadt Köln in dörflicher Umgebung (…) für solche Kinder eine neue Lebensmöglichkeit zu eröffnen“ (3).

Natürlich bedurften nach den Verwerfungen durch den Krieg Hunderttausende von Kindern in vielen Ländern besonderer Betreuung und Fürsorge. Das 1946 in der Schweiz gegründete Pestalozzi-Kinderdorf (der Name verrät das pädagogische Konzept) war eine gelungene Antwort auf diese Notlage. Es bot Kindern aus mehreren Nationen ein Zuhause, auch in Einrichtungen außerhalb der Schweiz.

Die oben genannten Menschen berichten mir aber auch von nicht ehelichen Kindern aus sogenannten „Höheren Kreisen“, die nach Vettelhoven abgeschoben worden wären. Als Beispiel werden mir ein Vorname und ein Nachname mit „von“ genannt, also ein adliger Familienname. Bis August 1973 existierte dieses Schneller-Heim.

Heim(at) oder Gefängnis?

Als ich diese zwei Menschen nach ihren Erinnerungen an das Heim und die Kinder fragen, fallen spontan folgende Worte: „Es ist traurig.“ – Es war eine „schlimme Lage“. – Es war „erbarmungswürdig“. – Es waren „haarsträubende Verhältnisse“. – Es waren „furchtbare Zustände“. – Den Kindern „ging es schlecht“. – Die Kinder wirkten „gestört“ und „verängstigt“. – Die Kinder wären geschlagen worden. – Die Kinder wären nicht nach ihren Fähigkeiten gefördert worden; es sei eine Ausnahme geblieben, wenn ein Heimkind (der Vorname eines Kindes, ca. 1960 geboren, wurde mir genannt) aufs Gymnasium hätte gehen können. – Dies alles sei im Dorf „ein offenes Geheimnis“. Es scheint also im Schloss auch unheimelig zugegangen zu sein.

„Schwarze Pädagogik“

Der Begriff „Schwarze Pädagogik“ wurde 1977 von der Soziologin Katharina Rutschky geprägt. Dass ich ihm in Carola Kuhlmanns Buch „So erzieht man keinen Menschen!“ wiederbegegnete (s. u.), bestätigt meine eigene Fährte. Die Schweizer Tiefenpsychologin Alice Miller hatte sich auch schon mit den Auswirkungen einer solchen, heranwachsende Personen eher schädigenden als fördernden Erziehung beschäftigt.

Weiter mit den zwei o.g. Menschen: Der Leiter des Hauses sei „autoritär“ gewesen. Für die Kinder wäre das Heim ein „Gefängnis“ gewesen, aus dem sie abzuhauen versucht hätten. Wenn die Heimkinder mal einheimische Kinder im Dorf in deren Familie und Haus hätten besuchen können, wäre das eine wohltuende Abwechslung zu ihrem Alltag im Schloss gewesen: kleine Lichtblicke in der „Schwarzen Pädagogik“, der sie ansonsten wohl Tag für Tag (und ja sicher auch nachts) ausgesetzt waren. Die Mutter des Dorfschullehrers habe die Heimkinder am Wochenende auch mal ausgeführt. Solche Kontakte nach außen seien aber eher die Ausnahme gewesen. Den Führungsstil in Vettelhoven kann man demnach getrost repressiv nennen.

Wie war wohl die Pädagogik in Jerusalem gewesen? Nach R. Löffler kann man sie allgemein als patriarchalisch-autoritär bezeichnen (7, S. 285). Bezüglich der Sexualität war sie, nach Arno G. Krauss (11), jedenfalls auch repressiv (bestätigt durch R. Löffler in: 7, S. 264). Selbstbefriedigung oder wechselseitiges Berühren waren arg verpönt; sie wurden streng geahndet und bestraft. Andererseits hatte der Vater von Ludwig Schneller, Johann Ludwig genannt „Vater“ Schneller, ein großes Maß an Fürsorglichkeit praktiziert, indem er versuchte, jedes Kind einmal pro Woche persönlich zu sprechen.

Reich ins Heim oder reich im Heim?

Ludwig Schneller war schon 90 Jahre alt, als er das Anwesen in Vettelhoven kaufte. Er muss eine stattliche Menge an Geld zur Verfügung gehabt haben. Das Protokoll der „Sitzung des Vorstandes des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem“ von 4. Dezember 1946 nennt genaue Zahlen: „Der Vorstand des SyrW tritt in die Nachkriegsperiode ein mit folgendem Vermögens- und Kassenbestand: (...) Summa RM 1908200,22.“ Das sind fast zwei Milliarden Reichsmark! Auch wenn einige Wertpapiere als unsicher galten, blieben auf jeden Fall mindestens eine Milliarde und drei Millionen RM als fester Bestand (Landeskirchliches Archiv Stuttgart, K8, Nr. 8–9).

Unmittelbar nach Kriegsende war laut diesem Protokoll bereits in Godesberg bei Bonn „ein Waisenhaus für deutsche Kriegswaisen (...) ein schönes Haus“ (1946 mit 85 Kindern) gekauft worden. Die Oberin kam vom „Rheinisch-Westfälischen Diakonieverband“. Ludwig Schneller „bestimmte [sic], daß (…) vorerst nur für das neue Waisenhaus, nicht mehr für Jerusalem“ Spendengelder gesammelt werden sollten – und zwar steuerlicher Vorteile wegen. Außerdem galt Jerusalem als verloren. Im Leben von Ludwig Schneller war es schon oft um beträchtliche Summen gegangen. Neben dem Umgang mit dem Adel hatte er auch den mit dem Geldadel gepflegt (11). Die Investitionen in Godesberg und Vettelhoven dienten also guten Zwecken – und guten Geldanlagen.

Die zwei o.g. Menschen meinten mir gegenüber, der Leiter des Heims in Vettelhoven habe sogar [Betriebs-]Gewinne gemacht, auch vielleicht zum eigenen Vorteil. In Vettelhoven sollen Gaben auch in Form von Sachspenden angekommen sein, und zwar von jenseits des Atlantiks. Durch Kontakte mit der Amerikanischen Botschaft – Ludwig Schneller war bereits vor dem Ersten Weltkrieg zur Kontaktpflege für das Syrische Waisenhaus in die USA gereist – ergab es sich, ebenso wie die Care-Pakete für die deutsche Bevölkerung allgemein nach dem Krieg eine karitative Geste waren, dass auch im Kinderheim regelmäßig Präsente aus Bonn ankamen, besonders zu Weihnachten. Eines dieser Geschenke wäre mal ein Fernsehgerät gewesen, für die 1960er-Jahre noch eine besondere mediale Errungenschaft. Der Leiter soll das Gerät in seinen Privaträumen in der Mitteletage aufgestellt haben, wo nur sonntags auch mal die Heimkinder fernsehen durften.

Von Jerusalem nach Vettelhoven – oder: Der Geist des Geldes

Der Geist des Geldes, der früher für Waisenkinder im Morgenland geweht hatte, wehte nun für Waisenkinder im Rheinland. Anna Katterfeld beschreibt in ihrer Biographie des von ihr zur Ikone erhobenen Ludwig Schneller die Entstehung des Heims in Vettelhoven.

Im Zusammenhang mit den Geldern des Syrischen Waisenhauses formuliert sie, „dass vom Sommer 1946 an Liebesgabensendungen nach Deutschland erlaubt wurden. Da war es natürlich, dass der Mann, der so unendlich viel Liebe gesät hatte, nicht vergessen blieb. Es trafen Pakete aus Amerika, aus der Schweiz und noch ferneren Ländern ein. (…) Ein großer Teil der Gaben kam (…) auch den Waisenkindern in Vettelhausen [sic!] zugute, auf die er seine Liebe zu den Araberkindern mit übertragen hatte.“

Weiter führt sie aus: „Mit ein paar Strichen wollen wir die Vorgeschichte dieses Waisenhauses in Vettelhausen zeichnen. Als schwerer Druck lag auf Schneller die Verantwortung für die Gelder des Syrischen Waisenhauses, die in seiner Hand waren. Schon von 1946 an fingen die Opfer für das Syrische Waisenhaus wieder neu an zu fließen. Was sollte aus den Geldern werden? Es bestand Gefahr, dass sie von der Besatzungsmacht beschlagnahmt wurden. Da kam Schneller auf den Gedanken, dass es am sichersten wäre, sie in Grundbesitz anzulegen. In Vettelhausen in der Eifel fand sich ein leerstehender Herrensitz mit großem Wohnhaus. Das war wie geschaffen, um eine größere Anzahl von Waisenkindern aufzunehmen. Der Besitz wurde auf den Namen ,Schnellersches Waisenhaus‘ in die Grundbücher eingetragen und nach den Grundsätzen des Syrischen Waisenhauses für eine große Anzahl von Kriegswaisen Heim- und Ausbildungsstätte. (…) Der Zustrom der Waisenkinder ging mit erstaunlicher Schnelligkeit vor sich, sodass Schneller schon in dem ersten Jahr der Benutzung des Hauses schreiben musste: ‚Wir haben bereits zu wenig Raum für die vielen notleidenden Kinder.‘ Die Oberin erzählte später, dass er (…) sein letztes Werk noch einmal selbst aufsuchen konnte. Bis ins tiefste Herz war er erfreut von dem Glück der dort so liebevoll untergebrachten fröhlichen Kinder. Nun war er wieder ein Vater der Waisen, und das Jesuswort galt ihm erneut: ‚Wer ein solches Kind aufnimmt in Meinem Namen, der nimmt Mich auf‘“ (1, S. 164).

Christliche Schulprobleme

Bezüglich der Beschulung der Heimkinder ergaben sich große Probleme. Das Dorf war katholisch und die Heimkinder evangelisch. Die Crux dabei war, dass es im CDU-regierten Rheinland-Pfalz nur streng konfessionell getrennte Volksschulen geben durfte. Ich erinnere mich an einen Ort im Hunsrück, in dem die katholische und die evangelische Volksschule sich einen Schulhof miteinander teilten. Die Kinder hatten Anweisung, nicht gemeinsam und miteinander zu spielen. Man fand in Vettelhoven aber zunächst eine Übergangslösung, indem man in der örtlichen Dorfschule die katholischen und die evangelischen Kinder im Schichtbetrieb jeweils vormittags oder nachmittags unterrichtete.

Eine evangelische „Sonderschule“

Die Probleme überforderten jedoch die organisatorischen und personellen Möglichkeiten für einen geordneten Unterrichtsalltag. Pädagogisch wurden die Probleme dadurch verschärft, dass es im Heim um „durch ihre besonderen Lebensläufe belastete Kinder“ ging (3). Aus einem Bericht des Schulrats: „Die Klasse ist verlottert. Die Kinder prügeln sich während des Unterrichts, toben über Tische, Bänke und Fensterbänke, rempeln den Lehrer auf dem Schulhof an und knipsen ihm die Asche von der Zigarette. Täglich verspäten sich bis zu einem Dutzend Kinder beim Unterrichtsbeginn, Schulaufgaben werden nur von einem halben Dutzend Kinder angefertigt. Tagelang liegen Schulranzen unter den Büschen im Park des Heims.“ Außerdem sei der Schulrat der Meinung, dass sechzig Prozent der Kinder hilfsschulbedürftig seien (3).

1952 entsteht eine eigene „Heimvolksschule“ im Schloss. In dieser „Heimschule (…) gab es keine Wandtafel, kein Pult für den Lehrer, wie es damals in jeder Schule üblich war, keinen Schulschrank und auch keine Lehrmittel für die Kinder. Alle Jungen und Mädchen saßen an viel zu hohen Tischen auf ebenfalls zu hohen Stühlen. (…) Als dann von der katholischen Volksschule eine bereits ausrangierte Tafel in die ’Heimschule’ gebracht wurde, konnte wenigstens damit einigermaßen unterrichtet werden“ (3). Im Laufe des Jahres richtete „das Kreisschulamt (…) für die Kinder des Schneller’schen Kinderheims eine Hilfsschulklasse ein“ (3). Im gleichen Jahr wurde auch „die Trägerschaft (…) geklärt. Nach langen Verhandlungen erklärte sich das Schneller’sche Waisenhaus in Köln bereit, der Gründung einer privaten evangelischen Heimvolksschule zuzustimmen“ (3). In den 1960er-Jahren führte Rheinland-Pfalz die „Christliche Gemeinschaftsschule“ ein, was als großer Fortschritt in der Bildungspolitik des Landes gefeiert wurde.

Schule und Schloss ohne Schläge?

H. Warnecke (3) erwähnt das letzte Lehrer-Ehepaar in der Heimschule, Giseltrud und Wilfried Kaelicke. Am 28. April telefoniere ich mit Frau Kaelicke und am 29. ruft sie an, um noch einmal zu sprechen.

Sie war bis zuletzt die Lehrerin im Schloss als Nachfolgerin ihres Mannes, der 1965 dorthin gekommen war. Das Paar lebe mit Erfolg eine gemischtkonfessionelle Ehe. Frau K. betont, dass sie auch bei ihrer Arbeit in Vettelhoven stets dem Gedanken der Ökumene gefolgt sei. Frau K. wirkt sehr vital und die Schilderung ihrer Erinnerungen an die Zeit in Vettelhoven ist lebhaft.

Ich erwähne ihr gegenüber ohne Namensnennung, dass ich gehört habe, Kinder im Heim seien auch geschlagen worden. Sie entgegnet, sie und ihr Mann könnten sich das überhaupt nicht vorstellen. Im Gegenteil: Frau K. zeichnet ein ungemein positives und warmherziges Bild von der Atmosphäre und den Menschen im Schloss. Der Leiter sei zwar ein „Patriarch“ gewesen, doch seine Frau eine „liebenswerte“ Person. Hinweise auf „körperliche Züchtigung“ hätte sie nie bekommen oder wahrgenommen.

In ihrem Unterricht habe sie keine „körperlichen Sanktionen“ verhängt; sie hätte ja sogar in ihrer Examensarbeit über das Thema geschrieben. Mit den Schülerinnen und Schülern sei sie aufgrund ihrer pädagogisch engagierten und zupackenden Einstellung gut zurechtgekommen. Die Kinder im Schloss seien zu ihrer Zeit im schulischen Rahmen nicht mehr geschlagen worden. Über die jüngeren Kinder im Heim, also die noch nicht schulpflichtigen, und den Umgang mit ihnen könne sie eigentlich nichts sagen.

Der schwierige Werdegang der Schule, den H. Warnecke (3) beschreibt, habe sich lange vor ihrer Zeit ereignet. Die wesentlichen Ursachen für diese Schulprobleme sehe sie in den Spannungen zwischen der katholischen Mehrheitsbevölkerung und den mit dem Heimbetrieb ins Dorf gelangten vielen evangelischen Kindern; die Leute im Ort hätten die Evangelischen nicht gewollt. Die Dorfbewohner wären anfangs so aufgebracht gewesen, dass es in diesem Zusammenhang vielleicht zu unschönen Ereignissen gekommen sein könnte – nicht aber in Heim und Schloss. Schließlich hätten zu einem bestimmten Zeitpunkt vierzig katholischen Schülerinnen und Schülern siebenundsechzig evangelische gegenübergestanden. Mitte der 1950er-Jahre atmeten etwa einhundert Kinder die Luft im Heim (6, S. 82).

Landadel nördlich der Ahr

Jonathan und Laurina dürfen nach dem Besuch der Kapelle, in der sie den Splitter vom Kreuz Jesu bewundert hatten (s. o.) nun auch mit der ganzen Schulklasse das Schloss besichtigen: „Von Prinzessinnenträumen und einem Kaiser in Berlin“ ist die Schlossführung überschrieben (10, S. 32). Das Schloss war 1890 das Hochzeitsgeschenk des Brautvaters, als seine Tochter Anna Charlotte von Bemberg-Flamersheim den Guido de Weerth von Vettelhoven heiratete. Die Familie de Weerth hatte „kurz vorher das stattliche Hofgut nebenan gekauft. Dort war also die Landwirtschaft, und in diesem schmucken Schlösschen haben sie gewohnt. Der Enkel des damaligen Schlossherrn (…) lebt auch heute noch auf dem Hof. Mittlerweile ist er selbst längst Großvater, aber er hat seine Kindheit hier im Schloss verbracht. Seitdem ist viel passiert mit dem Schloss, aber er kann sich noch gut erinnern und weiß noch einige Geschichten zu erzählen“ (10, S. 33). Ein ehemaliges Kinderheim wird den heutigen Kindern aber vorenthalten: 25 Jahre lang, von 1948 bis 1973, war’s aber doch im Schloss beheimatet.

Schlossführung

Stattdessen betreten die Kinder nach der Eingangshalle „den großen, hellen Festsaal mit goldenen Spiegeln und kunstvollen Kronleuchtern“ (10, S. 34). Danach den „Salon der Anna Charlotte“, den „Damensalon“, das „Empfangszimmer der Schlossherrin“. [Sprecherrolle unklar:] „Hier würdest du gemütlich sitzen, vielleicht mit einer Stickerei beschäftigt oder plaudernd mit deinen Freundinnen. Das Hausmädchen würde euch Tee und süßes Konfekt servieren“ (10, S. 35). Im „Herrenzimmer“ kommt man auf die Kaiserzeit zu sprechen. „In Deutschland regierte ein Kaiser, und es gab seitdem zwei große Kriege“ (10, S. 36).

In welchem Raum hatte wohl früher der Schulunterricht stattgefunden? Im gleichen Raum fanden sonntags Gottesdienste statt. H. Warnecke zitiert den damaligen Pfarrer aus Bad Neuenahr, der 1993 schrieb: „Für die Hausgemeinde und die Evangelischen der Umgebung, vor allem die in der Grafschaft zerstreuten Flüchtlinge, wird der Gottesdienst im ,Schloss‘ zum Sammel- und Mittelpunkt“ (3).

„Holt doch den Kaiser wieder!“

So betitelte Ludwig Schneller 1933 eine seiner Schriften. Für die Grundschulkinder wird die Kaiserzeit so zusammengefasst:

„Die Wilhelminische Zeit: Kaiser Wilhelm II. (sprich: Der Zweite) war 30 Jahre lang Kaiser von Deutschland (1888–1918). Man nennt die Jahre seiner Regierung die ,Wilhelminische Zeit‘. Das Vettelhovener Schlösschen ist typisch für diese Zeit. Die Art, wie es gebaut ist, erzählt uns einiges darüber, wie die Menschen lebten und was für sie wichtig war. Der Deutsche Kaiser war nicht bescheiden. Er nahm sich und sein Land sehr wichtig. Man wollte der Welt zeigen: ,Wir Deutschen sind groß und mächtig!‘ Deshalb lebten die Menschen, die es sich leisten konnten, das waren damals die adeligen Familien, gerne prunkvoll, und zeigten das auch nach außen“ (10, S. 36).

Wie der Herr, so’s Gescherr

War es für mich am 13. März noch erstaunlich, im Dorf auf eine „Kaiserhalle“ zu stoßen (sie liegt gleich unterhalb der Burg an der Dorfstraße und ist, wie die Kapelle, aus den dunkelrotbraunen Vettelhovener Feldbrandziegeln gebaut), weicht diese Überraschung nach der Lektüre dieser Kompaktgeschichte der Kaiserzeit in „Jonathan und Laurina entdecken die Obere Grafschaft“. „Kaiserhalle“ steht in großen, schwarzen Lettern in der für Bahnhöfe aus der Zeit Wilhelms II. typischen Druckschrift (Fraktur) auf einem weißen Emaille-Schild.

Der alte Briefkasten am Tor zum Schlosspark ist aus schwarzem Gusseisen. Seine Front ziert ein nach rechts reitender Postillion, der in sein Signalhorn bläst. Der Briefkasten ist oben von einer Krone gekrönt. Der neue Briefkasten nennt die heutigen Schlossbewohner und eine Firma auf dem Burggelände, deren englischsprachiger Name sich auf den Kaiser bezieht.

Wieso fällt mir bei so häufiger Anspielung auf den letzten deutschen Kaiser hier im dörflichen Landleben ein, was Wilhelm lecker war und was er am liebsten aß: „,Seine Majestät‘ aß [sic!] am liebsten – Kartoffelsuppe! (…) und hinterher einen Eierkuchen – mit Apfelmus! (…) Der letzte Deutsche Kaiser war ein Mensch wie jeder andere“ (2, S. 24).

Was wohl bekamen die Kinder damals im Heim zu essen? Ich hoffe doch, wenigstens „Grafschafter Goldsaft“ als Brotaufstrich, den Zuckerrübensirup direkt aus der Region.


Die Kaiserhalle in Vettelhofen, am 13. März 2016 das örtliche Wahllokal. (Foto © Udo W. Hombach)

Lange Schatten

Immer noch scheint ein Reichsadler in den linden Lüften über Vettelhoven seine Kreise zu ziehen. Ob er sich manchmal auch heute noch bis auf oder gar in die Köpfe der Menschen hinabschwingt?!

Ludwig hatte das Heim ins Leben gerufen. Aber schon bald wird wohl sein Neffe Ernst dafür verantwortlich gewesen sein. Denn der war ab 1948 als Mitglied des Kuratoriums in der Heimatverwaltung des Schneller-Vereins in Köln, auch als dessen Vorsitzender.

Ernst und sein Bruder Hermann hatten in den 1930er-Jahren das Syrische Waisenhaus in Jerusalem geleitet. Am 1. Februar 1934 traten sie der NSDAP bei. Vor allem Ernst wird eine aktive Rolle in der NSDAP Palästinas bescheinigt (4, S. 84). Das „Criminal Investigation Department“ (C.I.D.) hätte die Familie wegen ihrer engen Verbindung zur Nazi-Partei beobachtet und von 1936 bis 1939 deren Telefone abgehört (4, S. 84). Nach Unterlagen des C.I.D. soll das Syrische Waisenhaus versucht haben, an Waffen aus Deutschland heranzukommen, in der Absicht, Araber in deren Gebrauch einzuweisen (4, S. 84). Heidemarie Wawrzyn beruft sich dabei auf die Veröffentlichung von Ralf Balke: „Hakenkreuz im Heiligen Land – Die NSDAP-Landesgruppe in Palästina“, Erfurt 2001.

Hermann Schneller wurde im Krieg von den Briten nach Australien deportiert. Dort internierte Deutsche, die nazikritisch gewesen waren, hatten eine schwere Zeit im Lager: „Theodor Fast, a teacher, for example, was not well-liked for that reason“ (8, S. 106). Nach Hitlers Tod am 6. Mai 1945 versammelten sich dort Internierte zu einem Gedächtnisgottesdienst. H. Schneller predigte über Joh.15,13: „Greater love has no man than this that a man lay down his life for his friends.“ (Eine größere Liebe hat niemand als die, dass er sein Leben hingibt für seine Freunde.) (8, S. 106). H. Wawrzyn zeigt in ihrem neuen Buch „Zuflucht unterm Hakenkreuz. Deutsche in Palästina 1939-1950“, Norderstedt 2014, auf, „dass die Nationalsozialisten unter den Palästinadeutschen auch in den britischen Internierungscamps und anschließend ihrer Ideologie treu blieben“ (Zitat aus der Rezension dieses Buchs von Uwe Gräbe im Schneller-Magazin 2/2016, S. 30).

Ernst Schneller lebte nach seiner palästina-deutschen Vergangenheit in Köln-Dellbrück, wo er auch Presbyter wurde. Er hatte zudem wahrscheinlich die Aufsicht über die anderen Schneller-Einrichtungen im Rheinland, mindestens über das Lehrlingsheim in Köln-Dellbrück. Anfang der 1960er-Jahre wechselte er zur neuen Schneller-Schule in Amman, Jordanien.

1937 war er Reserveoffizier geworden. Von 1940 bis 1943 arbeitete er bei der Organisation Todt in Metz. Diese paramilitärische Bautruppe, die Bauorganisation für militärische Anlagen der Wehrmacht, errichtete zum Beispiel den Westwall.

Schon in Jerusalem waren Ernst und sein Bruder Hermann nicht glücklich gewesen, wenn neue Mitarbeiter aus Deutschland ins Syrische Waisenhaus kamen, die theologisch, sozialpolitisch und pädagogisch fortschrittliche Ideen mitbrachten. Der Begriff Gewerkschaft war den Brüdern wie auch deren Onkel Ludwig suspekt.

Welcher Geist wehte wohl im Nachkriegsdeutschland in den Schneller-Einrichtungen im Rheinland? Das Kinderheim im oberbergischen Nümbrecht bestand noch bis Anfang der 1990er-Jahre (9, S. 127). Die Kinder aus dem Heim in Vettelhoven kamen nach dessen Schließung nach Nümbrecht (das nach G. Kaelicke das „Mutterhaus“ gewesen war). Der Aktenbestand für dieses Heim endet erst 1996 (Landeskirchliches Archiv Stuttgart, K8).

Als der Verein für die Schneller-Schulen Anfang der 1970er-Jahre von Köln-Dellbrück nach Stuttgart ging, wurden Akten aus der NS-Zeit entsorgt (7, S. 33). Ob die Unterlagen über die Schneller-Heime im Rheinland wohl alle mit umzogen? Immerhin könnten sie die jahrzehntelange Geschichte mehrerer rheinischer Einrichtungen in der Nachfolge des Syrischen Waisenhauses in Jerusalem erzählen. Nach 80 Jahren Schneller-Pädagogik in Palästina folgten fast 50 Jahre Schneller-Pädagogik im Rheinland: Godesberg, Vettelhoven, Nümbrecht, Köln-Dellbrück.

Meine persönlichen Quellen

Arg- und ahnungslos fuhr ich am 13. März nach Vettelhoven, nur wissend, was ich durch A. Katterfeld (1) wusste. Ich hielt mit meinem Auto vor der „Kaiserhalle“, an dem Sonntag das Wahllokal. Vier Frauen aus dem Dorf, die gerade an der Landtagswahl teilgenommen hatten, sprach ich an. Sie erzählten mir bereitwillig, was sie über die Geschichte des Schlosses wussten, vor allem von den vielen Besitzerwechseln und Nutzungsvarianten. Sie gaben mir die Telefonnummer von jemandem, der mir mehr über die Zeit des Kinderheims mitteilen könne. Am Montag, den 14. März, telefonierte ich mit zwei Personen, die unter dieser Nummer erreichbar sind; eine von ihnen war Heimkind gewesen. Sie erzählten mit einer mich überraschenden Offenheit. Es kam mir vor, als wären diese Menschen froh, darüber reden zu können. Man nannte mir auch den Namen einer früheren Mitarbeiterin im Heim, die sicher auch sehr viel wüsste. Diese Person wollte sich aber am 15. März, als ich sie anrief, nicht mehr äußern. Noch jemand im Dorf, auch ein früheres Waisenkind, den ich brieflich anfragte, weil als wissend genannt worden, antwortete leider nicht. Über diese Person hätte ich ein „Opfer“ kontaktieren können.

Die Suche nach einer weiteren Person, die mir genannt worden war und die sogar über das Kinderheim schon geschrieben und veröffentlich haben soll, verlief folgendermaßen. Einen erwerbbaren Titel dieser Schrift fand ich im Buchhandel nicht. Auch in der Universitätsbibliothek Köln blieb meine Suche erfolglos. Ihre im Internet genannte Telefonnummer funktionierte nicht. Mehrere Personen gleichen Nachnamens, die ich anrief, kannten nicht die mit dem gesuchten Vornamen. Der Brief, den ich an ihre Adresse schickte, kam als unzustellbar zurück, obwohl ich ihren Namen auf dem Klingelschild selber gesehen hatte (übrigens in Frakturschrift wie auch noch bei anderen Klingeln neben der Haustür). Bei einem Klingelversuch geschah Merkwürdiges, was ich hier aber nicht weiter schildern möchte. Es bleiben also Fragen offen – hier und überhaupt. Denn: Wer weiß wohl wirklich, was wann wie wo wa(h)r ...

„So erzieht man keinen Menschen!“

Nach Abschluss des vorangegangenen Textes konnte ich das gleichnamige Buch von C. Kuhlmann (6) einsehen. Dessen Lektüre bestätigt die von mir vermutete „Schwarze Pädagogik“ in Vettelhoven und in anderen Heimen während der 1950er- und 1960er-Jahre. Eine von der Autorin interviewte Frau „war von 1956 bis 1959 in einem evangelischen Kinderheim (…) das von einem Hauselternpaar (…) geführt wurde. (…) Die drei Jahre, die sie im Heim verbrachte, seien vom ‚Allerfeinsten‘ gewesen, ‚hammerhart‘ und mit viel Prügel (...). Der Lehrer der Heimschule sei sehr gewalttätig gewesen und die Erzieherinnen hätten auch oft geschlagen (...) Die Dorfbewohner hätten die Heimkinder damals behandelt, wie das ‚letzte asoziale Zeug‘“ (6, S. 63f.).

Diese Zeugin wird von C. Kuhlmann zwar nur indirekt, doch zutreffend dem Heim in Vettelhoven zugeordnet (6, S. 39). Vor allem eines ihrer Worte, nämlich die Verwendung des Adjektivs „hammerhart“, weist auf Vettelhoven hin. Hier hat sie (un)absichtlich den Namen des damaligen Heimleiters eingebaut. Dieser Name war mir bereits von den o.g. zwei Menschen am Telefon genannt worden.

Eine andere Zeugin ist ebenfalls Kind in Vettelhoven gewesen: „An das Waisenhaus hat sie wenig gute und viele schlechte Erinnerungen. Vor allem fand und findet sie die Strafen, die dort verhängt wurden, sehr unangemessen“ (6, S. 82). „Zu den schlimmsten Erinnerungen (...) gehört die Strafe einer Erzieherin. Weil sie am Abend im Bett über einen harmlosen Witz gelacht hätte, musste sie einmal die ganze Nacht auf dem Flur stehen“ (6, S. 84). „Das sei definitiv unmenschlich gewesen und habe bestimmt NICHT dem Ziel gedient, einen Menschen aus ihr zu machen“ (6, S. 10).

Ein wörtliches Zitat dieser Frau, die als 12-Jährige in die Heimerziehung nach Vettelhoven kam, gab dem Buch von C. Kuhlmann den Titel: „So erzieht man keinen Menschen!“. Gefragt nach den damaligen Erziehungszielen im Heim, antwortet sie, dass sie diese „aus den Strafen, die sie zu erleiden hatte, nicht herauslesen“ hätte können (6, S. 10).

Die Heime damals waren „eine Welt für sich: geschlossene Türen nach außen“ (6, S. 123). Die Zeugin aus Vettelhoven bestätigt Aussagen der zwei von mir o. g. Menschen: „Mit den Dorfkindern hatte sie kaum Kontakt, nicht, weil die Dorfkinder das nicht wollten, sondern weil die Eltern damit nicht einverstanden, waren. Manchmal seien auch Kinder weggelaufen, die seien danach meist in ein Erziehungsheim gekommen. (In Grafschaft-Eckendorf gab es ein „Heim für schwer Erziehbare“, so der frühere Inhaber eines Gartenbaubetriebs in Grafschaft-Bölingen, bei dem Jungen aus Vettelhoven nach ihrer Schulzeit in die Lehre gegangen waren, in einem Telefonat im März). „Es habe aber trotzdem kein Kind gegeben, das nicht wenigstens einmal mit dem Gedanken gespielt habe, abzuhauen“ (6, S. 83).

Eine Zeugin „berichtet von Prügelszenen in der Schule des Heimes, wo sie regelmäßig ‘gezüchtigt’ worden seien“ (6, S. 152). (Diese Aussage bezieht sich auf die zweite Hälfte der 1950er-Jahre.) Geradezu grausam mutet an, was C. Kuhlmann über den „Umgang mit dem Körper“ (6, S. 125) berichtet. – Das betraf „Körperpflege und Hygiene“ (6, S. 125) allgemein, aber auch mal die grob fahrlässige Nichtbeachtung einer Blinddarmentzündung eines Mädchens, die fast zum Tode des Kindes geführt hätte (6, S. 125f.). „Auch die Tabuisierung der Sexualität und aller damit verbundenen körperlichen Vorgänge gehört zur Missachtung der körperlichen [und seelischen] Bedürfnisse von Kindern“ (6, S. 126). Dies betraf vor allem die Mädchen, wenn ihre Regelblutung einsetzte; mit ihnen wurde erniedrigend umgegangen, weil der sich entwickelnde weibliche Körper „auf Geringschätzung oder auch direkte Ablehnung“ stieß (6, S. 126). „In den Heimen für heranwachsende Jungen wurde mit dem sich entwickelnden männlichen Körper anders umgegangen. Dies drückte sich dort offenbar in einem sexualisierten Verhalten der Jungen untereinander aus und in Übergriffen, vor denen die Jungen nicht geschützt wurden und die auch nicht thematisiert wurden“ (6, S. 126f.).

Meine am Ende des Kapitels „Wie der Herr, so’s Gescherr“ hypothetisch gestellte Frage nach der Verpflegung der Kinder hatte ich eigentlich eher ironisch gemeint. Doch scheint sie nach C. Kuhlmann durchaus berechtigt zu sein. Eine Diakonisse (Schwester) berichtet aus einem Erziehungsheim für Mädchen, in dem sie nach 1965 gearbeitet hatte, wie sie sich „beim Essen von den betreuten Kindern und Jugendlichen, abzugrenzen“ versuchten (6, S. 133): „Zum Frühstück, das gemeinsam eingenommen wurde, gab es dann die berühmte Schwesternbutter, d. h. die Mädchen aßen Margarine und wir bekamen Butter. Und das Brot wurde auch gesondert geliefert, das war dann frischeres Brot wahrscheinlich, anders geschnitten. (...). Es würde ins System passen, dass wir auch Wurst bekamen und die Mädchen Marmelade!“ (6, S. 133f.). Dies ist allerdings nur eine harmlose Anekdote im Vergleich zu anderen Mitteilungen zum Thema Nahrungsaufnahme in Heimen (6, S. 143).

C. Kuhlmann versucht in ihren letzten zwei Buchkapiteln eine nach Ausgewogenheit strebende Beurteilung der damaligen Heimerziehung im Zusammenhang mit der heute „öffentlichen Debatte von Entschuldigungen und Entschädigungen“ (6, S. 189). „... für die meisten der hier befragten ehemaligen Kinder und Jugendlichen blieben die (...) Heime in ihren lebenslangen Erinnerungen Orte der Lieblosigkeit“ (6, S. 193). Doch warnt sie vor Pauschalverurteilungen. In ihren Interviews (...) „ist erstens deutlich geworden, dass es große Unterschiede zwischen verschiedenen Heimen gab. Es gab offenbar Heime, die sich nichts vorzuwerfen brauchen und andere (...), in denen es besonders grausam zuging. (...) Zum zweiten gibt es offenbar auch eine Gruppe von ehemaligen Kindern und Jugendlichen aus Heimen, die keine schlechten Erfahrungen gemacht haben, auch wenn dies vermutlich nicht die Mehrheit ist“ (6, S. 189).

„Schläge im Namen des Herrn“

So nennt Peter Wensierski seine „verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“ (Untertitel). Mit „Knute und Halleluja“ betitelt der Autor den Bericht eines Zeugen (5, S. 44). „In kirchlichen wie staatlichen Heimen wurden über eine halbe Million Kinder jahrelang unter heute unvorstellbaren Bedingungen gedemütigt, geschlagen, ausgebeutet und eingesperrt“ (5, Rückseite Cover). „Viele litten unter schlecht ausgebildeten, unbarmherzigen Erziehern, die Idealen von Zucht und Ordnung anhingen und die Kinder seelisch und körperlich misshandelten. Erst Ende der Sechzigerjahre zeichnete sich ein Wandel in der Heimerziehung ab. Die späteren RAF-Terroristen Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin, die 1969 die ‚Heimkampagne‘ auslösten, gaben mit vielen Mitstreitern den entscheidenden Anstoß für Reformen“ (5, S. 2). Eine nennenswerte öffentliche Diskussion über die „skandalösen Zustände in deutschen Erziehungsheimen in den fünfziger und sechziger Jahren“ begann erst im Mai 2003 nach einem Artikel im SPIEGEL (5, S. 227).

C. Kuhlmanns und P. Wensierskis Veröffentlichungen ergänzen und bestätigen sich. Das wenige, was P. Wensierski am Schluss seines Buchs an Positivem erwähnen kann, kommt aus Irland: Die katholische Kirche ist bereit, sich an den Geldern zu beteiligen, die der irische Staat den „misshandelten und missbrauchten ehemaligen Zöglingen“ (5, S. 244) in Irland als Entschädigung zukommen lassen will; bis 2005 hätten sich dort fast 15000 Betroffene gemeldet.

C. Kuhlmann verweist über die materielle Entschädigung hinaus auf Chancen persönlicher Verarbeitung der Heim-Vergangenheit im Leben Betroffener. Einen hilfreichen Impuls für eine biografisch-therapeutische Bewältigung der Heimerfahrungen sieht sie in Ben Furmans Buch „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“ (6, S. 187). Für das Individuum scheint mit diesem Versprechen ein Schimmer von Hoffnung aufzuleuchten, C. Kuhlmann nimmt an, dass viele unter Hospitalismusschäden leidende ehemalige Heimkinder positive Beziehungserfahrungen „nachholen konnten und nachgeholt haben“ (6, S. 188).

Gesellschaftsgeschichtlich gesehen stellt sich die Frage, ob Heime, wie sie C. Kuhlmann und P. Wensierski beschreiben, nicht eigentlich Relikte der Vergangenheit sind. Foucault sieht die Hoch-Zeit der Disziplinargesellschaften zwar vor 1900; doch gebiert das 20. Jahrhundert vorher unvorstellbare Steigerungen. Deren Gipfel sind Konzentrationslager und staatlich organisiere Todesmaschinerien für ganze Menschenmassen. Die hauptsächlichen geschlossenen Milieus im Leben der meisten bleiben jedoch: Familie, Schule, Kaserne, Büro und Fabrik; manchmal kommen (geschlossene) Psychatrie oder gar Gefängnis hinzu. Letzteres ist und bleibt ja das Paradigma der Einschließung. Heime für Heranwachsende scheinen dem Einschließungspostulat im Verlauf des 20. Jahrhunderts noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg gefolgt zu sein: mit ihren Räumlichkeiten fast ohne Freiräume – aber voller strenger Disziplinargewalt. Dagegen hilft auch ein geräumiges „Schloss mit einem riesengroßen Park und einem Teich“ nicht, und wenn es auch „von der Aufmachung her phantastisch“ gewesen sei (6, S. 82). So beschreibt eine Zeugin von C. Kuhlmann das Anwesen in Vettelhoven.

Selbst das Heilige Land war keine Insel der Seligen. Auch hier, in einer renommierten evangelischen pädagogischen Einrichtung, rutschte der Schwester B. gerne mal die Hand aus. Von der Härte dieser Erzieherin erzählt mir eine Zeugin, die selbst lange in der Gegend arbeitete. Sie beruft sich auf den Bericht einer palästinensischen Schriftstellerin, die an dieser Schule Abitur machte. Ob die Kinder in diesem Fall, bei so großer Nähe zu den Orten, an denen auch Jesus verweilt hatte, dem Jesus-Wort folgend nach einem Backenstreich auch noch die andere Wange hinhielten, ist nicht bekannt.

Im Rheinland währte die Schneller’sche Heim-Arbeit fast ein halbes Jahrhundert lang; 1946 begann sie in Godesberg und Anfang der 1990er-Jahre endete sie in Nümbrecht. Vielleicht ist mein Aufsatz ein Anstoß, sich auch mit dieser Periode der Schneller-Pädagogik wissenschaftlich auseinanderzusetzen.

Für Unterstützung bei den Recherchen danke ich Georg-D. Schaaf, Münster, und Axel Jost, Ratingen. Veröffentlichung auf der website von Udo W. Hombach als PDF: http://www.udo-w-hombach.de/texte/Hombach_(2016b).pdf


Literatur

1. Anna Katterfeld: D. Ludwig Schneller – Ein Vater der Waisen und Künder des Heiligen Landes. Lahr – Dinglingen 1958
2. Asbach-Uralt (Hg.): Liebhabern guten Essens und Trinkens zugedacht! Rüdesheim am Rhein 1982
3. Hans Warnecke: Der schwierige Weg zur ev. Heimvolksschule in Vettelhoven. http://www.kreis-ahrweiler.de/kvar/VT/hjb2001/hjb2001.44.htm (abgerufen am 13.3.2016)
4. Heidemarie Wawrzyn: Ham and Eggs in Palestine – The Auguste Victoria Foundation 1889–1939. Marburg 2005.
5. Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn – Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik. München 2007.
6. Carola Kuhlmann: „So erzieht man keinen Menschen!“ – Lebens- und Berufserinnerungen aus der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre. Wiesbaden 2008.
7. Roland Löffler: Protestanten in Palästina – Religionspolitik, Sozialer Protestantismus und Mission in den deutschen evangelischen und anglikanischen Institutionen des Heiligen Landes 1917–1939. Reihe „Konfession und Gesellschaft – Beiträge zur Zeitgeschichte“, Band 37. Stuttgart 2008
8. Heidemarie Wawrzyn: Nazis in the Holy Land 1933–1948. Berlin 2013.
9. Udo W. Hombach: Zwischen Köln, Berlin und Jerusalem. Der Mosaikschmuck am Schneller-Altar – Hintergründe im Rheinland. In: Rheinische Heimatpflege, Köln, 2/2015, S. 123–132
10. Förderverein der Grundschule Obere Grafschaft e.V. (Hg.): Jonathan und Laurina entdecken die Obere Grafschaft – Ein Heimatbuch von und für Kinder. Grafschaft-Gelsdorf o. J.
11. Arno G. Krauss (†), Schneller-Forscher in Fellbach bei Stuttgart: mündliche Mitteilungen.

Online-Flyer Nr. 567  vom 22.06.2016

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