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Literatur
Eine Anklage des Jungen Christian gegen die Kriege dieser Welt
Erwachsene Kinder (1)
Von Karl C. Fischer

"Der Krieg entlässt seine Kinder. Aber: Es sind keine! Sind erwachsene Kinder. Kinder, die nicht Kind sein konnten, durften. Kinder, um ihre Kindheit, das heißt vor allem um die Unbedarftheit gebracht. Denn ihnen blieb keine andre Chance, als mit überlebensgroßem Überlebenskampfgeist zu Werke zu schreiten. Um den allerdings enorm hohen Preis kindlich fideler Gedankensprünge, phantastischer Umwege, wunderbarer Widersprüchlichkeiten. Und mit dem Vergnügen verloren sie – selbstredend – die Vergnüglichkeit. Was ihnen blieb war Verhärtung und Härte, vor allem gegen sich selbst. Das Kind in diesem Buch ist ein erwachsenes Kind. Ist der Mann im Kinde." Das schreibt Ulrich Land über die autobiografische Geschichte "Erwachsene Kinder" des Kölner Schriftstellers Karl C. Fischer vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges. Die NRhZ bringt daraus – auch und insbesondere im Hinblick auf die zunehmend bedrohliche NATO-Aggression gegenüber Russland – eine Reihe von Auszügen beginnend mit der Begegnung mit Professor Emil Fuchs, Vater des als Atomspion berühmt gewordenen Klaus Fuchs.

Eines Abends muss Christian seine guten Sachen anziehen. "Warum denn ... was ist los?" fragt er. "Wir wollen zur Andacht", antwortet die Mutter. "Zur Quäker-Andacht", ergänzt der Vater. "Da wird still gebetet. So, wie du es von uns gelernt hast." "Sind da auch andere Kinder?" "Ja sicher", sagt die Mutter, "einige der Paquets Kinder, der Enkel von Moormanns, den du auch kennst, und natürlich der kleine Fuchs." Christian grinst. "Ja", meint der Vater, "der Enkel von Professor Fuchs, der kürzlich hier zu Besuch war..." Der Junge erinnert sich an den netten, alten Herrn, der von dem Engländer erzählte, der nicht mal vor dem König den Hut zog.

Der Vater fährt fort: " ... und dessen Sohn für 'die Andere Seite' arbeitet." "Sag dem Kind doch nicht solche Sachen", mischt sich die Mutter ein. "Das kann der doch noch gar nicht verstehen." "Warum müssen wir denn in die Andacht, wenn es schon dunkel ist?" "Wir haben keine Zeit mehr. Auf dem Weg werden wir dir das schon erklären", meint der Vater brummig. Als sie von der Soemmerringstraße in den Bornwiesenweg einbiegen, beginnt der Vater: "Dass deine Mutter und ich seit vielen Jahren Quäker sind, weißt du ja." Christian nickt.

"Dass die Quäker nicht nur von Gott reden, sondern in seinem Sinne handeln, wirst du im Lauf der Jahre erkennen. Das heißt nämlich, auch mutig sein und zu Gottes Wort stehen, dem Krieg und dem Unrecht widerstehen. Das passt den Nazis nicht. Verstehst du?" "Ja, Papa." "Daher", beginnt der Vater wieder, "müssen wir unsere Andachten zu ganz unterschiedlichen Zeiten und an immer neuen Orten abhalten. Sonst sind wir alle in großer Gefahr." "Und wo gehen wir jetzt hin, Papa?" "Das wirst du schon sehen", antwortet der Vater knapp.

Sie laufen gerade die Eschersheimer Landstraße hinunter, wohl wissend, dass eine zufällig vorüber kommende Streife sie anhalten könnte. Vater mahnt immer wieder, nicht zu schnell, sondern unauffällig zu gehen. Vor sich sehen sie den Eschenheimer Turm. Mit seinen spitzen Zinnen hebt er sich deutlich vom abendlichen Himmel ab. Nicht weit davon, in der Hochstraße, betreten sie ein hohes, altes Mietshaus. Vater geht vor. Sie tasten sich im Dunkeln vorwärts. Der Junge hält sich an der Mutter fest. Es geht eine schmale Wendeltreppe abwärts. Vater klopft zweimal kurz hintereinander und nach einer kleinen Pause noch einmal an eine Tür. Dann öffnet sie sich einen Spalt breit. Spärliches Kerzenlicht dringt zu ihnen heraus. Ein junger Mann öffnet ihnen und begrüßt sie leise. Nun sind sie in einem Raum mit alten Holzdielen. Es riecht muffig. Eine Frau mit einer Kerze kommt näher.

"Da sind wir", sagt der Vater. "Dann geht mal weiter nach unten", meint die Frau, "es werden noch ein paar weitere Freunde erwartet." Wieder geht es abwärts. Dann sind sie in einem von Kerzen erleuchteten Raum. Viele Leute sitzen in einem Kreis. Auch einige Kinder in Christians Alter. Man rückt ein altes Sofa heran. Ein hölzerner Küchenstuhl dient Christian als Sitz. Vater und Mutter werden von einigen Leuten herzlich begrüßt. Etwas später tritt der weißhaarige Professor in den Raum. Reihum gibt er jedem die Hand, auch Christian. "Jetzt also hast auch du zu uns gefunden", sagt er freundlich. "Ich war es nicht, mein Papa ..." "Das kann man sich ja denken", meint der Professor lächelnd. "Welcher Junge würde schon allein in dieses Gemäuer herunterfinden." "Gemäuer, Herr Professor? ... Wir sind doch zu einem Haus hereingekommen." "Ja, Christian, da hast du recht, doch darunter beginnt die mittelalterliche Stadtmauer. Das wissen nicht viele."

Christian staunt. "Hier unten brauchst du niemanden zu fürchten", fährt Professor Fuchs fort und nimmt dabei neben Mutter auf dem Sofa Platz. " ... vor allem nicht, weil Gott bei uns ist", sagt der alte Herr zum Schluss und blickt in die Runde. Dann beginnt das Schweigen, von dem Vater immer erzählt. Nach einer Weile wird Christian unruhig und sieht, dass auch der Enkel von Moormanns, der ihm gegenüber auf einer Holzbank sitzt, nervös mit den Fingern spielt. "Ich habe eine große Sorge", unterbricht der Professor die Stille. "Es geht dabei um meinen Sohn Klaus, der mir durch unsere Organisation eine Nachricht zukommen ließ und mich um Rat bittet ... " Professor Fuchs räuspert sich. "Er arbeitet an einer teuflischen Sache. In einem Labor in Birmingham macht er Versuche mit der künstlichen Spaltung von Atomkernen. Ich verstehe nicht genug davon, aber mein Sohn sagt, dass diese Versuche die Welt in einer ganz schrecklichen Weise verändern werden ..." Christian bemerkt, wie der Vater, das Kinn auf den Arm gestützt, konzentriert zuhört. "Man will Naturkräfte entfesseln, die der Menschheit seit Jahrtausenden verborgen waren. Jetzt sollen sie den Krieg entscheiden. Ihr Potential könnte uns, so sagt Klaus, mit einem Schlag von der Tyrannei befreien.

Mein Sohn fragt mich, ob er weiter bei dieser entsetzlichen Sache mitwirken soll. Was soll ich ihm raten, Freunde ...?" Die Stimme des Professors zittert, und Christian spürt, dass es nur ein sehr großer Kummer sein kann, der ihn so reden läßt. "Mein Sohn glaubt", sagt der alte Herr weiter, "dass er sogar im Sinne unseres Glaubens handelt, wenn er weiter an dieser alles vernichtenden Waffe arbeitet ... Ja, ich habe mit Gott gerungen, Freunde ... Er kann es doch nicht wollen, dass wir Menschen gerade heute seine Schöpfung missbrauchen, um in Frieden leben zu können." Professor Fuchs lässt seinen Kopf sinken und faltet die Hände. Alle im Kreis schweigen nun wieder wie zu Beginn. In Christian geht etwas ganz Neues und Unbekannntes vor. Er fühlt sich hilflos, aber er spürt auch, dass er und alle in dem Raum, sogar der erfahrene Professor, ratlos sind. Genauso wie er, der kleine Junge, der einen kurzen Augenblick lang das Gefühl hat, dass es hier in diesem Kreis keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern gibt. Da sitzen keine klugen und weniger erfahrenen Menschen in der Runde. Es sind nur Menschen, die alle in gleicher Weise hilflos, sprachlos und betroffen sind. Niemals zuvor hat er jemanden in so großer Sorge reden gehört. Viele Worte des Professors sind ihm unbekannt. Doch nun verlangen die Worte von ihm, sie verstehen zu lernen. Dass sie wichtig sind, spürt Christian. Es zwingt ihn, Begriffe, wie 'Spaltung', 'Atomkern', 'Potential', Tyrannei', und 'die alles vernichtende Waffe' immer wieder still zu wiederholen.

Christian fühlt, dass etwas Entsetzliches da draußen in der Welt geschieht. Keiner aber weiß Rat. Wenigstens dies weiß er nun. Sie fühlen wie er, dass sie dieses Schreckliche nicht verhindern können. Da gibt es nur eins: Beten. Im stillen Gebet fragt Christian jetzt, was Gott von ihm will. So hat er es gelernt. Dann erst vernimmt er leises Sprechen. Erst ganz von fern. Schließlich bemerkt er, dass die Leute im Kreis miteinander zu reden begonnen haben. Die Stille Andacht ist zu Ende. Deutlich hört er, wie die Mutter sagt: "Es war ja seine erste Stille Andacht, Emil." Christian fühlt die Hand des alten Herrn auf seiner Schulter und blickt in dessen freundlich lächelnde Augen.

"Er hat es doch verstanden, Dora", antwortet er.




Karl C. Fischer
Erwachsene Kinder
Buchverlag Andrea Schmitz Overath, 1996
2. Auflage 1998


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