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Literatur
Eine Anklage des Jungen Christian gegen die Kriege dieser Welt
Erwachsene Kinder (2)
Von Karl C. Fischer
"Der Krieg entlässt seine Kinder. Aber: Es sind keine! Sind erwachsene Kinder. Kinder, die nicht Kind sein konnten, durften. Kinder, um ihre Kindheit, das heißt vor allem um die Unbedarftheit gebracht. Denn ihnen blieb keine andre Chance, als mit überlebensgroßem Überlebenskampfgeist zu Werke zu schreiten. Um den allerdings enorm hohen Preis kindlich fideler Gedankensprünge, phantastischer Umwege, wunderbarer Widersprüchlichkeiten. Und mit dem Vergnügen verloren sie – selbstredend – die Vergnüglichkeit. Was ihnen blieb war Verhärtung und Härte, vor allem gegen sich selbst. Das Kind in diesem Buch ist ein erwachsenes Kind. Ist der Mann im Kinde." Das schreibt Ulrich Land über die autobiografische Geschichte "Erwachsene Kinder" des Kölner Schriftstellers Karl C. Fischer vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges. Die NRhZ bringt daraus – auch und insbesondere im Hinblick auf die zunehmend bedrohliche NATO-Aggression gegenüber Russland – eine Reihe von Auszügen... Auch diesmal gibt es eine Begegnung mit Professor Emil Fuchs, Vater des als Atomspion berühmt gewordenen Klaus Fuchs. Professor Fuchs gibt dem Fünfjährigen eine Quäker-Weisheit mit auf den Weg, die Karl C. Fischer sein Leben lang nicht loslässt.
Im Garten haben Vater und Christian das Land inzwischen umgegraben. Nun müssen sie auf der anderen Mainseite, bei der Gärtnerei Bossong in der Offenbacher Landstraße, Tomatenpflänzchen besorgen. Von der Soemmerringstraße brauchen sie gut zwei Stunden.
Am Eschenheimer Tor vorbei gehen die beiden durch die Stiftstraße, passieren die Zeil und laufen die Fahrgasse hinunter, zum Main. Bei der Obermainbrücke überqueren sie den Fluß, kommen durch Sachsenhausen und sind schließlich am Lokalbahnhof. Von dort ist es nicht mehr weit zum Mühlberg, an dessen Hang die Gärtnerei gelegen ist.
Am Lokalbahnhof ist was los. Hier bleiben Vater und Christian eine Weile stehen und schauen sich um. Trotz des Krieges fahren noch Straßenbahnen, sogar die Kleinbahn nach Offenbach. Reisende warten, Bahnpersonal läuft herum, die Leute fragen nach Zugverbindungen, studieren Fahrpläne, begrüßen einander, unterhalten sich, gehen mit Kindern spazieren, haben Einkaufstaschen dabei, suchen nach Kleingeld und kaufen Fahrscheine oder Zeitungen.
"Warum gibt es denn hier nur Kinder und Frauen, Papa?"
"Weil die Männer alle an der Front sind, Bubi. Bis auf die Alten, wie ich oder dieser ganz alte Mann dort drüben am Zeitungsstand."
"Muß der Führer denn nicht an die Front?" fragt Christian. "Ja, ja, das ist so eine Sache", schmunzelt der Vater.
"Der hat doch gerade seinen dreiundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Es war doch in der Zeitung, und ihr habt doch noch darüber geredet, Onkel Weckmann und du ..."
"Ja, ich weiß."
" ... und den armen Onkel Bossong haben sie noch mit Fünfundsechzig an die Front geschickt. An Weihnachten, du weißt es doch ..."
"Na ja, der Hitler ist nun der oberste Feldherr, und Feldherren machen den Krieg vom Schreibtisch aus ..."
Christian sieht plötzlich eine junge Frau aus der Menge auf sie zukommen. An der linken Schulter ihrer Uniformjacke baumeln gelbe Schnüre. Eine von denen, denkt der Junge.
Er will den Vater warnen, weil der die Frau noch nicht bemerkt hat. Verschwörerisch zupft er an Vaters Ärmel. Gerade, als sich der Papa Christian zuwendet, ist die BDM-Führerin bei den beiden angelangt.
"Statt ihrem Enkelsohn solche Lügen zu erzählen, sollten Sie ihn völkisch erziehen! Das wäre ihre Pflicht! ..."
Christian beobachtet gerade, wie der Vater gelassen die Brieftasche aus seiner Jacke zieht.
"Eine verächtliche Bemerkung über den Führer", fährt die Frau in scharfem Ton fort, "ist eine strafbare Handlung! Sie wissen, daß ich Sie anzeigen kann!"
"Natürlich", antwortet der Vater ruhig, "ob Sie das tun werden, wenn Sie erfahren, wo ich tätig bin ..."
Vater zückt seinen Ausweis. "Briefprüfstelle", sagt er knapp. Die Frau schluckt, schweigt und scheint unsicher.
" ... streng geheim", setzt der Vater hinzu. "Und jetzt Aufwiedersehen. Hat mich gefreut."
Lieber nicht, denkt Christian. Vater und Sohn lassen die Frau in der Menschenmenge des Lokalbahnhofs stehen und sehen sich nicht um.
Erst als sie außer Sichtweite, nahe der Offenbacher Landstraße sind, sagt der Vater verschmitzt: "Garantiert! Die weiß nicht mal, Was das ist, Briefprüfstelle! Aber 'Geheim' wirkt bei der Bande immer. Die sind sich nämlich untereinander nicht grün. Da bespitzelt einer den anderen. Das aber ist immer noch unser Vorteil, mein Junge. Merk es dir!"
"Ja", antwortet Christian.
Die scharfen Worte der BDM-Führerin haben den Jungen verunsichert. Wie Vater nur so ruhig bleiben konnte, als die Frau ihm mit einer Anzeige drohte, denkt er. Aber er fragt sich auch beklommen, was der Vater von ihm jetzt erwartet. Christian traut sich nicht, den Vater zu fragen und schweigt. Erst bei Bossongs beginnt er sich wieder wohlzufühlen.
Die Gärtnerei ist so unübersichtlich und verwinkelt am Hang des Mühlbergs angelegt, daß der Junge hier gerne spielt. Zwischen Büschen und Obstbäumen kann er sich verstecken. Es gibt Blumenbeete, Salatpflanzen und Erdbeerreihen zu sehen. Gewächshäuser stehen dazwischen und mit Glas abgedeckte Frühjahrsbeete, aus denen die Gärtnerinnen frisches Gemüse nehmen. Außerdem gibt es hier viele Schmetterlinge, Käfer und noch mehr Vögel als im Garten in der Soemmerringstraße.
Während der Vater mit einer jungen Gehilfin die Tomatenpflänzchen ausgräbt und sie anschließend in eine Schubkarre lädt, redet der Junge mit der alten, gehbehinderten Frau Bossong, der Mutter des Gärtners. Sie sitzt vor dem Wohnhaus, in einem Rollstuhl, hat eine warme Wolljacke an und eine Decke über den Knien. Mit zittrigen Händen strickt sie an einem Schal und lächelt Christian freundlich an.
"Geh doch mal 'rauf zum alten Schuppen. Du kennst dich doch aus ... Ja, der da oben ..."
Oben am Hang, neben einem ungeheuer großen Baum, erkennt Christian den windschiefen Holzverschlag. "... ja, hinter der großen Ulme. Von meinem Enkelsohn hängt da noch der Kinderroller. Der ist noch in Ordnung. Und da hast du mal ein schönes Spielzeug, um das dich die Kinder in deiner Straße gewiß beneiden werden ..."
Der Junge denkt: Was wird das schon sein! Ein Kinderroller. Und so alt schon.
Als hätte sie Christians Gedanken erraten, fährt Mutter Bossong fort: "Er wird dir bestimmt gefallen. Und schnell kannst du damit rollern ..."
Da ist der Junge schon unterwegs. Kann ja nicht schaden, ihn sich mal anzuschauen, denkt er, als er oben anlangt. Er öffnet die Tür. Weil es im Schuppen dunkel ist, gewahrt er zuerst undeutlich einige Latten, Stangen und Bretter. Dann einen alten Kinderwagen und auf einer Bank verrostete Gartengeräte. Ein Spaten steht an der Wand und in einer Ecke hängen Spinnweben.
Plötzlich entdeckt der Junge zwei Räder, eine Lenkstange, ein Vorderteil und ein Trittbrett. Der Roller liegt in der Ecke. Christian pustet den Staub fort, zerrt das Ding zur Tür, schiebt es ins Freie, stellt sich auf das Trittbrett, stößt sich mit einem kräftigen Tritt ab und läßt sich rollen. Es geht eine Weile gut, doch dann landet Christian jubelnd in einem Reisighaufen.
"Papa, Papa ... hörst du?", ruft er laut durch das Gelände und rappelt sich auf. "Ich kann Roller fahren!"
Später sind sie wieder auf dem Heimweg. Der Vater schiebt die Karre mit den Tomatenpflänzchen vor sich her. Der Junge fährt mit seinem Roller voraus. Vater kommt nicht mehr mit. Auf dem langen Weg zur Soemmerringstraße umkurvt Christian schon sehr geschickt die entgegenkommenden Fußgänger und wird dabei immer sicherer. Als sie auf dem Oeder Weg sind, ruft der Junge fröhlich zurück: "Jetzt bin ich doch kein Kind mehr. Jetzt, wo ich so schnell Roller fahren kann!"
Als beide das Wohnzimmer betreten, erhebt sich ein alter Herr in einem dunklen Anzug vom Sessel. Er ist kaum größer wie Mutter und ebenso schmal, und er hat schlohweiße Haare, buschige, weiße Brauen und gütige Augen.
"Christian, das ist unser Quäkerfreund, Professor Fuchs", sagt die Mutter. "Wir baten ihn, mal mit dir zu reden", ergänzt der Vater.
Der Junge verbeugt sich. "Vor mir brauchst du dich nicht zu beugen, mein Kind."
Verlegen schaut er zu seinem Vater hin. Der nickt aufmunternd und lächelt zurück.
"Warum bitte, Herr Professor?"
"Nur vor Gott ziehe ich den Hut, nur vor ihm beuge ich mein Haupt, vor keinem König, sagte William Penn, mein Kind", antwortet der alte Herr und setzt betont hinzu: "Merk es dir!"
Der Professor nimmt wieder Platz. Er erzählt von jenem Engländer, der einer der ersten Quäker war und der es vor zweihundertfünfzig Jahren wagte, seines Glaubens wegen, sich vor Wilhelm von Oranien nicht zu verbeugen und verweigerte, den Hut zu ziehen. Später, sagte der alte Herr zum Schluß, gründete Penn drüben in Amerika sogar einen ganzen Staat und freundete sich mit den eingeborenen Indianern an.
"Ich soll mich auch vor keinem verbeugen?" fragt Christian.
"Tu stets das, was dir Gott im stillen Gebet sagt, mein Kind", antwortet der Professor.
Christian wundert sich, daß nur der alte Herr redet, während die Eltern schweigen. Wollen sie es so, oder trauen sie sich nicht?
"Du betest doch still, wie die Quäker, mein Kind?"
"Schon lang, Herr Professor. Seit ich so große Angst vorm Heulen der Sirenen gehabt habe."
"So, so."
"Meine Eltern haben es mir gezeigt."
Professor Fuchs lächelt und nickt Vater und Mutter zu. "Sprichst du mit Gott auch ganz ehrlich, und sagst du ihm immer, wenn du mal Kummer oder Angst hast?" "Immer, Herr Professor. Niemals werd' ich ihn anlügen!" "Ich glaube dir, mein Kind. Deine Eltern können froh darüber sein."
Jetzt erst wendet sich der Professor ganz den Eltern zu. Sie reden nun über den Sohn des alten Mannes, der Wissenschaftler ist und von einem Arzt, der in Afrika lebt. Obschon Christian versucht, der Unterhaltung zu folgen, fällt ihm immer wieder der Mann ein, der sich selbst vor dem König nicht verbeugte.
Später, als der Professor schon an der Haustür ist, kurz stehenbleibt und zurückwinkt, kann Christian nicht anders und läuft zu ihm hin.
"Sie wollen mich nicht. Gott weiß es", sagt der Junge so leise, daß es die Eltern unmöglich verstehen können. "Wenn es so ist, dann wird dir auch immer geholfen", antwortet der Professor mit einem verstehenden Lächeln.
Karl C. Fischer
Erwachsene Kinder
Buchverlag Andrea Schmitz Overath, 1996
Erschienen mit Unterstützung des Werkreises Literatur der Arbeitswelt e.V.
2. Auflage 1998
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Erwachsene Kinder (3)
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Eine Anklage des Jungen Christian gegen die Kriege dieser Welt
Erwachsene Kinder (2)
Von Karl C. Fischer
"Der Krieg entlässt seine Kinder. Aber: Es sind keine! Sind erwachsene Kinder. Kinder, die nicht Kind sein konnten, durften. Kinder, um ihre Kindheit, das heißt vor allem um die Unbedarftheit gebracht. Denn ihnen blieb keine andre Chance, als mit überlebensgroßem Überlebenskampfgeist zu Werke zu schreiten. Um den allerdings enorm hohen Preis kindlich fideler Gedankensprünge, phantastischer Umwege, wunderbarer Widersprüchlichkeiten. Und mit dem Vergnügen verloren sie – selbstredend – die Vergnüglichkeit. Was ihnen blieb war Verhärtung und Härte, vor allem gegen sich selbst. Das Kind in diesem Buch ist ein erwachsenes Kind. Ist der Mann im Kinde." Das schreibt Ulrich Land über die autobiografische Geschichte "Erwachsene Kinder" des Kölner Schriftstellers Karl C. Fischer vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges. Die NRhZ bringt daraus – auch und insbesondere im Hinblick auf die zunehmend bedrohliche NATO-Aggression gegenüber Russland – eine Reihe von Auszügen... Auch diesmal gibt es eine Begegnung mit Professor Emil Fuchs, Vater des als Atomspion berühmt gewordenen Klaus Fuchs. Professor Fuchs gibt dem Fünfjährigen eine Quäker-Weisheit mit auf den Weg, die Karl C. Fischer sein Leben lang nicht loslässt.
Im Garten haben Vater und Christian das Land inzwischen umgegraben. Nun müssen sie auf der anderen Mainseite, bei der Gärtnerei Bossong in der Offenbacher Landstraße, Tomatenpflänzchen besorgen. Von der Soemmerringstraße brauchen sie gut zwei Stunden.
Am Eschenheimer Tor vorbei gehen die beiden durch die Stiftstraße, passieren die Zeil und laufen die Fahrgasse hinunter, zum Main. Bei der Obermainbrücke überqueren sie den Fluß, kommen durch Sachsenhausen und sind schließlich am Lokalbahnhof. Von dort ist es nicht mehr weit zum Mühlberg, an dessen Hang die Gärtnerei gelegen ist.
Am Lokalbahnhof ist was los. Hier bleiben Vater und Christian eine Weile stehen und schauen sich um. Trotz des Krieges fahren noch Straßenbahnen, sogar die Kleinbahn nach Offenbach. Reisende warten, Bahnpersonal läuft herum, die Leute fragen nach Zugverbindungen, studieren Fahrpläne, begrüßen einander, unterhalten sich, gehen mit Kindern spazieren, haben Einkaufstaschen dabei, suchen nach Kleingeld und kaufen Fahrscheine oder Zeitungen.
"Warum gibt es denn hier nur Kinder und Frauen, Papa?"
"Weil die Männer alle an der Front sind, Bubi. Bis auf die Alten, wie ich oder dieser ganz alte Mann dort drüben am Zeitungsstand."
"Muß der Führer denn nicht an die Front?" fragt Christian. "Ja, ja, das ist so eine Sache", schmunzelt der Vater.
"Der hat doch gerade seinen dreiundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Es war doch in der Zeitung, und ihr habt doch noch darüber geredet, Onkel Weckmann und du ..."
"Ja, ich weiß."
" ... und den armen Onkel Bossong haben sie noch mit Fünfundsechzig an die Front geschickt. An Weihnachten, du weißt es doch ..."
"Na ja, der Hitler ist nun der oberste Feldherr, und Feldherren machen den Krieg vom Schreibtisch aus ..."
Christian sieht plötzlich eine junge Frau aus der Menge auf sie zukommen. An der linken Schulter ihrer Uniformjacke baumeln gelbe Schnüre. Eine von denen, denkt der Junge.
Er will den Vater warnen, weil der die Frau noch nicht bemerkt hat. Verschwörerisch zupft er an Vaters Ärmel. Gerade, als sich der Papa Christian zuwendet, ist die BDM-Führerin bei den beiden angelangt.
"Statt ihrem Enkelsohn solche Lügen zu erzählen, sollten Sie ihn völkisch erziehen! Das wäre ihre Pflicht! ..."
Christian beobachtet gerade, wie der Vater gelassen die Brieftasche aus seiner Jacke zieht.
"Eine verächtliche Bemerkung über den Führer", fährt die Frau in scharfem Ton fort, "ist eine strafbare Handlung! Sie wissen, daß ich Sie anzeigen kann!"
"Natürlich", antwortet der Vater ruhig, "ob Sie das tun werden, wenn Sie erfahren, wo ich tätig bin ..."
Vater zückt seinen Ausweis. "Briefprüfstelle", sagt er knapp. Die Frau schluckt, schweigt und scheint unsicher.
" ... streng geheim", setzt der Vater hinzu. "Und jetzt Aufwiedersehen. Hat mich gefreut."
Lieber nicht, denkt Christian. Vater und Sohn lassen die Frau in der Menschenmenge des Lokalbahnhofs stehen und sehen sich nicht um.
Erst als sie außer Sichtweite, nahe der Offenbacher Landstraße sind, sagt der Vater verschmitzt: "Garantiert! Die weiß nicht mal, Was das ist, Briefprüfstelle! Aber 'Geheim' wirkt bei der Bande immer. Die sind sich nämlich untereinander nicht grün. Da bespitzelt einer den anderen. Das aber ist immer noch unser Vorteil, mein Junge. Merk es dir!"
"Ja", antwortet Christian.
Die scharfen Worte der BDM-Führerin haben den Jungen verunsichert. Wie Vater nur so ruhig bleiben konnte, als die Frau ihm mit einer Anzeige drohte, denkt er. Aber er fragt sich auch beklommen, was der Vater von ihm jetzt erwartet. Christian traut sich nicht, den Vater zu fragen und schweigt. Erst bei Bossongs beginnt er sich wieder wohlzufühlen.
Die Gärtnerei ist so unübersichtlich und verwinkelt am Hang des Mühlbergs angelegt, daß der Junge hier gerne spielt. Zwischen Büschen und Obstbäumen kann er sich verstecken. Es gibt Blumenbeete, Salatpflanzen und Erdbeerreihen zu sehen. Gewächshäuser stehen dazwischen und mit Glas abgedeckte Frühjahrsbeete, aus denen die Gärtnerinnen frisches Gemüse nehmen. Außerdem gibt es hier viele Schmetterlinge, Käfer und noch mehr Vögel als im Garten in der Soemmerringstraße.
Während der Vater mit einer jungen Gehilfin die Tomatenpflänzchen ausgräbt und sie anschließend in eine Schubkarre lädt, redet der Junge mit der alten, gehbehinderten Frau Bossong, der Mutter des Gärtners. Sie sitzt vor dem Wohnhaus, in einem Rollstuhl, hat eine warme Wolljacke an und eine Decke über den Knien. Mit zittrigen Händen strickt sie an einem Schal und lächelt Christian freundlich an.
"Geh doch mal 'rauf zum alten Schuppen. Du kennst dich doch aus ... Ja, der da oben ..."
Oben am Hang, neben einem ungeheuer großen Baum, erkennt Christian den windschiefen Holzverschlag. "... ja, hinter der großen Ulme. Von meinem Enkelsohn hängt da noch der Kinderroller. Der ist noch in Ordnung. Und da hast du mal ein schönes Spielzeug, um das dich die Kinder in deiner Straße gewiß beneiden werden ..."
Der Junge denkt: Was wird das schon sein! Ein Kinderroller. Und so alt schon.
Als hätte sie Christians Gedanken erraten, fährt Mutter Bossong fort: "Er wird dir bestimmt gefallen. Und schnell kannst du damit rollern ..."
Da ist der Junge schon unterwegs. Kann ja nicht schaden, ihn sich mal anzuschauen, denkt er, als er oben anlangt. Er öffnet die Tür. Weil es im Schuppen dunkel ist, gewahrt er zuerst undeutlich einige Latten, Stangen und Bretter. Dann einen alten Kinderwagen und auf einer Bank verrostete Gartengeräte. Ein Spaten steht an der Wand und in einer Ecke hängen Spinnweben.
Plötzlich entdeckt der Junge zwei Räder, eine Lenkstange, ein Vorderteil und ein Trittbrett. Der Roller liegt in der Ecke. Christian pustet den Staub fort, zerrt das Ding zur Tür, schiebt es ins Freie, stellt sich auf das Trittbrett, stößt sich mit einem kräftigen Tritt ab und läßt sich rollen. Es geht eine Weile gut, doch dann landet Christian jubelnd in einem Reisighaufen.
"Papa, Papa ... hörst du?", ruft er laut durch das Gelände und rappelt sich auf. "Ich kann Roller fahren!"
Später sind sie wieder auf dem Heimweg. Der Vater schiebt die Karre mit den Tomatenpflänzchen vor sich her. Der Junge fährt mit seinem Roller voraus. Vater kommt nicht mehr mit. Auf dem langen Weg zur Soemmerringstraße umkurvt Christian schon sehr geschickt die entgegenkommenden Fußgänger und wird dabei immer sicherer. Als sie auf dem Oeder Weg sind, ruft der Junge fröhlich zurück: "Jetzt bin ich doch kein Kind mehr. Jetzt, wo ich so schnell Roller fahren kann!"
Als beide das Wohnzimmer betreten, erhebt sich ein alter Herr in einem dunklen Anzug vom Sessel. Er ist kaum größer wie Mutter und ebenso schmal, und er hat schlohweiße Haare, buschige, weiße Brauen und gütige Augen.
"Christian, das ist unser Quäkerfreund, Professor Fuchs", sagt die Mutter. "Wir baten ihn, mal mit dir zu reden", ergänzt der Vater.
Der Junge verbeugt sich. "Vor mir brauchst du dich nicht zu beugen, mein Kind."
Verlegen schaut er zu seinem Vater hin. Der nickt aufmunternd und lächelt zurück.
"Warum bitte, Herr Professor?"
"Nur vor Gott ziehe ich den Hut, nur vor ihm beuge ich mein Haupt, vor keinem König, sagte William Penn, mein Kind", antwortet der alte Herr und setzt betont hinzu: "Merk es dir!"
Der Professor nimmt wieder Platz. Er erzählt von jenem Engländer, der einer der ersten Quäker war und der es vor zweihundertfünfzig Jahren wagte, seines Glaubens wegen, sich vor Wilhelm von Oranien nicht zu verbeugen und verweigerte, den Hut zu ziehen. Später, sagte der alte Herr zum Schluß, gründete Penn drüben in Amerika sogar einen ganzen Staat und freundete sich mit den eingeborenen Indianern an.
"Ich soll mich auch vor keinem verbeugen?" fragt Christian.
"Tu stets das, was dir Gott im stillen Gebet sagt, mein Kind", antwortet der Professor.
Christian wundert sich, daß nur der alte Herr redet, während die Eltern schweigen. Wollen sie es so, oder trauen sie sich nicht?
"Du betest doch still, wie die Quäker, mein Kind?"
"Schon lang, Herr Professor. Seit ich so große Angst vorm Heulen der Sirenen gehabt habe."
"So, so."
"Meine Eltern haben es mir gezeigt."
Professor Fuchs lächelt und nickt Vater und Mutter zu. "Sprichst du mit Gott auch ganz ehrlich, und sagst du ihm immer, wenn du mal Kummer oder Angst hast?" "Immer, Herr Professor. Niemals werd' ich ihn anlügen!" "Ich glaube dir, mein Kind. Deine Eltern können froh darüber sein."
Jetzt erst wendet sich der Professor ganz den Eltern zu. Sie reden nun über den Sohn des alten Mannes, der Wissenschaftler ist und von einem Arzt, der in Afrika lebt. Obschon Christian versucht, der Unterhaltung zu folgen, fällt ihm immer wieder der Mann ein, der sich selbst vor dem König nicht verbeugte.
Später, als der Professor schon an der Haustür ist, kurz stehenbleibt und zurückwinkt, kann Christian nicht anders und läuft zu ihm hin.
"Sie wollen mich nicht. Gott weiß es", sagt der Junge so leise, daß es die Eltern unmöglich verstehen können. "Wenn es so ist, dann wird dir auch immer geholfen", antwortet der Professor mit einem verstehenden Lächeln.
Karl C. Fischer
Erwachsene Kinder
Buchverlag Andrea Schmitz Overath, 1996
Erschienen mit Unterstützung des Werkreises Literatur der Arbeitswelt e.V.
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