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Literatur
Eine Anklage des Jungen Christian gegen die Kriege dieser Welt
Erwachsene Kinder (3)
Von Karl C. Fischer

"Der Krieg entlässt seine Kinder. Aber: Es sind keine! Sind erwachsene Kinder. Kinder, die nicht Kind sein konnten, durften. Kinder, um ihre Kindheit, das heißt vor allem um die Unbedarftheit gebracht. Denn ihnen blieb keine andre Chance, als mit überlebensgroßem Überlebenskampfgeist zu Werke zu schreiten", schreibt Ulrich Land über die autobiografische Geschichte "Erwachsene Kinder" des Kölner Schriftstellers Karl C. Fischer. Die NRhZ bringt daraus – auch und insbesondere im Hinblick auf die zunehmend bedrohliche NATO-Aggression gegenüber Russland – eine Reihe von Auszügen... 1942 fallen Bomben auf Frankfurt. Ein Großonkel will Christian in Sicherheit bringen. Anders als geplant landet der Junge bei einer Quäkerfamilie in Heidelberg. Dort fallen keine Bomben, weiss der Großonkel.


In Heidelberg ist es wirklich ganz anders als in Frankfurt. Bomben kennen die Leute hier nur vom Hörensagen. An ihren Gesichtern und wie sie miteinander reden, merkt Christian, daß sie freundlich und gelassen sind. Es geht auf das Jahresende zu und es wird kühler. Mittags aber hat die Sonne noch so viel Kraft, daß Spaziergänger entlang dem Neckarufer ohne Mantel gehen.

Das Ehepaar Rupp ist kinderlos. Es wohnt in der Innenstadt, zwischen Bahnhof und Schloß, knapp zehn Minuten vom Neckar entfernt, in der Römerstraße vierundvierzig. Gegenüber, von einem kleinen Park umgeben, steht eine evangelische Kirche. Ihre Turmuhr läutet jede volle Stunde ein.

Rupps leben in einer großen Wohnung im Hochparterre einer zweistöckigen Villa. Statt eines Nutzgartens haben sie einen gepflegten Steingarten vor dem Haus und einen Wintergarten im Anschluß an das Wohnzimmer. Polierte Stilmöbel stehen in der Wohnung und Wandteppiche zieren die Zimmer, bunte Vasen schmücken Diele und Bibliothek. Ein Kristallleuchter hängt an der Decke des Salons. Auf einem bequemen Sofa mit hoher Lehne liegt eine grau-weiße Katze. Peterchen heißt sie, mit ihr ist nicht viel anzufangen, am Tag schläft sie und nachts ist sie unterwegs.

Christian gefällt sein neues Zuhause von der ersten Minute an. Im Lauf der Zeit lernt er auch die nähere Umgebung kennen. Zudem machen Rupps mit ihm ausgedehnte Spaziergänge. Bis zum Neckar ist es nicht weit, und dann über die alte Brücke zum Philosophenweg auf der anderen Seite des Flusses. Da geht es ganz schön steil den Hang hinauf. Christian sieht die Stadt im Dunst liegen.

Nirgendwo Anzeichen des Krieges: Keine zerbombten Häuser oder rußgeschwärzten Fassaden, unterwegs niemals verhärmte Frauen mit weinenden Kindern. Die Sirenen heulen nicht, am Himmel keine todbringenden Bomber. Einzig ein paar Hakenkreuzfahnen an öffentlichen Gebäuden zeigen dem Jungen, daß auch hier die Nazis an der Macht sind.

Nur drei Stunden Bahnfahrt von Frankfurt und es scheint alles in tiefstem Frieden zu leben! Wohlgefühl kommt in Christian auf. Er redet mit dem Ehepaar Rupp über diese Empfindung und freut sich darüber, daß sie sich Zeit nehmen, ihm zuzuhören. Sie selbst sagen nicht viel, lassen ihn aber reden. So beginnt er langsam, die Ereignisse der letzten Wochen zu vergessen.

Als Christian zwei Wochen nach seiner Ankunft von Frau Rupp in einer Schule angemeldet wird, ist die Erinnerung an die Holzhausenschule und die getöteten Mitschüler jedoch sofort wieder lebendig. Am ersten Schultag ist der Junge besonders unsicher, er wartet förmlich darauf, daß etwas passiert. Weit hinten in einer Bank hat ihm der Lehrer einen Platz angewiesen, neben einem Mädchen mit blonden Zöpfen, das ihn ständig von der Seite her mustert. Christians Unsicherheit nimmt zu, weil auch andere Mitschüler oft verstohlen zu ihm hinsehen.

In einer Mundart, die Christian fremd ist, hört er den Lehrer näselnd eine Geschichte vorlesen: " ... als Schlageter die ersten Soldaten sah, begeisterten ihn deren Trommelwirbel und Trompetenklänge so sehr, daß er nur den einen sehnsüchtigen Wunsch hatte, mitzumarschieren, sobald er größer wäre ... In den zwanziger Jahren wurde er erschossen, und er ist heute ein Held der 'nationalen Bewegung'." Als die Geschichte zu Ende ist, schaut Christian zum Pult und sieht den ältlichen, ungemein knochigen Lehrer an.

Seine randlose Brille sitzt ihm auf der Nasenspitze, ständig guckt er über die Gläser hinweg zu Christian hin. Der rutscht auf der Bank hin und her. Wartet auf ein gebrülltes 'Heil Hitler', auf das Kommando: Aus den Bänken! Haltung! Zur Ehre von Leo Schlageter! Still gestanden! Doch nichts dergleichen. Statt dessen näselt der Lehrer: "Oin Vorbild, dieser Schloogeder. Oin gonz großes Vorbild für aich, moine Jüngele unn Mädele." Als es kurz darauf zum Unterrichtsende läutet, rennen alle Kinder aus den Bänken. Lachend laufen sie am Lehrer vorbei auf den Schulhof. Christian stapft langsam hinterher und schüttelt den Kopf. So hat er sich den Schulalltag wirklich nicht vorgestellt. Das muß ich unbedingt Herrn Rupp erzählen, denkt er.

Schon am nächsten Tag geht Christian sicherer zur Schule. Von Beginn an redet er mit einigen Mitschülern und erfährt so von seiner Banknachbarin, daß sie Christine heißt und die Tochter eines Streckenwärters bei der Reichsbahn ist. In der großen Pause sieht sich Christian um und bemerkt, daß zwei seiner Mitschüler, Franz und Eugen, abseits der anderen an der Mauer lehnen, die den Schulhof umschließt. Franz kaut mit vollen Backen, Eugen lutscht ein Bonbon. Als Christian auf sie zugeht, wird er von Franz genau beobachtet. Eugen schaut zu Boden und murmelt Franz etwas zu. Christian fühlt Ablehnung, bereut, zu ihnen gegangen zu sein, will sich aber keine Blöße geben und daher nicht umkehren. Dabei sieht er, daß Franz seinem Freund zunickt.

Christian gibt sich einen Ruck: "Ist was?" "Hmm", kommt es von Franz herüber, der weiterkaut. "Warum seid ihr denn nicht bei den anderen?" bohrt Christian. "Wohl sehr neugierig, was?" fragt Eugen.

"Neue sind immer neugierig", stellt Franz fest. "Wenn ihr Geheimnisse habt, kann ich ja wieder gehen." Innerlich froh, einen Anlaß gefunden zu haben, will Christian gerade umkehren, als Franz sich blitzschnell von der Mauer abstößt und forsch auf Christian zugeht. Der weicht zurück.

"Wohl feige, was?" grinst Franz.

"Nur wachsam", erwidert Christian und schaut Franz an. Christian bemerkt, daß der Gesichtsausdruck von Franz nachdenklich wird, während er zu dem noch an der Mauer lehnenden Eugen geht, der sein Bonbon von der einen in die andere Backe schiebt. Die Jungen tuscheln, wobei sie Christian unentwegt im Auge behalten. Die Spannung ist so groß, daß sich Christian endgültig abwenden will. Da hört er Eugen sagen: "Wachsam ist nicht schlecht. Ob der aber dichthält?"

"Euer Getue ist mir zu dumm", beschwert sich Christian, "entweder ihr sagt es, oder ich geh wirklich."

"He", ereifert sich nun auch Franz. "Wir reden nicht mit jedem über unsere Geheimnisse."

Franz kommt näher. Ein Flackern in seinen Augen zeigt Christian, daß die Sicherheit von Franz auch nur gespielt ist.

"Wenn ich 'jeder' wär, hätt' ich euch nicht gefragt."

"Stimmt", meint Eugen.

"Du traust ihm?" fragt Franz.

"Ein wenig", antwortet Eugen. "Sag ihm nur, was wir sind. Dann sehen wir, ob er in Ordnung ist."

Während er Christian dabei genau beobachtet, sagt Franz betont langsam: "Wir sind 'Bimbos'. Erst wenn wir wissen, ob wir dir trauen können, sagen wir dir mehr."

Christian ist verärgert, beginnt aber dann die beiden Mitschüler zu begreifen ...

Er erinnert sich an die Soemmerringstraße und die Hitlerjungen, an Walter und die beiden Dieter, die Schwarze 'Nigger Bimbo' schimpften und Jazzmusik gehässig 'Nigger Bimbos Urwaldgejazze' nannten. Bimbos, behaupteten sie, sind 'Untermenschen', wie Juden und Zigeuner. Christian ist überrascht, daß Franz und Eugen es wagen, sich selbst Bimbos zu nennen.

"Aber die Nazis sagen doch Bimbo zu den Schwarzen in Amerika", platzt er heraus.

"Er hat's", staunt Eugen.

"Wenn ihr euch selbst so nennt, müßt ihr doch vor den Nazis auf der Hut sein."

"Richtig", meint Franz.

"Vor denen habt ihr also keine Angst?" fragt Christian bewundernd.

"Solange wir unter uns sind, niemals", antwortet Franz selbstsicher.

"Ihr könnt euch auf mich verlassen. Ich werd' euer Geheimnis nie verraten. Erst recht nicht an Nazis. Zu keiner Zeit! Niemals!" verspricht Christian mit großem Ernst.

"Ich glaub dir ja", antwortet Franz, "aber wir Bimbos müssen auch bei dir sehr vorsichtig sein."

"Wissen denn die anderen in der Klasse davon?" will Christian noch wissen.

"Nur Christine", verrät Eugen.

"Sie hat gemeint, wir sollten dich erst einweihen, wenn wir wissen, daß wir dir auch trauen können", setzt Franz hinzu.




Karl C. Fischer
Erwachsene Kinder
Buchverlag Andrea Schmitz Overath, 1996
Erschienen mit Unterstützung des Werkreises Literatur der Arbeitswelt e.V.
2. Auflage 1998


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