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Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

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Literatur
Eine Anklage des Jungen Christian gegen die Kriege dieser Welt
Erwachsene Kinder (6)
Von Karl C. Fischer

"Der Krieg entlässt seine Kinder. Aber: Es sind keine! Sind erwachsene Kinder. Kinder, die nicht Kind sein konnten, durften. Kinder, um ihre Kindheit, das heißt vor allem um die Unbedarftheit gebracht. Denn ihnen blieb keine andre Chance, als mit überlebensgroßem Überlebenskampfgeist zu Werke zu schreiten", schreibt Ulrich Land über die autobiografische Geschichte "Erwachsene Kinder" des Kölner Schriftstellers Karl C. Fischer. Die NRhZ bringt daraus – auch und insbesondere im Hinblick auf die zunehmend bedrohliche NATO-Aggression gegenüber Russland – eine Reihe von Auszügen... Und vorerst die letzte: Soviel Hoffnung fasste Christian im neuen Freundeskreis, soviel Entsetzen packte ihn. Christian und Christine. Ein zarter Zauber findet sein Ende im Undenkbaren. – In der nächsten Ausgabe bringt die NRhZ den bisher unveröffentlichten Aufsatz „Weißer Jahrgang“ über die Basis seiner pazifistischen Haltung. Im April 2017 vollendete Karl C. Fischer sein 80stes Lebensjahr.

Es ist Montag und die Morgensonne scheint auf die vorderen Bänke. Die Deutschstunde hat noch nicht begonnen. Solange Herr Schüßler noch seine Bücher ordnet und in seiner Tasche kramt, reden die meisten Schüler leise miteinander. Einer erzählt von einem Hund, der ihnen zugelaufen ist. In der Bank hinter Christian berichtet ein Mädchen vom Sonntagsspaziergang zum Schloß.

Christine sieht in ihr Lesebuch. Christian beobachtet den Lehrer, der über seine Brillengläser hinweg, gelegentlich strafend zur Klasse hinschaut. Das Gemurmel verstummt, als Herr Schüßler hinter das Pult tritt und das Lesebuch aufschlägt. Auf die Hände gestützt, beugt er sein schmales Gesicht so tief über das Buch, daß seine Nasenspitze fast darin verschwindet, und beginnt näselnd: "Seite sechs. Wanderlied von Emanuel Geibel."

Alle Schüler haben ihre Lesebücher vor sich. Sie wissen, daß der Lehrer vorlesen wird und sie laut mitlesen müssen.

"Der Mai ist gekommen", beginnen sie stockend im Chor, wobei einige verspätet einsetzen.

Da öffnet sich knarrend die Tür des Klassenzimmers. Einige Stimmen brechen jäh ab, andere später, aber alle blicken dem dicken Jungen entgegen, der zu spät kommt. "Wieder mal der Mai", hört Christian neben sich Christine murmeln. Angewidert zieht sie die Nase hoch, lächelt dann Christian an. Der nickt verstehend, bleibt aber ernst. Unterdessen entschuldigt sich Günter Mai beim Lehrer am Pult, hat in seiner Bank in der vorderen Reihe Platz genommen und legt sein Lesebuch vor sich hin. "Der Mai ist gekommen", näselt der Lehrer.

Statt gemeinsam zu wiederholen, lachen die meisten. Einige leise, andere laut. Christian schmunzelt nicht einmal, beobachtet nur den Lehrer, der sich die Blöße gab, seinen Schützling wegen des Zuspätkommens ungewollt zu verspotten. Mit Günter Mai will keiner was zu tun haben, weil er unkameradschaftlich ist und stets vom Lehrer bevorzugt wird.

Was wird jetzt geschehen? überlegt Christian. Läßt der Lehrer sich das Gelächter der Klasse bieten? Christian kann nicht mitlachen. Er erinnert sich wieder an den Nazilehrer Zeckmann, an die Wut, die in ihm kochte und die Scham, als er sich über dessen Tod freute.

"Nun lach doch endlich auch mal", kichert Christine und stößt ihn dabei in die Seite.

"Jetzt nicht."

"Guck doch mal, wie der dasteht!"

"Jetzt lachst du, doch was machst du, wenn der, nur weil du grinst, dir eine überzieht?"

Christine schweigt erschrocken und starrt in ihr Lesebuch. Nun tut es Christian leid, daß er sie so anfuhr. "Ich wollte dich nicht kränken", sagt er warm.

"Ach was", gibt sie zurück. "Aber nachdenken werd' ich doch wohl noch dürfen, wenn du mich schon was fragst." Als es zur Pause läutet, bleibt Christine gegen ihre Gewohnheit in der Bank sitzen. Sie schlägt das Lesebuch zu, schaut Christian an und sagt: "Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Ein Lehrer, der mich schlägt, bloß weil ich grinse. Aber wenn das passiert, was glaubst du, was dann mein Vater tut!"

"Ja, was denn?"

"Bist du doof." Christine faßt sich mit beiden Händen an den Kopf. Spielt Verzweiflung und lacht dabei. "Was Eltern eben tun, dem Lehrer eine Standpauke halten, oder sogar den Direktor anzeigen. Nee ... nee ... wegen einem Grinsen.

Ja, wenn ich dem Lehrer einen Knallfrosch in das Katheder gelegt hätte, oder Niespulver ins Klassenbuch ..."

Jetzt erst beginnt Christian zu lächeln.

"Kommt ihr denn nicht auf den Hof?" ruft da Eugen von der Klassentür her.

"Auf los geht's los", lacht Christine, "wer als erster unten ist... "

Als sie fast gleichzeitig auf dem Schulhof ankommen, stößt Christine atemlos hervor: "Ich ... ich ... kann dich gut leiden ... aber, wenn wir Freunde beiben wollen, mußt du mir mehr von dir verraten."

"Keinem lieber als dir", keucht Christian und lacht. "Na dann los", ermuntert ihn Christine. "Bitte, ich ... ich kann jetzt nicht." "Na, dann ein ander Mal", lächelt sie. Christian überlegt, wie er anfangen soll. Er will Christine erzählen, was er erlebt hat und verraten, wie er denkt. Er möchte ihr sagen, daß sie ihm mehr bedeutet als seine Eltern. Aber auch, daß er Angst hat, sie zu verlieren, wenn er das sagt. — Kann sie verstehen, wie es zwischen mir und meinen Eltern steht? Ich weiß doch, daß sie ihre Eltern und vor allem ihren Vater über alles liebt. Auch bei mir war das mal so, aber seit dem Bruch mit ihm im Holzhausenpark kann ich ihn nicht mehr richtig mögen. Wird sie böse, wenn ich ihr das sage? Ach, würde doch was geschehen, damit ich Christine alles sagen kann.

Tage vergehen. Christian hat noch immer nicht mit Christine gesprochen, und es ist schon Samstag. Nach der Schule geht Christine mit ihm Richtung Römerstraße. Als sie abbiegen muß, sagt sie: "Morgen ist in der Stadt was los. Da treibt der Sommer den Winter aus. Vater hat keine Zeit und Mutter hat Waschtag. Gehst du mit? So als Begleitung?"

"Klar", antwortet Christian fröhlich.

"Ich hol dich ab. Um zehn. Morgen früh."

Damit geht sie in die andere Richtung und Christian schaut ihr hinterher. Morgen werde ich bestimmt mit ihr reden, denkt er.

Am nächsten Tag ist eine Menschenmenge vor der Heiliggeistkirche versammelt. Auf einem Podium zwei riesige Figuren. Eine in bunten Tüchern mit Blumen im Haar, die andere ist aus Stroh. "Das ist der Winter", erklärt Christine. Die Riesenpuppen gehen aufeinander los. Noch hat der Winter die Oberhand und versucht, den Sommer vom Podium zu drängen. Der aber wehrt sich, wirkt stärker und schiebt den Winter langsam wieder zur Mitte. "Som ... mer, Som ... mer", schreit die Menge. "Gleich wird's spannend", sagt Christine aufgeregt und faßt Christian bei der Hand.

Christian erschrickt. Am Winter züngeln plötzlich Flammen empor. Der Mann, der die ganze Zeit in der Strohpuppe steckte, springt rechtzeitig aus der Figur und vom Podium herunter. Laut jubelt die Menge: "Der Winter soll brennen ... der Winter..."

Christian kann nicht mehr hinsehen. Ihm fällt die alte Frau in der Fichardstraße ein. Sie stand am brennenden Fensterkreuz. Hinter ihr loderte es. 'Springen Sie doch', rief einer von unten. Dann stürzte das Haus in einem Funkenregen in sich zusammen. Steine prasselten, Balken donnerten flackernd herunter. Begruben alles in einem Meer tosender Flammen. Der Schrei der Frau war noch zu hören. Da erst spürt Christian den Arm, der sich um ihn legt. Es ist Christine. Das tut gut.

"Wir gehen jetzt runter zum Neckar", sagt sie ruhig und dann redest du endlich mal mit mir."

Typisches Aprilwetter verscheucht die beiden vom Neckar. Sie rennen zur Alten Brücke und ziehen sich gegenseitig, damit es schneller geht. Springen durch Wasserpfützen, laufen zur Promenade und kommen durchnäßt am Ziel an. Unter einem der jahrhundertealten Brückenbogen finden sie Schutz und schütteln sich lachend wie nasse Hunde. Nach einer kurzen Verschnaufpause sagt Christian unschlüssig: "Und jetzt?"

"Können die zu Hause lange auf uns warten", kichert Christine.

"Aber die Rupps sind nicht so locker wie deine Eltern." "Dann kommst du eben zu uns."

Aus allem, was Christine sagt und tut, spürt Christian, daß sie ihm Mut machen will. Sie denkt genauso wie er, nimmt aber alles nicht so ernst. Es gefällt ihm, daß sie seine Gefühle achtet. Wieso nur? Warum gelingt ihr das so viel besser als den Erwachsenen? Die reden nur immer von ihren Erfahrungen und glauben mir meine nicht oder halten sie für Kinderei. Was hatte Christine gesagt, bevor der Schauer einsetzte? 'Eins weiß ich, ein Lügner bist du nicht. Ich glaube dir aufs Wort.' Als er sie daraufhin gefragt hatte, warum, waren ihr zwei Gründe eingefallen: 'Weil du geweint hast und so gezittert hast. Ich fühl das. Du hast mich nicht getäuscht. Aber auch, weil du mir ganz schreckliche Sachen erzählt hast, die ich auch von meinem Vater weiß. Er sagt aber auch, daß es so etwas heute in Heidelberg nicht mehr gibt und daß bald Frieden ist.' Christine sieht Christian nachdenklich an und meint dann: "Schon wieder so ernst? Wenn es dir bei uns nicht gefällt, geh ich auch mit dir zu den Rupps." "Das würdest du tun?"

"Warum nicht", antwortet Christine und setzt grinsend hinzu: "Ich tu' noch ganz andere Sachen." "Was zum Beispiel?" fragt Christian.

"Wird nicht verraten. In drei Tagen, am Mittwoch, zu Führers Geburtstag, kannst du's sehen."

Christian erschrickt. Was hat sie vor? Will sie sich ihm zuliebe gar in Gefahr begeben? Mutproben lehnt er ab, seinetwegen erst recht.

"Bitte, bitte, sag mir, was du vorhast", fleht Christian. "Zum Teufel noch mal", erregt sich Christine, "immer bist du so ernst. Immer machst du dir Sorgen. Jetzt auch noch um mich. Ich find' dich ja in Ordnung, auch wenn du mal weinst oder aufgeregt bist. Ich will aber keinen Freund, der immer nur ernst ist."

"Bitte", unterbricht Christian.

"Ich will doch nur, daß du mal wieder richtig lachst."

"Aber ich ... "

"Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.

Außerdem habe ich noch einen Vater. Sieh lieber mal raus, ich glaube, es hört langsam auf zu regnen auf."

Für den Augenblick möchte Christian ihr jetzt nicht widersprechen und stellt fest, daß es draußen nur noch leicht nieselt. Es ist schon fast dunkel und beginnt, kalt zu werden.

"Geh'n wir nun zu den Rupps oder zu dir?" fragt er.

"Bring mich nach Hause", fordert sie ihn auf, "und denk mal darüber nach, was ich dir gesagt habe."

Dienstags darauf in der Schule, eine kurze belanglose Unterhaltung mit Christine in der großen Pause und Gerede mit Franz wegen des morgigen Feiertages. Vom Lehrer der Hinweis, daß morgen alle Schüler in besonders sauberer Sonntagskleidung erscheinen sollen. Auf dem Heimweg nochmals der Versuch, aus Christine herauszuholen, was sie denn für morgen ausgeheckt habe. Ihr lächelndes Schweigen. Bei Rupps das übliche Geldzählen,

Aufgaben machen und ein Gedicht lernen. Nach dem Abendessen ein kurzes Herumtollen mit Peterchen, der Katze. Im Bett dann die Gedanken, sich Herumwälzen in den Kissen.

Immer wieder fragt sich Christian, was seine Freundin machen will? Muß er sie vor Unüberlegtem bewahren? Hat sie vielleicht doch recht, daß es in Heidelberg weniger schlimm ist? Was soll er tun? Grübelnd dreht er sich zur Wand und schläft irgendwann mit dem Vorsatz ein, daß er ihr in jedem Fall helfen wird, wenn sie ihn braucht. Jetzt erst lächelt er still.

Am nächsten Morgen tritt Christian gegen Viertel vor sieben aus dem Haus. Ihn fröstelt. Sein dunkelgrauer Anzug mit der kurzen Hose ist ihm lästig. Vor dem Frühstück hat er ein letztes Mal die schwarzen Sonntagsschuhe auf Hochglanz gebracht. Die weißen Kniestrümpfe sind ganz neu.

Schnell macht sich der Junge auf den Weg, um vor Christine am Treffpunkt zu sein. Ecke Römer- und Blumenstraße bleibt er stehen und wartet. Dann sieht er sie näherkommen. Sie winkt. Ihre blonden Zöpfe schwingen im Takt ihrer Schritte.

Sie hat eine weiße Bluse an, und ihr dunkelblauer Rock flattert im Wind. Als Christine vor ihm steht, reckt sie sich und sieht ihn herausfordernd an: "Was sagst du jetzt?" Christian sieht es erst beim zweiten Blick: das bronzene Abzeichen aus der Kommodenschublade von Christines Eltern. Das mit den drei Pfeilen. Auf der Bluse steckt es. "Christine!" sagt er erschrocken. "Jetzt weißt du, was ich vorhatte." "Aber das ist doch verbo ..."

"Die Bimbos sind auch verboten, Christian. Sie treffen sich trotzdem", antwortet das Mädchen selbstbewußt.

"Aber zu Hitlers Geburtstag, das Symbol der Eisernen Front. Das ist doch eine Herausforderung."

"Bei Schüßler", lacht Christine, "der durch die Nase 'moine Mädele' sagt? Sag selbst, ist doch zum Lachen."

Dann nimmt sie ihn bei der Hand und zieht ihn mit sich fort. Alle Zweifel der vergangenen Nacht sind zerstoben. Sie kann nur recht haben, denkt Christian auf den letzten Metern. Auf dem Schulhof beginnt auch er zu lachen.

In der Klasse, an der Wand hinter dem Lehrerpult, hängt ein überlebensgroßes Bild Adolf Hitlers, von Blumengirlanden umkränzt und mit Hakenkreuzfähnchen oben in den Ecken. Auf dem Pult liegt ein aufgeschlagenes Buch wie in der Kirche auf dem Altar die Bibel. 'Mein Kampf heißt es. In ihm stehen 'die Worte des Führers'. Das weiß Christian aus der Holzhausenschule. Die Erinnerungen überfallen ihn. Während er mit Christine hinten an seinen Platz geht, ist ihm das Lachen vergangen. Auch die Klasse wirkt ungewöhnlich still. Einer hustet, als der Lehrer in einem grauen Sonntagsanzug hereintritt.

"Heil Hitler!" grüßt der Lehrer, hebt aber den Arm nur gemächlich.

Christian vergleicht die näselnde Stimme mit dem Kommandoton von Zeckmann, während die Klasse aufsteht und aus den Bänken tritt. Der Lehrer geht zum Pult und rückt die Brille zurecht, räuspert sich, beugt sich tief über das Buch und beginnt mit der Feierstunde: "Adolf Hitler sagt: Wer leben will, der kämpfe also, und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht."

Schweigen. Ein Junge in der vorderen Bank putzt sich geräuschvoll die Nase. Der Lehrer nimmt einen Zettel aus dem Buch und hält ihn dicht vor seine Augengläser. Mit einer weit ausholenden Geste fährt er fort: "Für euch Kinder steht der Führer vor dem ganzen deutschen Volk.

Ihm zu Ehren feiern wir heute seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag. Für euch Kinder und für eure Zukunft wagt Adolf Hitler den Kampf mit der ganzen Welt. Heute werdet ihr daran erinnert, daß ihr eines Tages den Kampf des Führers des Deutschen Volkes fortsetzen müßt. Für euch schickt der Führer unsere heldenhaften Soldaten an allen Fronten in die Schlacht um Deutschland. Hab' Dank für deinen unermüdlichen Kampf, Führer, Partei und deutsches Volk. Heil Hitler!"

Noch ehe sie sitzen, geschieht es: Erschrecken auf vielen Gesichtern — zuerst bei dem Lehrer. Er starrt nach hinten und nimmt die Brille ab. Anfänglich steht er mit offenem Mund da. Plötzlich stürmt er zu den rückwärtigen Sitzreihen und brüllt, daß es von den Wänden widerhallt. Seine magere Figur zittert vor Erregung. Noch im Lauf hebt er beide Arme. So, als wolle er alle Kinder gleichzeitig in die Bänke hineinprügeln. Sein Verhalten ist so ungewöhnlich, daß alle sprachlos sind. Mehrere Schüler legen ihre Köpfe zwischen die Arme und drücken sich in ihre Sitze. Christian hockt nur da und sieht zur Seite. Dann erkennt er, daß seine Freundin in die Schulbank hineinkriecht.

Schon ist der Lehrer über ihr. Erwischt ihr rechtes Ohr. Dreht es wie einen Lappen. Schmerz zwingt sie, den Kopf hochzunehmen. Sie preßt die Lippen zusammen. Da ergreift er ihre Zöpfe. Reißt daran. Sie versucht, sich an der Bank festzuhalten, aber er zerrt sie hoch. Ihr angstvoller Blick trifft Christian wie ein Pfeil. Der Junge springt auf. "Wag es nur!" brüllt der Lehrer und hebt drohend die Hand. Christian weicht zur Seite. Beißt die Zähne aufeinander. Christine schreit auf. Der Lehrer schleift das Mädchen über den Boden. Franz und Eugen springen gleichzeitig von den Sitzen. Starren auf Christian. Sogar Günter Mai steht schon.

"Sitzen bleiben!" befiehlt der Lehrer, "der hilft keiner
mehr!"

Christian begreift sich selbst nicht. Warum hilft er ihr nicht? Er hatte es sich doch so fest vorgenommen.

Der Lehrer ist außer sich. Er schleppt die sich tapfer wehrende Christine zum Pult.

"Miststück! An Hitlers Geburtstag! Entehrung der Schule ... der Stadt... der ganzen Nation! Pfui!"

Christian geht langsam nach vorn, trifft auf Günter Mai, Franz und Eugen treten hinzu. Sie blicken sich an. Der Lehrer läßt einen Augenblick von dem Mädchen ab und reißt das Fenster auf. Die Jungen machen einen Schritt nach vorn. Christine versucht aufzustehen.

"Polizei! Polizei!" schreit Schüßler auf den Schulhof hinunter. Dann ist er wieder bei Christine und stößt sie zu Boden.

Christian fällt ein, daß die Polizeiwache unten am Rande des Hofes untergebracht ist. In wenigen Minuten wird ein Uniformierter in die Klasse gestürmt kommen. Mit dem werden wir auch zu Viert nicht fertig! Auch die drei Mitschüler müssen ähnliche Gedanken haben, greifen aber nicht ein. Die Kinder in den Bänken verfolgen das Ganze gespannt und stumm.

"Dein Vater... Vaterlandsverräter! Nicht wert, ein Deutscher zu sein!"

Ruckartig geht die Klassentür auf. Ein baumlanger Polizist in blaugrauer Uniform, mit einem Tschako auf dem Kopf und einem breiten, schwarzen Lederkoppel um den Leib, geht mit eiligen und festen Schritten auf den tobenden Lehrer zu.

"Da, sehen Sie!" schreit der und zeigt auf das Abzeichen.

Der Polizist greift wortlos das zappelnde Etwas aus der Faust des Lehrers und schleift es zur Tür. Christine wehrt sich mit Händen und Füßen. Beißt in die Hand des Beamten. Der tritt nach ihr mit seinen eisenbeschlagenen Stiefeln. Einen Augenblick lang ist es totenstill. Christian hat das Gefühl, der brutale Tritt habe das Leben seiner Freundin ausgelöscht. Doch plötzlich schreit sie wieder auf, lauter, jammernder als zuvor. Tränen laufen ihr die Wangen herunter. Nun glimmt in Christian Haß. Den mach ich kaputt, pocht es in ihm. Immer wieder. Sie stehen immer noch zu viert schweigend im Raum und hören die sich entfernenden Schreie des Mädchens auf dem Gang. Die Tür steht offen. Dann ein alles übertönender, durchdringender Schmerzensschrei unten im Hof. Danach absolute Stille ...

Jetzt hält Christian nichts mehr. "Los!" schreit er, stößt den Lehrer zur Seite, rennt wie im Fieber den Gang, dann die Treppen hinunter. Er nimmt kaum wahr, daß die Mitschüler mit ihm zusammen die Polizeiwache stürmen. Es sind mehr als vier, stellt Christian fest, als er sich kurz umdreht. "Wir wollen unsere Klassenkameradin!" schreit Christian. "Raus hier, aber sofort!" brüllt ein Polizist und macht sich an seinem Koppel zu schaffen. "Sie ist hinten im Raum", ruft Franz.

Alle rennen um das kleine Gebäude. Ein Fenster steht offen. Als sie ankommen, wird es von innen zugeschlagen. Christian hat sie noch ein letztes Mal gesehen. Sie lag am Boden. Ihre weiße Bluse war zerrissen. Die Augen starrten zur Decke.

Christian läuft wie von Sinnen zum Neckar unter den alten Brückenbogen. Da übergibt er sich. Tränen hat er keine. Christine wird am Freitag beigesetzt. In einem schmalen Reihengrab auf dem Bergfriedhof. Dahinter ein Ginsterbusch und frische, schwarz-braune Erdhügel. Wenige Blumen, zwei Kränze. Einige Mitschüler mit ihren Eltern, auch Frau Rupp und Christian. Der Pfarrer sagt etwas von frühem Tod. Spricht von einem Unlücksfall und daß die
Hinterbliebenen die Verstorbene in Erinnerung behalten werden. Doch Christines Eltern sind nicht anwesend ...

Christian war zu ihrer Wohnung gegangen. Einen Tag, nachdem das Schreckliche geschehen war... Nachdem er fast eine ganze Nacht zornig und voll quälender Gedanken unter der alten Brücke verbracht hatte, kam er wie zerschlagen in die Römerstraße zurück. Dort mußte er schwere Vorwürfe einstecken, weil er nicht zur Schule gegangen war. Anschließend wollte er Christines Eltern aufsuchen, traf sie aber nicht mehr an. Ihr Türschild hatte man schon entfernt. Ein Nachbar sagte nur unfreundlich: "Die Leut' sinn' verzooche." Ein alter Herr im Parterre wußte, daß Christines Eltern Hals über Kopf zu Freunden nach Handschuhsheim geflohen waren. Er nannte sogar deren Anschrift. Mit der Straßenbahn fuhr Christian hin. Dort sagte man ihm, daß zwei Männer in Ledermänteln Christines Vater in ein Auto gestoßen hätten. Von Frau Schlosser wußte man nur, daß sie kurz zuvor mit einem Koffer über die nahen Felder eilig davongelaufen war...

Christian wirft Blumen auf den Sarg. In ihm wütet es weiter, doch er läßt sich nichts anmerken. Drückt Hände, nimmt hinter den Trauermienen hämische Fratzen wahr und preßt die Lippen aufeinander. Da er nach Hause drängt, ist Frau Rupp bereit, nicht mit den anderen ins Cafe zu gehen und verabschiedet sich.
Bei Rupps sitzt der Junge eine Weile herum und beschäftigt sich schließlich mit Peterchen. Standhaft wehrt er sich später, Herrn Rgpps Barschaft zu zählen und lehnt sogar das Abendbrot ab. Früh ist er im Bett und kann auch einschlafen. Mit einem Mal aber schreit er auf: "Verfluchter Nazi!"

"Ruhe, Christian!" ruft es aus dem Wohnzimmer.

"Ich werd' dich abmurksen! Ich stürm' in die Polizeiwache.

Mit 'ner Pistole ... ach was, mit einer Handgranate!"

Der Pflegevater klopft an die Tür: "Christian!"

"Feuer ist noch besser", brüllt Christian. "Brennen sollst du feiges Schwein!"

Herr Rupp kommt an Christians Bett und rüttelt ihn. "Still jetzt", sagt er verhalten. "Beruhig dich."

Christian schlägt um sich und wirft das Bettzeug weg. "Eine Mine soll den Nazi töten!"

Jetzt packt Herr Rupp den Jungen am Nachthemd.

Während er versucht, ihn aus dem Bett zu ziehen, sagt er laut: "Komm zu dir!"

"Um Gottes Willen, Christian", ruft nun auch Frau Rupp von der Schlafzimmertür her, "die über uns hören das doch."

"Die sind doch in der Partei", unterstreicht Herr Rupp.

Das macht den Jungen noch wütender: "Töten! töten! Ihn töten!" tobt er. "Den Nazi töten!"

Plötzliche Stille. Christian fällt schwer atmend zurück. Frau Rupp flößt ihm Medizin ein und deckt ihn zu. Nach einer Weile gehen die beiden leise aus dem Zimmer. Christian hört, daß Herr Rupp nebenan sagt: "Es war ein Wunder, wenn die nichts mitbekommen hätten und schwiegen."

Im Laufe der Nacht kommt Peterchen durch das stets offene Fenster herein, legt sich zu Füßen des Jungen, dreht sich auf der Stelle und kuschelt sich dann ein. Christian fühlt das wärmende Fell der Katze.

"Du kannst es verstehen. Hilf mir, ihn zu töten", bittet er flüsternd und sieht im Mondlicht, wie Peterchens Ohren spielen.

Am Morgen steht Christian früh auf und frühstückt. Er tut so, als sei nichts gewesen. Wie sonst geht er mit Schulbrot und Büchern aus dem Haus. An der Schule vorbei schlendert er zum Neckar. Dort setzt er sich ans Ufer, öffnet die Schultasche und entnimmt ihr Hefte, später die Bücher. Zuerst reißt er einzelne Seiten heraus und zerknüllt sie. Dann wirft er sie in die Wellen. Immer schneller geht es. Am Ende schleudert er sogar sein Tagebuch hinterher. Es platscht aufs Wasser. Die Schrift auf dem Einband zerfließt langsam. Auf dem Deckel stand in Schönschrift: Für Christine.

Als Christian heimkommt, hört er aus dem Wohnzimmer Weinen. Frau Rupp sitzt im Sessel. Sie sieht dem Jungen entgegen.

"Zwei Männer haben meinen Mann abgeholt", schluchzt sie. "Zwangsarbeit muß er machen, an der Saar, unter Tage."

Später, beim Abendbrot, sagt sie: "Ich hab schon deiner Mutter geschrieben. Du kannst jetzt nicht mehr bleiben." "Und ich bin schuld?" fragt der Junge betroffen und sieht der Frau in die Augen. Dabei fühlt Christian einen bohrenden Schmerz in seinem Innern und spürt, daß er versagte, als ihn Christines angstvoller Blick traf. "Ein wenig schon", antwortet Frau Rupp und nippt an ihrem Tee. "Mein Mann ist herzkrank. Die Arbeit in der Grube wird ihn töten."




Karl C. Fischer
Erwachsene Kinder
Buchverlag Andrea Schmitz Overath, 1996
Erschienen mit Unterstützung des Werkreises Literatur der Arbeitswelt e.V.
2. Auflage 1998


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