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Kommentar
Französische Präsidentschaftswahlen 2017
Der israelische Macron
Von Uri Avnery

EIN TIEFER Seufzer der Erleichterung, direkt aus dem Herzen. Als ich zehn Jahre alt war, floh meine Familie aus Nazi-Deutschland. Wir hatten Angst, dass die Gestapo hinter uns her war. Als wir uns der französischen Grenze näherten, nahm unsere Angst zu. Als unser Zug über die Brücke zwischen Deutschland und Frankreich fuhr, seufzten wir erleichtert auf. Es war fast derselbe Seufzer. Und wieder schickt Frankreich eine Botschaft der Freiheit. Emmanuel Macron (Emmanuel ist ein hebräischer Name und bedeutet „Gott ist mit uns“) hat die erste Runde gewonnen und es ist sehr wahrscheinlich, dass er auch die zweite Runde gewinnen wird. Das ist nicht nur eine französische Angelegenheit. Es betrifft die gesamte Menschheit.

ZUERST EINMAL hat es einen Bann gebrochen. Nach der Entscheidung für den Brexit und die Wahl Donald Trumps entstand der Mythos, dass sich eine dunkle, extrem rechte, faschistische oder faschismusähnliche Welle unaufhaltsam über die demokratische Welt ergießen müsse: ein Gebot des Schicksals, eine höhere Macht, force majeure. Zuerst Marine Le Pen. Dann der abscheuliche Niederländer. Dann die Rechten in Osteuropa. Überall werden sie die Demokratie zerschlagen. Daran ist nichts zu ändern. Und hier kommt einer, von dem niemand je gehört hat, und bricht den Bann. Er zeigt, dass anständige Leute sich zusammentun und den Lauf der Geschichte ändern können. Das ist die bedeutsame Botschaft nicht nur für Frankreich, sondern für alle. Sogar für uns in Israel.

NOCH IST es nicht vollbracht. Die zweite Runde liegt noch vor uns. Wenn wir die Landkarte der ersten Runde ansehen, ist der Anblick beunruhigend genug. Le Pen hat große Teile Frankreichs erobert, den Norden und fast den gesamten Osten. Noch droht die Katastrophe. Angesichts dieser Möglichkeit stellen sich alle anderen Kandidaten hinter Macron. Das ist anständig. Besonders edel ist es von den konkurrierenden Kandidaten, von denen man eigentlich nicht erwarten kann, dass sie ihn mögen. Die einzige Ausnahme ist der extrem linke Kandidat Jean-Luc Melenchon, der von den Kommunisten unterstützt wurde. Für ihn sind Le Pen und Macron vom selben Schlag. Für Menschen mit einem Geschichtsgedächtnis klingt das unheilvoll.

1933 griffen die deutschen Kommunisten die Sozialisten stärker an als sie Hitler angriffen. In einigen großen Streiks arbeitete die „Rote Front“ sogar mit Hitlers SA-Leuten zusammen. Ihre Theorie war, dass sowohl Hitler als auch die Sozialisten Handlanger der Kapitalisten seien. Und sie waren sicher, dass der lächerliche Hitler, nachdem er ein paar Monate an der Macht gewesen war, verschwinden und den Weg für die Weltrevolution freigeben werde. Sie hatten gute Gelegenheit, ihre Dummheit zu bereuen, als sie gemeinsam mit den Sozialisten in den Nazi-Konzentrationslagern saßen. Die französischen Kommunisten jener Zeit lernten ihre Lektion. Drei Jahre später bildeten sie eine Einheitsfront mit den französischen Sozialisten und der jüdische Sozialist Leon Blum wurde zum Ministerpräsidenten gewählt. Inzwischen haben sie diese Lektion anscheinend vergessen. Doch scheint in diesem Augenblick der Sieg Macrons ziemlich sicher. Inschallah, wie unsere arabischen Freunde sagen.

DER INTERESSANTESTE Aspekt der französischen Wahl ist, ebenso wie der der amerikanischen Wahl und sogar der des britischen Referendums: das Ende der Parteien. Jahrhunderte lang haben politische Parteien den öffentlichen Schauplatz beherrscht. Die politische Partei war ein wesentlicher Bestandteil des politischen Lebens. Gleichgesinnte gründeten eine politische Vereinigung, veröffentlichten ein Programm, wählten einen Führer und stellten sich zur Wahl. Leider ist es jetzt nicht mehr so. Das Fernsehen hat das alles geändert. Das Fernsehen ist ein sehr mächtiges, aber auch sehr begrenzendes Medium. Es zeigt Menschen. Tatsächlich zeigt es meist Köpfe. Ein sprechender Kopf übt eine starke Wirkung auf den Zuschauer aus. Das Fernsehen zeigt keine Parteien. Es kann über Parteien sprechen, aber es kann sie nicht wirklich zeigen. Es kann nicht einmal Partei-Programme zeigen. Jemand könnte sie im Fernsehen vorlesen, aber das wäre langweilig. Nur wenige Zuschauer würden da wirklich zuhören.

Daraus ergibt sich in der modernen Politik: Der Führer bekommt immer größere Bedeutung und die Partei und ihr Programm verlieren zunehmend ihre Bedeutung. Ich sage da nichts Neues, das ist alles schon viele Male zuvor gesagt worden. Aber dieses Jahr beherrscht dieser Umstand die Ergebnisse. Das Ergebnis beim Brexit überschreitet die Parteilinie. Die Laborparty, die über Generationen eine starke Ausstrahlung hatte, bricht anscheinend auseinander. Donald Trump repräsentierte offiziell die Republikanische Partei, aber tat er das wirklich? Anscheinend mag sie ihn gar nicht, sein Zugriff auf sie war praktisch eine feindliche Übernahme. Trump wurde gewählt, nicht die Partei oder ein (nicht vorhandenes) Programm.

Das waren außerordentliche Ereignisse. Aber die französischen Wahlen fanden in gewöhnlichem, traditionellem Rahmen statt. Das Ergebnis war, dass alle traditionellen Parteien vernichtet und alle Programme vom Winde verweht wurden. Daraus erstand eine Person ohne Partei und ohne Programm mit so gut wie keiner politischen Erfahrung. Macron sieht im Fernsehen gut aus, er klingt auch gut im Fernsehen, er war ein gutes Gefäß für Stimmen, die in erster Linie abgegeben wurden, um den Faschisten Einhalt zu gebieten. Das ist eine Lektion, und zwar nicht nur für Frankreich, sondern für alle demokratischen Länder.

AUCH FÜR Israel ist es eine Lektion. Eine sehr wichtige. Wir haben schon gesehen, wie alles anfing. Jetzt haben wir einige Nicht-Parteien mit Nicht-Programmen, die fest in der Knesset Fuß gefasst haben. Zum Beispiel die Partei des gegenwärtigen Verteidigungsministers Avigdor Lieberman. Er ist aus Moldawien eingewandert und errichtete eine „Partei“, die sich an Einwanderer aus der Sowjetunion wandte. Es ist eine Partei ohne interne Wahlen. Alle Kandidaten werden von dem Führer ausgewählt und nach (seiner) Laune ausgewechselt. Sie hat kein wirkliches Programm, sondern sie riecht nur stark nach Faschismus. Lieberman ist ihr einziger Sprecher im Fernsehen. Er führte sich mit einer stark antireligiösen Botschaft ein, die sich an die „russischen“ Wähler wandte, aber langsam dreht er sich. Keiner seiner Leute wagt es, Fragen zu stellen.

Eine sehr ähnliche Situation herrscht in der „Partei“ von Ja’ir Lapid. Er ist der Sohn einer Fernseh-Persönlichkeit mit fast faschistischen Ansichten und ein gut aussehender und einschmeichelnd sprechender Bursche ohne jede Idee und er hat jetzt in den Umfragen Netanjahu geschlagen. Kein Programm, nur eine Partei, die sein persönliches Werkzeug ist. Er allein ernennt alle Kandidaten. Er allein tritt im Fernsehen auf. Auch er führte sich als antireligiös ein und drehte sich. (Man kann in Israel ohne die religiösen Parteien nicht an die Macht kommen, es sei denn, man wäre bereit – was Gott verhüten möge –, mit den arabischen Parteien zusammenzuarbeiten.)

Der ehemalige Likudangehörige nordafrikanischer Herkunft Mosche Kachlon hat kürzlich eine persönliche Gruppe errichtet, keine wirkliche Partei, kein wirkliches Programm. Auch er ernennt alle Kandidaten auf seiner Liste. Er ist jetzt Finanzminister. Die Arbeitspartei, die einmal als allmächtige Kraft 44 Jahre nacheinander die politische Szene beherrschte – vor und nach der Entstehung des Staates –, ist jetzt eine erbärmliche Ruine und ähnelt stark ihrer französischen Entsprechung. Ihr Führer Jitzchak Herzog ist François Hollande zum Verwechseln ähnlich. Und dann gibt es da einen, der das Fernsehen meisterhaft beherrscht: Benjamin Netanjahu, der intellektuell bedeutungslos ist, dessen Haarfarbe ständig wechselt und der für und gegen die Zweistaatenlösung und für und gegen alles andere ist.

WAS KÖNNEN wir von Frankreich lernen? Nicht verzweifeln, wenn es so aussieht, als ob wir auf dem Weg in die Katastrophe wären. Vor dem Fatalismus in den Optimismus fliehen. In den Optimismus und ins Handeln. Aus dem Nichts kann eine neue Person erstehen. Aus den Ruinen der etablierten Parteien kann eine neue politische Kraft auftauchen, jemand, der die alte Redeweise von links und rechts ausmustert und eine neue Sprache von Frieden und sozialer Gerechtigkeit spricht. Hallo, du da draußen! Worauf wartest du noch? Das Land wartet auf dich!


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.


Weitere Einschätzungen zu den französischen Präsidentschaftswahlen:

Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait
Debakel für traditionelle Parteien - Frankreich und Europa
NRhZ 611 vom 03.05.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23771

Irene Eckert
Ein Paradestück in Sachen Propaganda
NRhZ 611 vom 03.05.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23765




Online-Flyer Nr. 611  vom 03.05.2017

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