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Inland
Über die Glaubwürdigkeit eines Kanzlerkandidaten
Schulz setzt auf Vergesslichkeit
Von Andreas Wehr
In einem Interview der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« verriet Sigmar Gabriel deren Lesern, weshalb Martin Schulz der richtige Spitzenkandidat für die SPD sei: »Er ist nicht Teil der vielen Konflikte, die ich in meiner Zeit als Vorsitzender der SPD ja austragen musste. Themen wie die Vorratsdatenspeicherung, das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada und manches andere mehr haben ja auch innerhalb der SPD viel Kraft gekostet. Mit all dem hat Martin Schulz nichts zu tun, und er ist deshalb für Wählerinnen und Wähler der Grünen und der Linkspartei wählbar. Und er ist nicht so verhaftet mit der Großen Koalition wie ich.« Gabriel hofft dabei auf die Vergesslichkeit der Wählerinnen und Wähler, denn in Wirklichkeit hatte Schulz mit dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) durchaus »etwas zu tun«.
Martin Schulz (Foto: arbeiterfotografie.com)
Obwohl als Präsident des Europäischen Parlaments eigentlich zur Zurückhaltung verpflichtet, hatte er sich stets für dieses Abkommen wie auch für das entsprechende mit den USA (TTIP) eingesetzt. Als etwa das CETA-Abkommen in Wallonien auf der Kippe stand, half Schulz mit, die sozialdemokratische Regierung dort von ihrem Nein abzubringen: »Im Hintergrund zog er die Strippen beim CETA-Deal, beruhigte die Kanadier, warb für Zustimmung bei belgischen Politikern«, meldete die »Bild«-Zeitung am 27. Oktober 2016.
Auch in anderen Fragen der EU-Politik mischte der designierte Kanzlerkandidat kräftig mit: So warnte er die Griechen beim Referendum im Juli 2015 vor einem Nein, und er sprach sich für das Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine aus, dessen Unterzeichnung die Krise dort erst außer Kontrolle geraten ließ. Und, anders als Gabriel es den Wählerinnen und Wählern jetzt weismachen möchte, ist Schulz auch durchaus mit der Großen Koalition »verhaftet«. Wenn auch nicht mit der in Berlin, so doch mit jener im Europäischen Parlament, die dort erst zu Ende ging, als er den Sessel des Parlamentspräsidenten räumen musste.
Auch als Wirtschaftspolitiker meldete sich Schulz zu Wort. In seinem 2013 geschriebenen Buch »Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance« begrüßte er, dass sich Frankreich und Italien auf den Weg machen, Deutschland zu folgen und nach dem Vorbild der Agenda 2010 weitreichende Strukturreformen einleiten. »Ich bin sicher, dass auch Europa die Krise meistern und gestärkt aus ihr hervorgehen wird. Wichtige Strukturreformen werden derzeit in einigen Ländern nachgeholt«, sagte er. Und: »Damit kein Missverständnis aufkommt: Natürlich müssen verkrustete Strukturen in vielen Ländern der EU aufgebrochen werden.« Doch um welche »Verkrustungen« handelte es sich da, und was sind das für »Strukturreformen«, die »in einigen Ländern nachgeholt« werden müssen?
Mit »Strukturreformen« wird im neoliberalen Jargon stets der Abbau von Schutzrechten für die Lohnabhängigen und sozial Schwachen umschrieben. Das »Aufbrechen von Verkrustungen« bedeutet die Durchsetzung von Deregulierungen und Privatisierungen, die Reform des Arbeitsmarktes zur Erhöhung des Ausbeutungsgrads und die Zusammenkürzung öffentlicher Haushalte - euphemistisch als »Verschlankung« bezeichnet.
Es verwundert daher nicht, dass sich Schulz in seinem Buch ausdrücklich zur Agenda 2010 seines Parteifreundes Gerhard Schröder bekennt, machte doch nach ihm dieser sozialdemokratische Kanzler »Deutschland wieder fit«. Nach 16 Jahren Kohl-Kanzlerschaft musste nämlich nach Schulz »ab 1998 eine neue Bundesregierung für frischen Wind in Deutschland sorgen und den Reformstau auflösen«. Nach Kritik an einigen Unzulänglichkeiten der Agenda 2010 heißt es daher anerkennend bei ihm: »Andererseits befindet sich unser Land auch wegen dieser Reformen inzwischen ökonomisch wieder auf einem Spitzenplatz.« Besser können es die Arbeitgeberverbände auch nicht sagen.
Als Kanzlerkandidat sieht Schulz die Dinge nun plötzlich ganz anders. In seiner Bielefelder Rede bei der Arbeitnehmerkonferenz am Montag beklagt er, dass sich »seit den 1990er Jahren die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt grundlegend geändert hat«, und zwar zum Schlechten hin. »Auch wir haben Fehler gemacht«, heißt es dazu ganz allgemein. Aber er fand kein Wort zu seiner ganz eigenen Huldigung der Agenda 2010. Einmal mehr hofft also die SPD auf die Vergesslichkeit der Wählerinnen und Wähler. Es wird sich zeigen, ob sie damit im September durchkommt.
Mit freundlicher Genehmigung übernommen von andreas-wehr.eu
Siehe auch Fotogalerie:
Am 1. Mai 2017 mit SCHULZ in Aachen
Kann ein trojanisches Pferd Schaum schlagen?
NRhZ 611 vom 03.05.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23759
Online-Flyer Nr. 612 vom 06.05.2017
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Inland
Über die Glaubwürdigkeit eines Kanzlerkandidaten
Schulz setzt auf Vergesslichkeit
Von Andreas Wehr
In einem Interview der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« verriet Sigmar Gabriel deren Lesern, weshalb Martin Schulz der richtige Spitzenkandidat für die SPD sei: »Er ist nicht Teil der vielen Konflikte, die ich in meiner Zeit als Vorsitzender der SPD ja austragen musste. Themen wie die Vorratsdatenspeicherung, das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada und manches andere mehr haben ja auch innerhalb der SPD viel Kraft gekostet. Mit all dem hat Martin Schulz nichts zu tun, und er ist deshalb für Wählerinnen und Wähler der Grünen und der Linkspartei wählbar. Und er ist nicht so verhaftet mit der Großen Koalition wie ich.« Gabriel hofft dabei auf die Vergesslichkeit der Wählerinnen und Wähler, denn in Wirklichkeit hatte Schulz mit dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) durchaus »etwas zu tun«.
Martin Schulz (Foto: arbeiterfotografie.com)
Obwohl als Präsident des Europäischen Parlaments eigentlich zur Zurückhaltung verpflichtet, hatte er sich stets für dieses Abkommen wie auch für das entsprechende mit den USA (TTIP) eingesetzt. Als etwa das CETA-Abkommen in Wallonien auf der Kippe stand, half Schulz mit, die sozialdemokratische Regierung dort von ihrem Nein abzubringen: »Im Hintergrund zog er die Strippen beim CETA-Deal, beruhigte die Kanadier, warb für Zustimmung bei belgischen Politikern«, meldete die »Bild«-Zeitung am 27. Oktober 2016.
Auch in anderen Fragen der EU-Politik mischte der designierte Kanzlerkandidat kräftig mit: So warnte er die Griechen beim Referendum im Juli 2015 vor einem Nein, und er sprach sich für das Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine aus, dessen Unterzeichnung die Krise dort erst außer Kontrolle geraten ließ. Und, anders als Gabriel es den Wählerinnen und Wählern jetzt weismachen möchte, ist Schulz auch durchaus mit der Großen Koalition »verhaftet«. Wenn auch nicht mit der in Berlin, so doch mit jener im Europäischen Parlament, die dort erst zu Ende ging, als er den Sessel des Parlamentspräsidenten räumen musste.
Auch als Wirtschaftspolitiker meldete sich Schulz zu Wort. In seinem 2013 geschriebenen Buch »Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance« begrüßte er, dass sich Frankreich und Italien auf den Weg machen, Deutschland zu folgen und nach dem Vorbild der Agenda 2010 weitreichende Strukturreformen einleiten. »Ich bin sicher, dass auch Europa die Krise meistern und gestärkt aus ihr hervorgehen wird. Wichtige Strukturreformen werden derzeit in einigen Ländern nachgeholt«, sagte er. Und: »Damit kein Missverständnis aufkommt: Natürlich müssen verkrustete Strukturen in vielen Ländern der EU aufgebrochen werden.« Doch um welche »Verkrustungen« handelte es sich da, und was sind das für »Strukturreformen«, die »in einigen Ländern nachgeholt« werden müssen?
Mit »Strukturreformen« wird im neoliberalen Jargon stets der Abbau von Schutzrechten für die Lohnabhängigen und sozial Schwachen umschrieben. Das »Aufbrechen von Verkrustungen« bedeutet die Durchsetzung von Deregulierungen und Privatisierungen, die Reform des Arbeitsmarktes zur Erhöhung des Ausbeutungsgrads und die Zusammenkürzung öffentlicher Haushalte - euphemistisch als »Verschlankung« bezeichnet.
Es verwundert daher nicht, dass sich Schulz in seinem Buch ausdrücklich zur Agenda 2010 seines Parteifreundes Gerhard Schröder bekennt, machte doch nach ihm dieser sozialdemokratische Kanzler »Deutschland wieder fit«. Nach 16 Jahren Kohl-Kanzlerschaft musste nämlich nach Schulz »ab 1998 eine neue Bundesregierung für frischen Wind in Deutschland sorgen und den Reformstau auflösen«. Nach Kritik an einigen Unzulänglichkeiten der Agenda 2010 heißt es daher anerkennend bei ihm: »Andererseits befindet sich unser Land auch wegen dieser Reformen inzwischen ökonomisch wieder auf einem Spitzenplatz.« Besser können es die Arbeitgeberverbände auch nicht sagen.
Als Kanzlerkandidat sieht Schulz die Dinge nun plötzlich ganz anders. In seiner Bielefelder Rede bei der Arbeitnehmerkonferenz am Montag beklagt er, dass sich »seit den 1990er Jahren die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt grundlegend geändert hat«, und zwar zum Schlechten hin. »Auch wir haben Fehler gemacht«, heißt es dazu ganz allgemein. Aber er fand kein Wort zu seiner ganz eigenen Huldigung der Agenda 2010. Einmal mehr hofft also die SPD auf die Vergesslichkeit der Wählerinnen und Wähler. Es wird sich zeigen, ob sie damit im September durchkommt.
Mit freundlicher Genehmigung übernommen von andreas-wehr.eu
Siehe auch Fotogalerie:
Am 1. Mai 2017 mit SCHULZ in Aachen
Kann ein trojanisches Pferd Schaum schlagen?
NRhZ 611 vom 03.05.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23759
Online-Flyer Nr. 612 vom 06.05.2017
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