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Literatur
Aus den "Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers" (4)
Wie man eine Diktatur provoziert und seine Haut riskiert
Von Erasmus Schöfer

Im 2741sten Jahr nach der ersten Olympiade putschte in Griechenland das Militär und brachte eine Obristenjunta an die Macht. Die Soldaten verhinderten damit, dass in den bevorstehenden Wahlen eine linke Regierung vom Volk gewählt worden wäre. Es folgten sieben Jahre der politischen Friedhofsruhe und der gewaltsamen Unterdrückung jedes Widerstands gegen die Diktatoren.

Die meisten westeuropäischen Regierungen waren ganz zufrieden, dass die Militärs an der südlichen Flanke der NATO für Ruhe und ein günstiges Investitionsklima sorgten. Die Urlauber aalten sich weiter an den griechischen Stränden und ließen sich den Ägäisgenuss nicht durch Gedanken daran vergällen, dass Tausende von griechischen Patrioten in den Zuchthäusern und auf kazetähnlichen Inseln litten. Auch die demokratische Öffentlichkeit in Westdeutschland war im siebten Jahr der Diktatur in ihren Protesten müde geworden.

Wenige Monate nachdem ein Aufstand von Studierenden am Athener Polytechnikum von den Panzern der Junta blutig erstickt worden war, entschloss sich Günter W., ein junger Mann in der Bundesrepublik, der durch manche spektakulären Enthüllungen ziemlich prominent geworden war, mit einer ungewöhnlichen Tat in Griechenland selbst auf die faschistischen Zustände im Mutterland der Demokratie aufmerksam zu machen.

Er flog nach Athen und kettete sich am zehnten Mai 1974 an einen Laternenmast auf dem berühmten Syntagma, dem zentralen Platz der Verfassung. Er verteilte Flugblätter an die Passanten, auf denen die Wiederherstellung der Demokratie, Pressefreiheit und die Entlassung der politischen Gefangenen gefordert wurde. Schon nach wenigen Minuten waren zivil verkleidete Geheimpolizisten zur Stelle, die Günter zu Boden rissen, seinen Kopf auf die Steine schlugen bis er blutete und ihn mit Tritten in den Leib malträtierten.

Nachdem sie ihn unter erheblichem Aufsehen losgeschweißt hatten, schafften sie ihn in das berüchtigte Verhörzentrum Asphalia der Geheimpolizei und befragten ihn unter weiterer Gewaltanwendung, um seine vermeintlichen Hintermänner und Mitverschwörer rauszukriegen. Erst nachdem sie festgestellt hatten, dass er kein Grieche war, endete die Quälerei.

Zwei Wochen später wurde er von einem Militärgericht zu vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt, durch welches Urteil in ganz Europa unüberhörbar öffentlich wurde, mit welchen Methoden diese Regierung die Demokratie in Griechenland erwürgte. Zwei Monate später aber wurde die Obristenjunta gestürzt und Günter wurde mit allen politischen Gefangenen unter dem Jubel der Athener befreit.




Erasmus Schöfer
Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers
Taschenbuch, 144 Seiten, 12 Euro
Verbrecher Verlag Berlin, 2016


Erasmus Schöfer, am 4. Juni 1931 bei Berlin geboren, lebt in Köln. Er war Mitbegründer und Vorsitzender des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und ist Mitglied des Deutschen P.E.N.-Zentrums. Seit seiner Promotion über »Die Sprache Heideggers« (1962) veröffentlichte er zahlreiche literarische und publizistische Arbeiten. Für seine hochgelobte Romantetralogie »Die Kinder des Sisyfos« erhielt Erasmus Schöfer im Jahr 2008 den Gustav-Regler-Preis. Zuletzt erschienen: »Diesseits von Gut und Böse. Beiträge fürs Feuilleton« (2011), »Na hörn Sie mal! Sechs ausgewählte Funkstücke« (2012) und »Schriftsteller im Kollektiv. Texte und Briefe zum Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« (2014).

Online-Flyer Nr. 615  vom 31.05.2017

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