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Literatur
Aus den "Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers" (5)
Eine Frau im Dschungel
Von Erasmus Schöfer

Eine Inderin, ziemlich jung, sehr intelligent und schön obendrein, war entsetzt über die Gewalttaten ihrer Regierung gegen die Eingeborenen, die in den Urwäldern des Landes leben. Seit dort reiche Bodenschätze entdeckt worden waren, versuchte die Regierung die Adivasis aus ihren Wohngebieten zu vertreiben, um sie großen Konzernen zur Ausbeutung zu überlassen. Als sie sich weigerten, die seit Jahrhunderten von den eingeborenen Stämmen bewohnten Wälder zu verlassen, wurden sie von paramilitärischen Verbänden in ihren Dörfern angegriffen, die Häuser verbrannt, die Bewohner getötet oder verschleppt. Aber statt sich von diesem Regierungsterror einschüchtern zu lassen, bewaffneten sich die Entkommenen und wehrten sich gegen die Angriffe. Sie wurden deshalb von Ministern und der willfährigen Presse als Terroristen verleumdet.

Die Inderin, Arundhati R., die in Wort und Schrift sich mit erheblicher Resonanz auszudrücken wusste, beschloss daraufhin, sich mit eignen Augen und Ohren über die Gründe der Eingeborenen für ihren bewaffneten Widerstand genauer zu informieren. Es gelang ihr, mit den Kämpfern im Dschungel Verbindung aufzunehmen und zu ihnen zu gelangen. Unter großen Entbehrungen, die sie als Stadtmensch bisher nicht kannte, verbrachte sie Wochen bei und mit den Aufständischen, erlebte ihre notvollen Lebensumstände und Gefahren, aber auch ihren Mut, ihre Geschicklichkeit und ihre Entschlossenheit, ihren Lebensraum zu verteidigen, notfalls bis zum Tod.

Unverletzt nach Delhi zurückgekehrt, schrieb sie voll großer Bewunderung und tiefem Verständnis für diese Menschen ein Buch über ihre Erfahrungen und die ungerechte Gewalt der Mächtigen. Sie fürchtete nicht die Schmähungen der regierungshörigen Presse und auch nicht die Todesdrohungen der Fanatiker.

Ungleich größer waren zweifellos die Gefahren, denen die eingeborenen Widerständigen seit Jahren trotzten.




Erasmus Schöfer
Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers
Taschenbuch, 144 Seiten, 12 Euro
Verbrecher Verlag Berlin, 2016


Erasmus Schöfer, am 4. Juni 1931 bei Berlin geboren, lebt in Köln. Er war Mitbegründer und Vorsitzender des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und ist Mitglied des Deutschen P.E.N.-Zentrums. Seit seiner Promotion über »Die Sprache Heideggers« (1962) veröffentlichte er zahlreiche literarische und publizistische Arbeiten. Für seine hochgelobte Romantetralogie »Die Kinder des Sisyfos« erhielt Erasmus Schöfer im Jahr 2008 den Gustav-Regler-Preis. Zuletzt erschienen: »Diesseits von Gut und Böse. Beiträge fürs Feuilleton« (2011), »Na hörn Sie mal! Sechs ausgewählte Funkstücke« (2012) und »Schriftsteller im Kollektiv. Texte und Briefe zum Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« (2014).

Online-Flyer Nr. 616  vom 07.06.2017

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