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Wirtschaft und Umwelt
Wilm Weppelmann erkundet Henry Thoreau
Ein Konzeptkünstler gräbt aus
Von Elisabeth Meyer-Renschhausen

Nach Radtour durch zum Teil enge Gassen der Fahrradhauptstadt Münster eine Kleingartenkolonie am Waldesrand. Eine Anlage voller geradliniger Kohl-, Tomaten- und Kartoffelbeete. Mit üppigem Wuchs auf gute Ernte verweisend. Nur beim Kolonievorsitzenden blüht alles durcheinander: Mohn, Mangold, Margeriten, Phlox, Spitzkohl und Salat. Alte Hochstammbäume hängen voller grüner Kirschen, Äpfeln oder Pflaumen. Wo ehedem der Rasen war, stehen unter einer Zeltplane Stühle. Der Teich ist verdeckt von einem Podium: Der Ort der Freien Gartenakademie des Aktions- und Konzeptkünstlers Wilm Weppelmann.


Wilm Weppelmann mit seinem Kunstprojekt "aFARM" auf dem Aasee in Münster (Facebook-Titelbild)

Einsame Existenz eines Aktions- und Konzeptkünstlers

Die Freie Gartenakademie in Münster findet in diesem Jahr bereits zum 12. Male statt. Sie wird unterstützt von der Stadt Münster, den örtlichen Kleingartenverbänden und der Heinrich-Böll-Stiftung. In unregelmäßiger Reihenfolge werden über den Hochsommer verteilt etwa 10 Vorträge, Lesungen oder Konzerte im Kleingarten des Künstlers angeboten. Die Gartenakademie ist immer gut besucht, sogar bei Regen. Eine richtige Fangemeinde wären sie schon, erzählt eine Alteingesessene ihrem neuen Sitznachbarn.

Geld machen könne er damit aber nicht, informiert der Künstler. Sein Geld verdient er als Nachtportier in einem Hotel. Große Sprünge erlaubt das bekanntlich nicht. Dennoch ist der lange Kerl, der Wilm Weppelmann einer, der fast immer scherzend und lachend unterwegs ist. Ein ursprünglich mal begonnenes Lehrerstudium führte geradewegs in die auch manchmal einsame Existenz eines Aktions- und Konzeptkünstlers.

Überall Rotkohl. In der ganzen Stadt Münster Rotkohl. Entlang der grünen Radwege auf der ehemaligen Wallanlage. In allen Parks und bei den vielfach bemerkenswerten Merkwürdigkeiten der Skulpturen-Ausstellung etwa bei den Oldenburg-Kogeln am Aa-See. Seit Jahren provoziert Wilm die Stadt mit Guerilla-Gardenig-Aktionen. In diesem Jahr ist es also Rotkohl. "The Adventures of Bob Cabbage" steht auf den Samentüten mit "wild urban red cabbage"-Körnern. Sogar auf dem IGA-Gelände in Berlin oder auf dem Park auf dem Gleisdreieck kann man einige seiner extralegal ausgepflanzten Rotkohlpflanzen entdecken.

Vor etwa zehn Jahren hatte es damit begonnen, dass er überall in der Stadt rings um die Bäume Gemüsebeete angelegt hatte. Anwohner übernahmen ungefragt die Pflege. Ein Freund hatte auf der Grüninsel bei einer Tankstelle Stauden gepflanzt, ein weiterer den Hof einer ehemaligen Schule mit Vergissmeinnicht, Akelei, Sommerflieder und Gartenzwergen bevölkert. Dann hörten die drei Freunde, dass solches Tun seit den Aktionen der "Green Guerillas" in New York 1973ff international "Guerilla Gardening" heißt. Und Richard Reynold in London dank seinem Buch heute sozusagen der Wortführer sei. Seitdem fährt Wilm jedes Jahr einmal nach London und ist mit R.R. jetzt eng befreundet.

Wie wenig man doch zum Leben braucht!

Vor zwei Jahren lebte Wilm Weppelmann einen ganzen Monat lang auf einem Floss auf dem Aasee. Es war voller Gemüsebeete. Wilm ernährte sich nahezu ausschließlich aus seinem eigenen Boots-Garten. Dazu Schlafhütte und Kompostklo. Jeden Morgen rief er eine Lebensweisheit per Sprechtüte über den See. Wie wenig man doch zum Leben braucht! Fast nichts. Ein paar Quadratmeter Gemüse und ein paar gute Bücher reichen eigentlich aus. Die Münsteraner waren fasziniert und begeistert. Die Presse brachte nahezu täglich neue Berichte. Und mitleidige Ruderer und Schwimmer brachten dem einsamen Künstler viele gute Worte, Wurst und Schokolade. Auf wenn er die eigentlich gar nicht haben wollte.


Henry Thoreau (Bild gemeinfrei)

In diesem Jahr geht es im Rahmen und zugleich unabhängig vom Münsteraner Skulpturensommer erneut um die Debatte des einfachen Lebens. Mittels einer Ausgrabung. Und zwar im wilden Teil des Münsteraner Schlossparks, der heute zur Universität Münster gehört, die im Schloss residiert. Zwischen mannshohen Brennnesselstauden und hohen Buchen versteckt liegt die Ausgrabungsstätte. Gegraben wird nach den Überresten der Hütte vom sagenhaften nordamerikanischen Autoren Henry Thoreau (1817-1862), dem Rebell, Freigeist und Naturfreund. Der Verein Kulturgrün, auch Träger der Gartenakademie, konnte die "MAKE Theaterproduktion" und das Theater am Pumpenhaus zu gemeinsamer Stückentwicklung gewinnen. Das Stück "Die Ausgrabung – Operation Thoreau" wird ab dem 4. Juli 2017 zehnmal aufgeführt. Karten sind online per www.dieausgrabung.de erhältlich.

Henry David Thoreau hatte 1845 es schon einmal ausprobiert: das einfache Leben. Und weil seine Zeitgenossen dermaßen neugierig auf sein einsames Leben aus dem Waldgarten waren, auch ein Buch darüber geschrieben. Seine These war, dass man durch eine vereinfachte Lebensweise - ohne all die zeitraubende Belastungen des Luxus´ der Moderne - viel mehr Zeit hat. Für das Eigentliche im Leben, das Beobachten und sinnliche Erfahren der Natur. Sowie das Studium und  Schreiben von Büchern. Im Wald, genauer: auf dem Land eines Freundes in der Nähe des Waldensees, hatte Thoreau sich eine 12-Quadratmeter-Hütte gebaut. Er zog am amerikanischen Unabhängigkeitstag am 4. Juli 1845 feierlich ein. Er blieb dort zwei Jahre und zwei Monate.

Auf seinem Stück urbar gemachten Ackers zog er all sein Gemüse selbst. Im ersten Jahr waren es so viele Bohnen und Kartoffeln, dass er die Überschüsse auf dem Markt des nahegelegen Städtchens Concord verkaufte. Daraufhin baute er im nächsten Jahr weniger an, er wollte schließlich mehr Zeit für sich, seine Naturbeobachtungen und sein Schreiben haben. Thoreau gehörte zu den amerikanischen "Transzendentalisten" mit einem fast spirituellen Verhältnis zur Natur. Thoreau wurde aufgrund seines Buchs über sein Leben als Selbstversorger schließlich sogar zu einem der am meisten gefeierten Autoren der Vereinigten Staaten. Als Gegner der Sklaverei sowie des "Lohnsklaventums" wurde er besonders von amerikanischen Anarchisten und Hippies gefeiert.

Erstaunliches Wissen zum einfachen Leben

TAZ-Autor Frank Schäfer las kürzlich im Rahmen der Freien Gartenakademie die wichtigsten Kapitel aus seiner Biografie zu "Henry David Thoreau – Waldgänger und Rebell" vor. Trotz leichtem Nieselregen lauscht das Publikum andächtig. Die Luft knistert fast vor lauter Aufmerksamkeit. Anschließend gibt es eine lebhafte Diskussion, Uni-Dozentinnen und Professoren verschiedener Fachrichtungen tauschen sich über die Bedeutung des frühen Aussteigers und seines Buches aus. Beim abschließenden Umtrunk geht es weiter. Erstaunliches Wissen zum einfachen Leben kommt zutage. Konsumkritik und Selbstversorgung sind heute offenbar erneut bedeutsam.

Online-Flyer Nr. 620  vom 05.07.2017

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