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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Kultur und Wissen
Plädoyer für ein moralisches System ohne Religion
Der gesunde Menschenverstand von Pfarrer Meslier fehlt heute
Von Heinrich Frei

Religionskritik konnte früher lebensgefährlich sein. Aufklärer wie Paul H. Thiry d'Holbach veröffentlichten ihre Schriften oft unter Pseudonymen, um der Verfolgung durch die «heilige Inquisition» zu entgehen. Seine bekannte Streitschrift «Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier» erschien 1772. Er publizierte, wie viele seiner Zeitgenossen – seine Gedanken damals unter dem Namen eines Verstorbenen, des freidenkenden Pfarrers Jean Meslier. Für Holbach war der Glaube an höhere Wesen auf Unwissenheit, Angst und Gewohnheit zurückzuführen. Seiner Meinung nach sollte die religiös begründete Ethik durch ein «vernunftgemäßes» moralisches System ersetzt werden. (1) Holbach demontierte im Buch «Der gesunde Menschenverstand» religiöse Denkmuster und vertrat einen dezidiert materialistischen und atheistischen Standpunkt. (2) Heute fehlt dieser «gesunde Menschenverstand» des Pfarrers Meslier manchmal in Erziehungsfragen, aber auch in der Politik. Es wird absurderweise in gewissen fundamentalistisch christlichen Kreisen immer noch angenommen, Zitat: «Kinder die nicht gezüchtigt werden, wachsen oft rebellisch auf, haben keinen Respekt vor Autoritäten und werden es auch letztlich schwierig finden, Gott willentlich zu gehorchen und zu folgen.» (3)


Soll man dieses Kind im Sandkasten züchtigen? (Foto: Heinrich Frei 1964)

Mutter «wusste», wie man erzieht

Eine Mutter «wusste» denn auch: «Wer sein Kind liebt, der züchtigt es» Sie notierte in ihrem Tagebuch: «Heute musste ich Käthi zum ersten Mal schlagen.» Das Kind war damals nicht einmal ein Jahr alt.

Mehrheit der Eltern «wissen»: «Eine Ohrfeige hat noch keinem Kind geschadet!»

«Eine Ohrfeige hat noch keinem Kind geschadet!» Dieser Meinung sind laut einer Erhebung von Isopublic aus dem Jahr 2007 eine Mehrheit der Eltern in der Schweiz – selbst wenn es um die Bestrafung der Kleinsten geht. (4) In den Schulen dürfen Lehrer ihre Schüler nicht mehr schlagen, aber sonst gibt es in der Schweiz kein «ausdrückliches Züchtigungsverbot» wie in vielen anderen Ländern. (5)

Gewalt ausgeübt von Erziehungspersonen ist für ein Kind ein traumatisierendes Erlebnis

Da stellt sich natürlich die Frage, welche «Züchtigungen» sind für Eltern erlaubt? Am 26. Juli 2008 schrieb die finnische Entwicklungspsychologin und Dozentin Jaana Haapasalo in der finnischen Zeitung Helsingin Sanomat auf der Leserbriefseite: «Die Frage: «Welche Körperstrafen dürfen Eltern ausüben» ist eigentlich schon falsch gestellt. Die durch eine gewalttätige Erziehung verursachten Verletzungen sind keine Frage von Ansichten, sondern es sind Fakten die gegen Körperstrafen sprechen», schrieb sie. «Auch, wenn sich der Vater und die Mutter nach einer Ohrfeige entschuldigen, schadet eine «Ohrfeige zur rechten Zeit». Ein Klaps ist nie «gesund», wie viele immer noch meinen. Für Kinder ist Gewalt, besonders wenn sie von Erziehungspersonen ausgeübt wird, ein traumatisierendes Erlebnis. Es gibt Kinder die Todesängste ausstehen, wenn sich die Mutter oder der Vater ihm näheren und drohen es zu schlagen», schrieb Jaana Haapasalo. «Eine Kindheit die mit Ohrfeigen, Prügel und Vernachlässigung verbunden ist, kann bei Erwachsenen zu gewalttätigem Verhalten, zu Kriminalität, zu Drogensucht, Alkoholismus und psychischen Erkrankungen führen.»

Psychische und soziale Misshandlungen sind ebenso ein ernstes Problem sind, wie physische Gewalt


Am 2. August 2008 machte der Dozent Jyrki Konkka, ebenfalls auf der Leserbriefseite der Zeitung Helsingin Sanomat, weiter darauf aufmerksam, dass «psychische und soziale Misshandlungen in der Erziehung ebenso ein ernstes Problem sind, wie physische Gewalt. Blaue Flecken von Schlägen seien natürlich leichter festzustellen als psychische Verwundungen», schrieb Konkka. «Schlimm sei zum Beispiel, wenn ein Kind von den Eltern, der Lehrerin oder dem Lehrer lächerlich gemacht wird, wenn sie es demütigen, wenn sie es als «als nicht begabt», als «dumm» abstempeln und wenn sie das Kind ständig kritisieren. Solche «Erziehungsmethoden» sind immer noch vielerorts üblich, zu Hause und in der Schule, und nicht nur in Finnland. Schlimm ist auch, wenn Eltern und Lehrer Unterwerfung, absoluten Gehorsam fordern, wie in der Kaserne. Psychische Misshandlungen zu Hause und in der Schule, auch ohne Schläge, hinterlassen große Wunden in der Seele eines Kindes, machen ein Mädchen und ein Knabe ebenso kaputt wie Ohrfeigen und Prügel.» soweit Jyrki Konkka. (Übersetzung der finnischen Texte durch den Autor) Auch der Psychiater Günter Pernhaupt und der Kinderarzt Hans Czermak haben in ihrem Buch «Die gesunde Ohrfeige macht krank, über die alltägliche Gewalt im Umgang mit Kindern», gezeigt, dass auch harmlose Klapse und Haarereissen Kinder krankmachen, und das Band des Vertrauens der Kinder zu den Eltern reißen lassen können. (6)

Religiöser Aberglaube gestern und heute: Lehrer verlor Stelle, weil er Schüler mit der Evolutionstheorie bekannt machte

Regensdorf bei Zürich 1930: Der Lehrer Dr. Scheller machte seine Schüler mit der Evolutionstheorie bekannt. Das kam bei der Schulpflege in Regensdorf nicht gut an. Sie «wussten»: Die Theorie Darwins ist ein Unsinn. Ein Kind wurde damals als Kronzeuge für die Verfehlung des Lehrers beigezogen, meine Tante. Der Lehrer, Dr. Scheller verlor seine Stelle. Er erzählte mir diesen Vorfall als er in der Notschlafstelle von Pfarrer Sieber 1968 als Psychologe traumatisierte Fremdenlegionäre betreute.

Eher entsteht zufällig eine Lokomotive als durch die Evolution Pflanzen und Tiere

Biel 1956: Pfarrer Perrin erklärte uns Konfirmanden, viel eher würde in einem Eisenerzbergwerk zufälligerweise eine Lokomotive entstehen, als durch die Evolution die verschiedenen Pflanzen und Tierarten. In der Jugendfreihandbibliothek stieß ich in dieser Zeit auf ein populärwissenschaftliches Buch über die Evolutionstheorie in dem die Schöpfungsgeschichte der Bibel als eine Vorstellung der Menschen aus einer vorwissenschaftlichen Zeit bezeichnet wurde. Dies zeigt: Bücher können religiösen Irrglauben in Frage stellen.

Glaubensbekenntnis: Am dritten Tag von den Toten auferstanden

Für die Konfirmation mussten wir das Glaubensbekenntnis auswendig lernen. In diesem Bekenntnis war die Rede von Jesus «der am dritten Tage auferstanden von den Toten ist». Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mir damals Gedanken gemacht habe über den Inhalt dieses absurden Glaubensbekenntnisses, in dem die Rede davon war «ein Toter sei nach drei Tagen auferstanden». Ich war beschäftigt mit dem Auswendiglernen des Textes.

Allein im Bistum Chur sollen zehn Geistliche als Exorzisten tätig sein

Treibt der Teufel heute immer noch sein Unwesen? «Müssen» immer noch Teufelsaustreibungen angeboten werden? Allein im Bistum Chur sollen zehn Geistliche als Exorzisten tätig sein – mit dem Segen des Papstes», schrieb Katharina Bracher in der NZZ am Sonntag vom 3. August 2014. Auch in reformierten Kreisen soll es Menschen geben, «deren Probleme neben vielen anderen Ursachen ausgelöst werden von Wesen aus der unsichtbaren Welt», sagte eine pensionierte Pfarrerin aus Brugg. (7)


Restaurant «Manala» (Teufel) in Helsinki, Foto: Heinrich Frei

»Unorthodox» von Deborah Feldmann

Die Absurdität von religiösen Lehren fällt uns bei fremden Religionen oder anderen Konfessionen eher auf. Als 14-jähriger, bei einem Besuch des Münsters in Fribourg, spotteten wir nachher über die Rituale der katholischen Messe die wir dort zum ersten Male sahen.

Das Buch «Unorthodox» von Deborah Feldmann ergötzte in den USA über eine Million Leser und auch viele Leser im deutschen Sprachraum. Deborah Feldmann schildert in diesem Buch ihr Leben in der chassidischen Satmar Gemeinde in Williamsburg, in New York, in der sie aufgewachsen war. Sie konnte sich aus den Fesseln dieser religiösen Gemeinschaft befreien. Die Satmarer, wie sie sich seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg nennen, sehen im Holocaust eine von Gott verhängte Strafe. Um eine Wiederholung der Schoah zu vermeiden, führen die Satmarer ein abgeschirmtes Leben nach strengen Vorschriften: Sexualität ist ein Tabu, Ehen werden arrangiert, im Alltag wird Jiddisch gesprochen, Englisch gilt als verbotene, unreine Sprache. Deborah Feldmann las heimlich als Kind Bücher, unter anderem den Talmud, was ihr zeigte, dass das große Vorbild ihrer Gemeinschaft, König David, nicht so untadelig gelebt hatte wie ihr vermittelt wurde. - Das Buch «Unorthodox», auch in der Schweiz ein Bestseller, ist ein lesenswertes Buch. (8)

Mai 2017: Papst Franziskus spricht Seherkinder von Fatima heilig

Orthodoxe Juden, und religiöse Gemeinschaften, die von Reformierten und Katholiken abschätzig als «Sekten» diffamiert werden, und Muslime kommen sehr schnell ins Visier der Kritik der Medien. Hingegen wurde kürzlich fast unkommentiert vermeldet, dass Papst Franziskus die Hirtenkinder Lúcia dos Santos und die Geschwister Jacinta und Francisco Mato in Portugal heilig gesprochen hat. Diesen Kindern soll am 13. Mai 1917 auf einem Feld die Jungfrau Maria erschienen sein. Fátima wird auch heute noch von Kranken aufgesucht, die dort auf eine wundersame Heilung ihrer Krankheiten hoffen. Diese Wundergläubigen verpassen dann in Fátima eine medizinische Behandlung, die ihnen vielleicht helfen könnte. (9)

Religion in Politik und  Armeen

Religionen sind auch in der Politik und in Armeen fest verankert, hüben wie drüben. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft beginnt mit der Präambel «Im Namen Gottes des Allmächtigen! Das Schweizervolk und die Kantone, in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung…»

Feldgeistliche in Armeen gehören zu Standausrüstung von Streitkräften wie Handgranaten und Maschinengewehre. Der Soldat soll wissen, wenn er in Afghanistan, in Syrien «den Frieden sichert», wie es so schön heißt, wird Gott bei dir sein. Als Soldaten eignen sich besonders Menschen die als Kinder gezüchtigt und religiös erzogen wurden, sie haben Respekt vor Autoritäten, sind gehorsam und haben gelernt Gott und Vorgesetzen zu gehorchen und zu folgen.


Russischen Piloten, die aus Syrien in ihre Heimat zurückkamen, wurden von orthodoxen Priestern mit einem Heiligenbild, mit einer Ikone empfangen. (Screenshot aus der Tagesschau des finnischen Fernsehens YLE, Heinrich Frei)

Als die russischen Piloten im letzten Jahr aus Syrien in ihre Heimat zurückkamen, wurden sie von orthodoxen Priestern mit einem Heiligenbild, mit einer Ikone empfangen. Den Piloten und dem Publikum wurde so gezeigt, dass sie im Namen Gottes in Syrien Dörfer und Städte bombardiert hatten, wie die amerikanischen, britischen und französischen und syrischen Flieger auch. Dass bei solchen Bombardierungen vielleicht etwa 80 Prozent Zivilisten umkommen, wurde in Kauf genommen in diesem «gerechten Krieg», der vom Klerus den Segen Gottes erhielt. – Nicht wenige Soldaten werden nach Kriegen aber dennoch krank, kommen im zivilen Leben nicht mehr zurecht. Ihr Verantwortungsgefühl konnte nicht ganz abgetötet werden, trotzdem sie nur auf Befehl getötet hatten, trotz Verteufelung des Feindes durch die Kriegspropaganda, trotz dem Beistand Gottes durch die Feldgeistlichen...


Fußnoten

(1) Paul-Henri Thiry d’Holbach, Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier, Vita Nova Verlag Zürich 1976
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Henri_Thiry_d%E2%80%99Holbach
(3) Wie sollten Christen ihre Kinder züchtigen? Was sagt die Bibel über Züchtigung? https://www.gotquestions.org/Deutsch/Kinder-zuchtigen.html
(4) https://www.kinderschutz.ch/de/mitteilung/no-hitting-day-2016.html
(5) http://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/inneres/gruppen/kinder/zuechtigungsverbot-schweiz
(6) Günter Pernhaupt, Psychiater, und Hans Czermak Kinderarzt, "Die gesunde Ohrfeige macht krank, über die alltägliche Gewalt im Umgang mit Kindern".
(7) Schweizer Kampf mit dem Teufel von Katharina Bracher http://webpaper.nzz.ch/2014/08/03/schweiz/LFBT3/schweizer-kampf-mit-dem-teufel?guest_pass=72da4a0066%3ALFBT3%3A32345f9cad37e6d9ed3257fa5c95f95ccbd0586d
(8) https://www.deborahfeldman.de/
(9) https://www.kath.ch/newsd/papst-spricht-seherkinder-heilig-und-wuenscht-sich-frohe-christen/7

Online-Flyer Nr. 620  vom 05.07.2017

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