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Wirtschaft und Umwelt
Aus dem Querkopf
Dauer-Strohfeuer
Von Harald Schauff

Die deutsche Wirtschaft boomt wie seit Jahrzehnten nicht. Fragt sich, wie lange noch und wer etwas davon hat. Altersarmut, Kinderarmut, geringfügige Beschäftigung, marode Infrastruktur, horrende Mieten in Großstädten, steigende Obdachlosigkeit. Die deutsche Landschaft ist voller Problemfelder, die man aus früheren Jahrzehnten nicht so kennt oder zumindest nicht derart großflächig. Jene Felder sehen nach einem ganz bestimmt nicht aus: Wirtschaftlicher Aufschwung. Genau in einem solchen sollen wir uns laut Statistik befinden. Außerordentlich breit und tief scheint er nicht zu sein, ansonsten hätten sich besagte Problemfelder deutlich verkleinert. Er beschränkt sich bislang auf eher wenige prächtig blühende Flächen, deren Blüten ständig höher wachsen, so dass sie die vielen kargen Äcker überschatten.

Blühende Flächen der deutschen Wirtschaft wachsen

Die blühenden Flächen der deutschen Wirtschaft wachsen weiter. So dauerhaft wie lange nicht. Anfang des Jahres beschleunigte die Konjunktur nochmals das Tempo, wie uns der Wirtschaftsteil der Frankfurter Rundschau (12.5.2017) mitteilt: Das Bruttoinlandsprodukt legte um 0,6 % zu, stärker als Ende letzten Jahres, da waren es 0,4 Prozent.

Hält der Boom bis 2018 an, verzeichnet Deutschland den längsten Aufschwung seit über 50 Jahren. Allerdings rührt dieser nicht von politischen Maßnahmen oder Reformen seitens der Bundesregierung. Vielmehr, so die Experten, profitierten die deutschen Unternehmen von niedrigen Zinsen, dem guten Arbeitsmarkt und der anziehenden Weltkonjunktur.

Guter Arbeitsmarkt? Aus Sicht der Unternehmen zweifellos. Aus Sicht der Arbeitnehmer weniger, besonders jener, die geringfügig, auf Leiharbeitsbasis oder befristet beschäftigt sind, zu den Aufstockern zählen oder als Erwerbslose in Maßnahmen der Arge stecken. Egal, sie werden einfach mit im großen Aufschwungstopf verrührt, auf dass der Brei allen bekomme. Laut Statistikamt tragen Konsum, Exporte und Investitionen zum Aufschwung bei. Vor allem habe der Bausektor sich Anfang des Jahres in guter Verfassung befunden, auch wegen des milden Winters.

Ja, was bauen sie denn? Oder bessern es wenigstens aus? Sozialwohnungen, Schulen, Straßen, Radwege, Gehsteige, Straßenbahnschienen? Von wegen. Die Betonmischer drehen sich für Bürotürme und Eigentumswohnungen. In Betongold wird fleißig investiert, in die Infrastruktur weniger.

Das Allgemeinwohl hat wieder einmal wenig vom Aufschwung. Doch was kümmert es die Statistik? Beton ist schön stabil, gleich was daraus und darauf gebaut wird. Er kann auch einen Aufschwung länger stützen. Der gegenwärtige hält im Vergleich zu früheren Wachstumsphasen auffällig lange an. Gestartet im Frühjahr 2013 bringt er es inzwischen auf stattliche 15 Quartale. Damit ist er bereits älter als der Boom Ende der 80er Jahre. Der schaffte nur 13 Quartale, wie Andreas Rees von der Bank Unicredit errechnete. Ein Jahrzehnt früher ging es deutlich länger aufwärts: Von Mitte der 70er bis Anfang der 80er Jahre waren es 18 Quartale, ehedie Zweite Ölkrise einsetzte.

Schafft es der jetzige Aufschwung bis ins nächste Jahr, wäre er der längste seit den 60ern. Allerdings ist er nicht besonders stark. Seit Frühjahr 2013 wuchs die deutsche Wirtschaftsleistung um 7 Prozent. Zwischen 1963 und 66 betrug das Plus über 20 Prozent.

Allerdings ist zu berücksichtigen: Seit den 50ern und 60ern ist der Grundwert, die Menge an produzierten Gütern und Dienstleistungen, enorm angestiegen. 1 Prozent heutiges Wachstum entspricht 10 Prozent in den 50ern und nicht viel weniger in den 60ern. So einfach lassen sich Wachstumszahlen nicht vergleichen und ein Aufschwung stärker als der andere erklären.

Schwache Entwicklung der Arbeitsproduktivität?

Weiter heißt es im Rundschau-Bericht, die schwache Entwicklung der Arbeitsproduktivität gäbe nach wie vor Rätsel auf. Vorschläge zu des Rätsels Lösung: Zum einen hielten sich die Unternehmen aufgrund der mageren Weltkonjunktur mit Investitionen zurück. Zum anderen schleppt die Wirtschaft seit der Finanzkrise Überkapazitäten mit sich herum. Irgendwann bauen sie diese ab und stellen sich technologisch um. Dann steigt die Arbeitsproduktivität wieder.

Die Statistiker registrieren gestiegene Ausgaben für den Inlandskonsum. Dieser sei der Motor des Aufschwungs. Die Arbeitslosigkeit sei gering, die Löhne würden steigen, die niedrige Inflation den Verbrauchern mehr Kaufkraft lassen. Was im Schnitt prächtig aussieht, hält sich bei Geringverdienern, Erwerbslosen und vielen Rentnern spürbar in Grenzen. Bei einigen Tarifgruppen mögen die Löhne kurzfristig gestiegen sein. Allerdings gleicht das noch lange nicht die Lohnzurückhaltung vergangener Jahre aus.

Unverdrossen malen die Experten das schöne Bild vom Boom, der angeblich allen nützt, weiter aus. Auch der Staat habe seine Ausgaben erhöht: Für die Integration von Flüchtlingen. Der Außenhandel trage ebenfalls wieder zum Wachstum bei, da der Welthandel sich erhole dank steigender Nachfrage aus Asien, allen voran China. Dadurch erzielten auch deutsche Unternehmen wieder steigende Gewinne.

80 Prozent der Konzerne des Deutschen Aktienindexes hätten sogar die Gewinnerwartungen der Aktienanalysten übertroffen. Bei den Umsätzen lag die Überraschungsquote sogar bei 90 Prozent, so hoch wie nie.

Allerdings warnen Ökonomen vor Problemen, welche den vom globalen Handel abhängigen Unternehmen längerfristig drohen. Welt- und wirtschaftspolitisch seien die Zeiten sehr unsicher, ein ‘Tanz auf dem Vulkan’.

Eine kleine Gruppe besitzt die Mehrheit des Reichtums

Trump und Brexit sind als Hauptgefährder des Aufschwungs rasch ausgemacht. Sobald der Abschwung einsetzt, werden alle Finger auf sie zeigen. Dabei liegen die eigentlichen Ursachen woanders: Stanford-Ökonom Nicholas Bloom verweist im SPIEGEL-Interview (4/2017) auf eine fatale Entwicklung: Seit Jahrzehnten würde in den USA und bis zu einem gewissen Grad auch in Ländern Europas die Ungleichheit in der Bevölkerung wachsen. Eine kleine Gruppe besitze die Mehrheit des Reichtums. Das schüre Unsicherheit und würde von Populisten ausgenutzt.

Es existiert ein weiterer Grund: Die Konjunktur verläuft zyklisch. Auf einen Aufschwung, gleich wie dauerhaft, folgt zwangsläufig ein Abschwung. Dem 60er Boom folgte 1966/67 die erste Nachkriegsrezession. Den Aufschwung ab Mitte der 70er beendete 1980 die II. Ölkrise. 1992/93 mündete der damalige Boom ab Ende der 80er in einer Rezession. Auch Ende der 90er gab es einen längeren Aufschwung. Er stotterte leicht, weil das eine oder andere Quartal ins Minus abglitt. Mit dem Platzen der Dotcom-Blase folgten vier bis fünf magere Jahre.

Ab 2006 schlackerte das Wachstum auffällig auf und nieder: Zwei starken Jahren folgten jeweils zwei schwache einschließlich des Rekordeinbruchs in der Finanzkrise. Die letzte Talsohle wurde 2013 durchschritten.

Nun gibt es seit knapp 20 Jahren wieder einen längeren Anstieg. Er könnte sich wie damals als Anlauf zu einer längeren Talfahrt erweisen. Eine solche zeitigt der Erfahrung nach verheerendere Folgen als ein kurzer, wenn auch tiefer Einbruch, wie 2008/9. Dessen Folgen schlugen weniger ins Kontor als der Zusammenbruch des Neuen Marktes mit seiner hohen Zahl an Firmenpleiten und Stellenabbau. Auch deshalb, weil die Finanzmärkte mit billigem Geld geflutet wurden und zwei wachstumsstarke Jahre (2010 u.11) den Rekordeinbruch kompensierten. So schlug man ein Jahrzehnt heraus. Mehr wohl nicht. Der nächste Abschwung lauert. Er dürfte abräumen, was der letzte verschonte: U.a. zahlreiche hoch verschuldete Firmen, die nur wegen der historisch niedrigen Zinsen am Laufen gehalten werden.

In den letzten 50 Jahren dauerten die Boomphasen der deutschen Konjunktur nie länger als vier bis fünf Jahre. Die jetzige hat die vier bereits voll. Das gegenwärtige Anziehen der Weltkonjunktur gibt keinen Anlass zur Entwarnung. Vor einsetzenden Abschwüngen tut sie das regelmäßig. Wie der Weg, der kurz vor der Klippe nochmals ansteigt.


Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe Juli 2017, erschienen.


Online-Flyer Nr. 622  vom 19.07.2017

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