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Arbeit und Soziales
Eine sozialpolitische und sozialmedizinische Beleuchtung der "Agenda-Reformen"
"Daniel Blake" in Deutschland
Von Klaus-Dieter Kolenda
„Ich, Daniel Blake“ heißt der Film von Ken Loach, der 2016 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Der Protagonist dieses Films, Daniel Blake, ist ein Durchschnittsengländer, ein Facharbeiter und gelernter Schreiner, der durch einen Herzinfarkt seine Arbeit verliert und deshalb Sozialhilfe beantragt. Aber die Staatsbürokratie auf dem Sozialamt stellt sich quer und verwehrt ihm die finanzielle Unterstützung. Schnell gerät er in einen Teufelskreis von Zuständigkeiten, Bestimmungen und Antragsformularen. Bei einem seiner häufigen vergeblichen Besuche im Jobcenter verstirbt er plötzlich in der Toilette, wahrscheinlich an einem durch den erlebten Stress ausgelösten Herzversagen. Dieser Film war Auslöser für den Arzt Klaus-Dieter Kolenda, der Frage nachzugehen, wie es einem "Daniel Blake" im Agenda-Deutschland ergehen würde.
Screenshot aus dem Film "Daniel Blake" von Ken Loach
Bei einer Diskussion im Anschluss an diesen erschütternden Film im Kreise von IPPNW-Kolleginnen und Kollegen in Kiel wurde die Frage gestellt, wie es einem „Daniel Blake“ in Deutschland wohl ergehen würde. Da unsere spontanen Antworten nur sehr lückenhaft und unbefriedigend ausfielen, habe ich mich mit dieser Frage intensiver beschäftigt und die sozialpolitischen Bestimmungen mit deren Resultaten zusammengestellt, die im Falle eines „Daniel Blake“ bei uns zur Anwendung kommen müssten. Dabei zeigt sich in erschreckendem Maße, wie unser Sozialstaat durch die neoliberalen „Agenda-Reformen“ der letzten 20 Jahre, vor allem durch die neuen Rentengesetze aus dem Jahre 2001 und die Agenda 2010, die 2003 von der Regierung Schröder/Fischer in Gang gesetzt wurde, abgebaut und weitgehend zerstört worden ist.
Meine Ausführungen gehen von der Einschätzung aus, dass die bundesrepublikanische kapitalistische Gesellschaft der ersten Jahrzehnte nach 1945 insbesondere in den letzten 20 Jahren einer tief greifenden Veränderung unterzogen worden ist und sich in einen „neoliberalen“ Kapitalismus umgewandelt hat. Das Ziel des Neoliberalismus ist die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Ordnungsmechanismen ohne Rücksicht auf die betroffenen Menschen durch Deregulierungen (Abbau der staatlichen Einflüsse auf die Märkte), Privatisierungen (von öffentlichem Eigentum) und Sozialabbau (bei den abhängig Beschäftigten). Das Ergebnis dieser heute schon weit fortgeschrittenen gesellschaftlichen Entwicklung ist überall zu besichtigen: Eine weitere Begünstigung der Reichen mit einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben (1, 2). Am möglichen Schicksal eines „Daniel Blake“ in Deutschland (im Weiteren abgekürzt: D. B.) lässt sich diese Entwicklung exemplarisch aufzeigen.
Lohnfortzahlung und Krankengeld
D. B. wäre als Facharbeiter auch in Deutschland wahrscheinlich ein Angehöriger der Mittelschicht. Im Krankheitsfall steht ihm seit 1970 eine Lohnfortzahlung bis zu 6 Wochen nach Beginn der Krankschreibung mit einem Bruttolohnanspruch von 100 Prozent zu. Erinnert sei daran, dass für dieses Ziel die Gewerkschaften 1956 einen 116 Tage dauernden erbitterten Streik durchgeführt haben und letztlich damit erfolgreich waren! Wahrscheinlich ist das der entscheidende Grund, warum diese Bestimmungen bis heute nicht angetastet worden sind.
Nach Auslaufen der Lohnfortzahlung steht D. B. als Mitglied einer Gesetzlichen Krankenversicherung bei weiterer Krankschreibung bis zu 1 ½ Jahre Krankengeld zu, allerdings nur in Höhe von höchstens 90 Prozent des letzten monatlichen Nettoverdienstes. In der Zeit vor den „Agenda-Reformen“ betrug das Krankengeld noch 100 Prozent des letzten Nettoverdienstes. Es ist somit um 10 Prozent gekürzt worden!
Arbeitslosengeld I
Nach der Zeit der Krankschreibung und bei weiterer Arbeitslosigkeit und Erfüllung der Anwartschaftszeit kann D. B. Arbeitslosengeld beantragen. Es steht ihm zunächst das Arbeitslosengeld I zu. Dieses beträgt 60 Prozent (für Alleinstehende) bzw. 67 Prozent (mit Kindern) des letzten monatlichen Nettoverdienstes. Bei längerer Arbeitslosigkeit wird er feststellen müssen, dass die Bezugsdauer dieser Leistung von früher bis 32 Monate deutlich gekürzt wurde. Unter 50-Jährigen wird sie nur noch für maximal 12 Monate (früher 24 Monate) gewährt. Bei über 50-Jährigen steigt die Bezugsdauer bis auf maximal 24 Monate bei einem Alter von 58 Jahren an.
Arbeitslosengeld II und Sozialgeld
Weiterhin wird er feststellen, dass die ihm früher im Anschluss an das Arbeitslosengeld zustehende Arbeitslosenhilfe ganz gestrichen worden ist. Diese betrug 53 Prozent (für Alleinstehende) und 57 Prozent (mit Kindern) des letzten Nettogehalts, war zeitlich unbegrenzt, mit weniger Auflagen und Sanktionen verbunden und wurde, wie heute auch das Arbeitslosengeld II, aus Steuermitteln finanziert.
An Stelle der Arbeitslosenhilfe ist das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld (für nicht erwerbsfähige Angehörige unter 15 Jahren) getreten, auch Hartz IV genannt. Dieses erhalten Arbeitslose nach dem Arbeitslosengeld I, wenn sie erwerbsfähig und hilfsbedürftig sind. Es ist eine Leistung zur Grundsicherung für Arbeitslose.
Arbeitslosengeld II und Sozialgeld entsprechen dem Niveau der Sozialhilfe und setzen sich aus 3 Bausteinen zusammen: Regelleistungen (2017: 409 €), Kosten für Miete und Heizung (bis zu einem festgelegten Maximum) sowie einen Mehrbedarf bei besonderen Situationen auf Antrag. Dazu gehören, dass eigene Einkommen und Vermögen (bis zu einem geringen Freibetrag) angerechnet werden und bei den geforderten regelmäßigen Vorstellungen in den Jobcentern Druck auf Arbeitslose zur Annahme jeder Arbeit ausgeübt werden kann, wobei Zuwiderhandlungen mit Sanktionen bis hin zum vollständigen Entzug des Arbeitslosengeld II (inklusive Miete und Heizung) bestraft werden müssen (es besteht ein gesetzlicher Automatismus, der keine Berücksichtigung der Umstände erlaubt). 2016 waren 641.000 Hartz IV-Bezieher von 940.000 Sanktionen betroffen, 1/3 davon hatte Kinder (1). Derzeit gibt es ca. 4,3 Mio. erwerbsfähige Hartz-IV-Empfänger, mit Kindern sind ca. 6,4 Mio. Menschen davon betroffen. Ein Drittel davon leidet unter psychischen Problemen wie Depressionen und Angststörungen. In vielen Städten lebt mittlerweile jedes fünfte Kind, in einigen sogar jedes dritte, von Hartz IV (1). In einem aktuellen Beitrag im Blog „Maskenfall“ wird über erschütternde persönliche Erfahrungen mit dem Hartz-IV-System von Jemandem berichtet, der in Jobcentern früher auch auf der anderen Seite des Schreibtisches gesessen hat (3).
Erwerbsminderungsrenten
Nach längerer Krankschreibung wird der Hausarzt D. B. empfehlen, einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen (4, 5). Da in der Deutschen Rentenversicherung der Grundsatz „Reha vor Rente“ gilt, erfolgt spätestens jetzt die Einweisung in eine Rehabilitations-Klinik, in der regelmäßig auch eine sozial-medizinische Beurteilung seiner beruflichen Leistungsfähigkeit durchgeführt wird.
Bis Ende 2000 gab es für erwerbsgeminderte Angehörige der Gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und eine Rente wegen Berufsunfähigkeit. Eine Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 2/3 der Vollrente stand denen zu, die ihren erlernten Beruf nicht mehr ausüben konnten, wenn eine Verweisung auf eine andere zumutbare Tätigkeit nicht mehr in Betracht kam. Mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus dem Jahre 2001 wurden die gesetzlichen Vorschriften grundlegend geändert.
Die Begriffe Erwerbsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit wurden gestrichen. Weggefallen ist auch der bisherige Berufsschutz. An dessen Stelle sind eine Rente wegen teilweiser oder vollständiger Erwerbsminderung und eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit getreten.
Eine teilweise Erwerbsminderung liegt vor, wenn der Antragsteller auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch leichte Arbeiten 3 bis unter 6 Stunden täglich verrichten kann. Da gemäß eines Urteils des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1976 der Teilzeit-Arbeitsmarkt als verschlossen angesehen wird, erhalten so beurteilte Antragsteller derzeit in Schleswig-Holstein nicht nur eine halbe, sondern die volle Erwerbsminderungsrente. Das gilt z. B. für Bayern und andere Bundesländer nicht, da dort der Teilzeit-Arbeitsmarkt als nicht verschlossen angesehen wird.
Eine vollständige Erwerbsminderung liegt vor, wenn der Antragssteller auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch leichte Arbeiten weniger als 3 Stunden täglich verrichten kann. So gibt es seit 2001 volle Erwerbsminderungsrenten bei verschlossenem bzw. ohne verschlossenem Teilzeit-Arbeitsmarkt.
Ein Sonderfall ist die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Diese gilt nur noch für die vor dem 02.01.1961 Geborenen, d. h. für diejenigen, die heute mindestens 56 Jahre alt sind. Diese genießen weiterhin auf der Grundlage ihrer beruflichen Qualifikation Berufsschutz. Aber auch für diesen Personenkreis ist die alte Berufsunfähigkeitsrente (2/3 der Vollrente) entfallen. Wer gemäß dieser Sonderregelung als berufsunfähig beurteilt wird, erhält nur die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit in Höhe einer halben Vollrente.
Für die nach dem 02.01.1961 Geborenen, d. h. für diejenigen, die heute jünger als 56 Jahre alt sind, ist der Berufschutz vollständig entfallen. In 11 Jahren, d. h. im Jahre 2028, wird das für alle abhängig Beschäftigten gelten, weil dann auch die vor 1961 Geborenen 67 Jahre alt und älter sind.
Die seit 2001 gültigen gesetzlichen Bestimmungen stellen einerseits höhere Anforderungen an die erforderliche Minderung des beruflichen Leistungsvermögens für die Gewährung von Erwerbsminderungsrenten. Andererseits erhielt vor 2001 jeder Versicherte eine Berufsunfähigkeitsrente, sofern ein Berufsschutz vorlag. Diese Bedingung war bereits erfüllt, wenn der Versicherte nicht mehr imstande war, die erlernte Berufstätigkeit oder eine zumutbare Verweisungstätigkeit auszuüben. Seit 2001 kann dagegen ein Antragsteller auf jede Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden, wobei ein sozialer Abstieg in Kauf genommen werden muss.
Außerdem wird bei einer positiven Entscheidung im Normalfall nur eine Zeitrente gewährt, die bis zu drei Jahre befristet sein kann. Renten wegen verschlossenem Teilzeit-Arbeitsmarkt sind immer Zeitrenten.
Bei Erwerbsminderungsrenten vor dem 63. Lebensjahr werden Abschläge bis 10,8 Prozent abgezogen, obwohl dadurch keine steuernde Wirkung zu erzielen ist, denn die Betroffenen können sich ja weder Ihre Erkrankung noch den Zeitpunkt aussuchen, an dem sie beginnt.
Die durchschnittliche volle Erwerbsminderungsrente liegt heute bei monatlich 740 € netto und damit unterhalb der Grundsicherung (siehe unten). Ein Teil der krankheitsbedingten Frührentner erhält nur eine halbe Erwerbsminderungsrente. Ca. 20 Prozent der Rentenneuzugänge sind derzeit Erwerbsminderungsrenten.
Die „Rentenreform“ von 2001 mit der Einführung der Erwerbsminderungsrenten anstelle der früheren Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrenten hat zu einem Abbau von sozialen Rechten für mehr als 70 Prozent der abhängig Beschäftigten geführt. So ist in Deutschland davon auszugehen, dass ca. 60 Prozent der Versicherten einen Berufsabschluss und 11,5 Prozent einen Fachhochschul- bzw. Universitätsabschluss besitzen, nur ca. 10 Prozent sind ohne abgeschlossene Ausbildung. Die Abschaffung der bisherigen Berufsunfähigkeitsrente war deshalb eine groß angelegte Enteignung im Bereich der Daseinsfürsorge und der bis dahin gültigen sozialen Rechte für die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten, ist aber bis heute in der Öffentlichkeit kein Thema!
Der Versicherungswissenschaftler Prof. Schwintowski hat kürzlich bei Report Mainz und in einem Interview auf den Nachdenkseiten die Meinung vertreten, dass die Streichung der Absicherung gegen Berufsunfähigkeit ein Verfassungsbruch gewesen ist und schlägt deshalb eine Verfassungsbeschwerde vor (6).
Diese Enteignung konnte nur deshalb ohne größere Widerstände von Seiten der Betroffenen durchgesetzt werden, weil die Gesetze unter Leitung eines sozialdemokratischen Ministers (Walter Riester) erarbeitet und von der damaligen rot-grünen Koalition beschlossen wurden. Sie finden bis heute uneingeschränkten Beifall bei den übrigen neoliberalen Parteien wie CDU/CSU und FDP.
Als Schlussfolgerungen aus diesem Abschnitt ergibt sich für einen D. B. in Deutschland:
Altersrenten
Mit Erreichen der Altersgrenze kann D. B. die Regelaltersrente beantragen. Diese ist an zwei Voraussetzungen gebunden, an die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von 5 Jahren (Mindestversicherungszeit) und an die Vollendung des 65. Geburtstags plus x Monate (durch die schrittweise Anhebung der Altersgrenze ab 2012 auf 67 Jahre ab Jahrgang 1947 um jeweils 1 Monat pro Jahr).
Ein früherer Rentenbeginn mit 63 Jahren ohne Abschläge bzw. mit 60 Jahren (unter bestimmten Umständen mit Abschlägen bis 10,8 Prozent) ist nur noch für Schwerbehinderte (Altersrente für Schwerbehinderte) möglich und setzt eine entsprechende Anerkennung nach dem Schwerbehindertengesetz voraus. Die frühere Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder Altersteilzeit ab dem 60. Lebensjahr ist inzwischen ausgelaufen.
2015 betrug in Deutschland die durchschnittliche monatliche Altersrente 842 € netto (679 € bei Frauen und 1006 € bei Männern- nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge, vor Steuern). Die Höhe der Standardrente (Eckrente) bei 45 Versicherungsjahren betrug 1.187,55 € netto.
Durch die erfolgte Absenkung des Rentenniveaus (1985 noch 57,5 Prozent) auf mittlerweile 48 Prozent (2016) hat D. B. eine deutlich niedrigere Altersrente als früher zu erwarten. Durch die Einführung des Riester-/und Nachhaltigkeitsfaktors (sog. Dämpfungsfaktoren) sind in den vergangenen Jahren schon deutliche Rentenkürzungen erfolgt, die noch zunehmen werden, wenn das Rentenniveau, wie geplant, bis 2030 auf 43 Prozent des durchschnittliche Jahres-Nettoverdienstes weiter abgesenkt wird. Von 2000 bis 2016 ist das Rentenniveau real um 10 Prozent abgesenkt worden und soll bis 2030 um weitere 15 Prozent gekürzt werden (7, 8).
Die Rentenkürzungen sollen angeblich durch eine private kapitalgedeckte Zusatzrente, die sogenannte „Riester-Rente“, ausgeglichen werden, was aber trotz der staatlichen Zuschüsse nicht funktionieren kann (9). Nur ein Teil der Rentenversicherten hat einen Riester-Vertrag abgeschlossen, wobei vor allem diejenigen, die sehr wenig verdienen und eine besonders niedrige Rente zu erwarten haben, gar nicht „riestern“ können.
Nicht in allen europäischen Ländern ist das Rentenniveau so niedrig wie in Deutschland. So erhielt 2013 beispielsweise in Österreich ein Neurentner nach 35 Jahren Beitragszahlungen eine Durchschnittsrente (brutto) von 1580 € (in Deutschland von 1050 €) in 14 monatlichen Auszahlungen, d. h. er erhielt ca. 75 Prozent mehr bzw. ca. 90 Prozent des Nettoverdienstes. Die Mindestrente betrug in Österreich 12.000 € pro Jahr (10, 11).
Der Vergleich zwischen den Altersversorgungssystemen in Deutschland und Österreich führt zu eindeutigen Ergebnissen: Das Rentenniveau in Österreich ist deutlich höher (um 70 bis 100 Prozent), das Rentensystem ist deutlich gerechter (ein System für alle), deutlich armutsfester (Mindestrente) und die Renten sind deutlich zukunftssicherer (reine Umlage-Rente).
Grundsicherung im Alter
Falls die Altersrente von D. B. so niedrig ausfällt, dass sie den Grundsicherungsbetrag (2016: 785 €) unterschreitet, kann er Grundsicherung im Alter beantragen, die von der Höhe mit der Sozialhilfe vergleichbar ist.
In Deutschland gibt es ca. 1 Mio. Alte und Erwerbsgeminderte, die auf das Sozialamt angewiesen sind. Dass derzeit nur 3 Prozent der Rentner Grundsicherung im Alter (hohe Dunkelziffer!) beziehen, lässt keine Rückschlüsse auf zukünftige Entwicklungen zu. Jeder Zweite verdient heute so wenig (< 2350 € monatlich), dass er im Alter mit einer Rente unterhalb der Grundsicherung rechnen muss! Das war die frohe Weihnachtsbotschaft der „Tagesschau“ vom 24.12.2016. Hat es darauf Proteste in der Öffentlichkeit gegeben? (12)
Wenn 2030 mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer eine Rente unter dem Grundsicherungsniveau zu erwarten hat, ist dies ein unhaltbarer Sachverhalt, der zeigt, wie dringend der Handlungsbedarf ist, um armutsfeste Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung zu ermöglichen. Was in Österreich erreicht worden ist, sollte auch in Deutschland zu schaffen sein, wenn es wirklich gewollt wird.
Zusammenfassung und Alternativen
Es wurden einige konkrete sozialpolitische Auswirkungen der „Agenda-Reformen“ vorgestellt. Dazu gehören die Kürzung des Krankengeldes um 10 Prozent, der erschwerte Zugang zu Erwerbsminderungsrenten und die Kürzung und Abschaffung der früheren Berufsunfähigkeitsrente, die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, die Einführung des Arbeitslosengeldes II und des Sozialgeldes, auch Hartz IV genannt, auf Sozialhilfeniveau mit Auflagen und Sanktionsdruck auf Arbeitslose in Jobcentern, die Abschaffung der vorzeitigen Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Altersteilzeit, die Senkung des Niveaus der Altersrenten, bisher um 10 Prozent und in der Perspektive bis 2030 um weitere 15 Prozent, mit einer zu erwartenden drastischen Zunahme der Altersarmut.
Ziel dieses sozialpolitischen Kahlschlags war, wie Gerhard Schröder 2003 in Davos mit Stolz verkündet hat, der Ausbau des Niedrig-Lohn-Sektors mit der Einführung der Mini- und Midijobs und der Ausweitung der befristeten Arbeitsverträge, der Zeitarbeit und der Leiharbeit.
Bei den „Agenda-Reformen“ handelt es sich um den größten Sozialabbau seit 1945. Dieser hat die Reichen in Deutschland noch reicher und zugleich diejenigen in der unteren Hälfte der Einkommensskala noch ärmer gemacht und führt bei weiten Teilen der Mittelschicht zu Abstiegsängsten.
Auch ein „Daniel Blake“ in Deutschland gehört zu den davon Betroffenen. Deshalb wird es auch ihm in Deutschland wahrscheinlich heute schlechter gehen als noch vor 20 Jahren. Auch könnte er leicht in eine vergleichbare menschenunwürdige Lebenssituation hineingelangen, wie das in dem Film „Ich, Daniel Blake“ eindrucksvoll gezeigt wird.
Gibt es Alternativen? Grundsätzlich ja, denn die genannten „Reformen“ sind nicht Ausdruck von Naturgesetzen, obwohl sie von der herrschenden Politik und den Mainstream-Medien immer als alternativlos dargestellt werden. Sie sind vielmehr Ausdruck einer interessengeleiteten Politik der in unserem Land Herrschenden, die im Prinzip zu verändern ist.
Auf einer fortschrittlichen Agenda im Interesse der abhängig Beschäftigten müsste erstens die Wiederherstellung aller oben angegebenen früheren sozialstaatlichen Regelungen stehen. Es ist klar, dass eine Politik für „Mehr Gerechtigkeit“ nicht bei der Forderung nach einer Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I stehen bleiben darf. Sondern sie müsste in ihrer Agenda auch die Aufstockung des Krankengelds, einen leichteren Zugang zur Erwerbsminderungsrente und die Wiedereinführung der Berufsunfähigkeitsrente, wie sie vor 2001 bestanden hat, eine deutliche Erhöhung des Arbeitslosengelds II bei Abschaffung der Auflagen und Sanktionen, eine deutliche Aufstockung des Niveaus der Altersrenten, die Einführung einer auskömmlichen Mindestrente, die Abschaffung der privaten Riesterrente und eine deutliche Erhöhung der Grundsicherung im Alter aufnehmen, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen, die nicht oft genug wiederholt werden können.
Um unser sozialen Sicherungssystems auch zukünftig sicher zu machen, wäre zweitens dessen Weiterentwicklung in Angriff zu nehmen, z. B. durch die Einführung einer einheitlichen solidarischen Bürgerversicherung bzw. Erwerbstätigenversicherung, die die Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung umfasst und in die alle Erwerbstätigen ihre Beiträge auf alle erzielten Einkommensarten einzahlen müssen. Dafür gibt es von Fachleuten ausgearbeitete überzeugende Konzepte und wahrscheinlich heute schon eine sichere Mehrheit in unserer Gesellschaft (1).
Literaturangaben und Links:
1. Schneider U. Kein Wohlstand für alle!? Wie sich Deutschland selber zerlegt und was wir dagegen tun können. Westend Verlag, Frankfurt/Main 2017
2. Berger J. Wem gehört Deutschland? Die wahren Machthaber und das Märchen vom Volksvermögen. Westend Verlag, Frankfurt/Main
3. https://www.maskenfall.de/?p=11891#more-11891
4. Kolenda KD. Erwerbsminderungsrenten. Sozialmedizinische Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit aus der Sicht eines Internisten. internistische praxis 57, 319-330 (2017)
5. https://www.maskenfall.de/?p=11404
6. http://www.nachdenkseiten.de/?p=29270
7. http://rentenpolitikwatch.de/
8. https://www.maskenfall.de/?p=11913#more-11913
9. http://www.seniorenaufstand.de/
10. http://www.seniorenaufstand.de/in-sachen-rente-steht-es-zwischen-oesterreich-deutschland-40/
11. https://www.kontextwochenzeitung.de/ueberm-kesselrand/328/wo-die-rente-sicher-ist-4477.html?pk_campaign=KONTEXT-per-EMail&pk_kwd=Ausgabe-328
12. https://www.tagesschau.de/inland/rente-armut-101.html
Klaus-Dieter Kolenda, Jahrgang 1941, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin und Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik und ist seit über 40 Jahren als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Artikel und eine Reihe von Fach- und Sachbücher über die Prävention chronischer Krankheiten verfasst.
Trailer zum Film "Daniel Blake" von Ken Loach (deutschsprachig)
https://www.youtube.com/watch?v=vJ5tzlCE0Zo
Online-Flyer Nr. 629 vom 20.09.2017
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Arbeit und Soziales
Eine sozialpolitische und sozialmedizinische Beleuchtung der "Agenda-Reformen"
"Daniel Blake" in Deutschland
Von Klaus-Dieter Kolenda
„Ich, Daniel Blake“ heißt der Film von Ken Loach, der 2016 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Der Protagonist dieses Films, Daniel Blake, ist ein Durchschnittsengländer, ein Facharbeiter und gelernter Schreiner, der durch einen Herzinfarkt seine Arbeit verliert und deshalb Sozialhilfe beantragt. Aber die Staatsbürokratie auf dem Sozialamt stellt sich quer und verwehrt ihm die finanzielle Unterstützung. Schnell gerät er in einen Teufelskreis von Zuständigkeiten, Bestimmungen und Antragsformularen. Bei einem seiner häufigen vergeblichen Besuche im Jobcenter verstirbt er plötzlich in der Toilette, wahrscheinlich an einem durch den erlebten Stress ausgelösten Herzversagen. Dieser Film war Auslöser für den Arzt Klaus-Dieter Kolenda, der Frage nachzugehen, wie es einem "Daniel Blake" im Agenda-Deutschland ergehen würde.
Screenshot aus dem Film "Daniel Blake" von Ken Loach
Bei einer Diskussion im Anschluss an diesen erschütternden Film im Kreise von IPPNW-Kolleginnen und Kollegen in Kiel wurde die Frage gestellt, wie es einem „Daniel Blake“ in Deutschland wohl ergehen würde. Da unsere spontanen Antworten nur sehr lückenhaft und unbefriedigend ausfielen, habe ich mich mit dieser Frage intensiver beschäftigt und die sozialpolitischen Bestimmungen mit deren Resultaten zusammengestellt, die im Falle eines „Daniel Blake“ bei uns zur Anwendung kommen müssten. Dabei zeigt sich in erschreckendem Maße, wie unser Sozialstaat durch die neoliberalen „Agenda-Reformen“ der letzten 20 Jahre, vor allem durch die neuen Rentengesetze aus dem Jahre 2001 und die Agenda 2010, die 2003 von der Regierung Schröder/Fischer in Gang gesetzt wurde, abgebaut und weitgehend zerstört worden ist.
Meine Ausführungen gehen von der Einschätzung aus, dass die bundesrepublikanische kapitalistische Gesellschaft der ersten Jahrzehnte nach 1945 insbesondere in den letzten 20 Jahren einer tief greifenden Veränderung unterzogen worden ist und sich in einen „neoliberalen“ Kapitalismus umgewandelt hat. Das Ziel des Neoliberalismus ist die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Ordnungsmechanismen ohne Rücksicht auf die betroffenen Menschen durch Deregulierungen (Abbau der staatlichen Einflüsse auf die Märkte), Privatisierungen (von öffentlichem Eigentum) und Sozialabbau (bei den abhängig Beschäftigten). Das Ergebnis dieser heute schon weit fortgeschrittenen gesellschaftlichen Entwicklung ist überall zu besichtigen: Eine weitere Begünstigung der Reichen mit einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben (1, 2). Am möglichen Schicksal eines „Daniel Blake“ in Deutschland (im Weiteren abgekürzt: D. B.) lässt sich diese Entwicklung exemplarisch aufzeigen.
Lohnfortzahlung und Krankengeld
D. B. wäre als Facharbeiter auch in Deutschland wahrscheinlich ein Angehöriger der Mittelschicht. Im Krankheitsfall steht ihm seit 1970 eine Lohnfortzahlung bis zu 6 Wochen nach Beginn der Krankschreibung mit einem Bruttolohnanspruch von 100 Prozent zu. Erinnert sei daran, dass für dieses Ziel die Gewerkschaften 1956 einen 116 Tage dauernden erbitterten Streik durchgeführt haben und letztlich damit erfolgreich waren! Wahrscheinlich ist das der entscheidende Grund, warum diese Bestimmungen bis heute nicht angetastet worden sind.
Nach Auslaufen der Lohnfortzahlung steht D. B. als Mitglied einer Gesetzlichen Krankenversicherung bei weiterer Krankschreibung bis zu 1 ½ Jahre Krankengeld zu, allerdings nur in Höhe von höchstens 90 Prozent des letzten monatlichen Nettoverdienstes. In der Zeit vor den „Agenda-Reformen“ betrug das Krankengeld noch 100 Prozent des letzten Nettoverdienstes. Es ist somit um 10 Prozent gekürzt worden!
Arbeitslosengeld I
Nach der Zeit der Krankschreibung und bei weiterer Arbeitslosigkeit und Erfüllung der Anwartschaftszeit kann D. B. Arbeitslosengeld beantragen. Es steht ihm zunächst das Arbeitslosengeld I zu. Dieses beträgt 60 Prozent (für Alleinstehende) bzw. 67 Prozent (mit Kindern) des letzten monatlichen Nettoverdienstes. Bei längerer Arbeitslosigkeit wird er feststellen müssen, dass die Bezugsdauer dieser Leistung von früher bis 32 Monate deutlich gekürzt wurde. Unter 50-Jährigen wird sie nur noch für maximal 12 Monate (früher 24 Monate) gewährt. Bei über 50-Jährigen steigt die Bezugsdauer bis auf maximal 24 Monate bei einem Alter von 58 Jahren an.
Arbeitslosengeld II und Sozialgeld
Weiterhin wird er feststellen, dass die ihm früher im Anschluss an das Arbeitslosengeld zustehende Arbeitslosenhilfe ganz gestrichen worden ist. Diese betrug 53 Prozent (für Alleinstehende) und 57 Prozent (mit Kindern) des letzten Nettogehalts, war zeitlich unbegrenzt, mit weniger Auflagen und Sanktionen verbunden und wurde, wie heute auch das Arbeitslosengeld II, aus Steuermitteln finanziert.
An Stelle der Arbeitslosenhilfe ist das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld (für nicht erwerbsfähige Angehörige unter 15 Jahren) getreten, auch Hartz IV genannt. Dieses erhalten Arbeitslose nach dem Arbeitslosengeld I, wenn sie erwerbsfähig und hilfsbedürftig sind. Es ist eine Leistung zur Grundsicherung für Arbeitslose.
Arbeitslosengeld II und Sozialgeld entsprechen dem Niveau der Sozialhilfe und setzen sich aus 3 Bausteinen zusammen: Regelleistungen (2017: 409 €), Kosten für Miete und Heizung (bis zu einem festgelegten Maximum) sowie einen Mehrbedarf bei besonderen Situationen auf Antrag. Dazu gehören, dass eigene Einkommen und Vermögen (bis zu einem geringen Freibetrag) angerechnet werden und bei den geforderten regelmäßigen Vorstellungen in den Jobcentern Druck auf Arbeitslose zur Annahme jeder Arbeit ausgeübt werden kann, wobei Zuwiderhandlungen mit Sanktionen bis hin zum vollständigen Entzug des Arbeitslosengeld II (inklusive Miete und Heizung) bestraft werden müssen (es besteht ein gesetzlicher Automatismus, der keine Berücksichtigung der Umstände erlaubt). 2016 waren 641.000 Hartz IV-Bezieher von 940.000 Sanktionen betroffen, 1/3 davon hatte Kinder (1). Derzeit gibt es ca. 4,3 Mio. erwerbsfähige Hartz-IV-Empfänger, mit Kindern sind ca. 6,4 Mio. Menschen davon betroffen. Ein Drittel davon leidet unter psychischen Problemen wie Depressionen und Angststörungen. In vielen Städten lebt mittlerweile jedes fünfte Kind, in einigen sogar jedes dritte, von Hartz IV (1). In einem aktuellen Beitrag im Blog „Maskenfall“ wird über erschütternde persönliche Erfahrungen mit dem Hartz-IV-System von Jemandem berichtet, der in Jobcentern früher auch auf der anderen Seite des Schreibtisches gesessen hat (3).
Erwerbsminderungsrenten
Nach längerer Krankschreibung wird der Hausarzt D. B. empfehlen, einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen (4, 5). Da in der Deutschen Rentenversicherung der Grundsatz „Reha vor Rente“ gilt, erfolgt spätestens jetzt die Einweisung in eine Rehabilitations-Klinik, in der regelmäßig auch eine sozial-medizinische Beurteilung seiner beruflichen Leistungsfähigkeit durchgeführt wird.
Bis Ende 2000 gab es für erwerbsgeminderte Angehörige der Gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und eine Rente wegen Berufsunfähigkeit. Eine Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 2/3 der Vollrente stand denen zu, die ihren erlernten Beruf nicht mehr ausüben konnten, wenn eine Verweisung auf eine andere zumutbare Tätigkeit nicht mehr in Betracht kam. Mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus dem Jahre 2001 wurden die gesetzlichen Vorschriften grundlegend geändert.
Die Begriffe Erwerbsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit wurden gestrichen. Weggefallen ist auch der bisherige Berufsschutz. An dessen Stelle sind eine Rente wegen teilweiser oder vollständiger Erwerbsminderung und eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit getreten.
Eine teilweise Erwerbsminderung liegt vor, wenn der Antragsteller auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch leichte Arbeiten 3 bis unter 6 Stunden täglich verrichten kann. Da gemäß eines Urteils des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1976 der Teilzeit-Arbeitsmarkt als verschlossen angesehen wird, erhalten so beurteilte Antragsteller derzeit in Schleswig-Holstein nicht nur eine halbe, sondern die volle Erwerbsminderungsrente. Das gilt z. B. für Bayern und andere Bundesländer nicht, da dort der Teilzeit-Arbeitsmarkt als nicht verschlossen angesehen wird.
Eine vollständige Erwerbsminderung liegt vor, wenn der Antragssteller auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch leichte Arbeiten weniger als 3 Stunden täglich verrichten kann. So gibt es seit 2001 volle Erwerbsminderungsrenten bei verschlossenem bzw. ohne verschlossenem Teilzeit-Arbeitsmarkt.
Ein Sonderfall ist die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Diese gilt nur noch für die vor dem 02.01.1961 Geborenen, d. h. für diejenigen, die heute mindestens 56 Jahre alt sind. Diese genießen weiterhin auf der Grundlage ihrer beruflichen Qualifikation Berufsschutz. Aber auch für diesen Personenkreis ist die alte Berufsunfähigkeitsrente (2/3 der Vollrente) entfallen. Wer gemäß dieser Sonderregelung als berufsunfähig beurteilt wird, erhält nur die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit in Höhe einer halben Vollrente.
Für die nach dem 02.01.1961 Geborenen, d. h. für diejenigen, die heute jünger als 56 Jahre alt sind, ist der Berufschutz vollständig entfallen. In 11 Jahren, d. h. im Jahre 2028, wird das für alle abhängig Beschäftigten gelten, weil dann auch die vor 1961 Geborenen 67 Jahre alt und älter sind.
Die seit 2001 gültigen gesetzlichen Bestimmungen stellen einerseits höhere Anforderungen an die erforderliche Minderung des beruflichen Leistungsvermögens für die Gewährung von Erwerbsminderungsrenten. Andererseits erhielt vor 2001 jeder Versicherte eine Berufsunfähigkeitsrente, sofern ein Berufsschutz vorlag. Diese Bedingung war bereits erfüllt, wenn der Versicherte nicht mehr imstande war, die erlernte Berufstätigkeit oder eine zumutbare Verweisungstätigkeit auszuüben. Seit 2001 kann dagegen ein Antragsteller auf jede Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden, wobei ein sozialer Abstieg in Kauf genommen werden muss.
Außerdem wird bei einer positiven Entscheidung im Normalfall nur eine Zeitrente gewährt, die bis zu drei Jahre befristet sein kann. Renten wegen verschlossenem Teilzeit-Arbeitsmarkt sind immer Zeitrenten.
Bei Erwerbsminderungsrenten vor dem 63. Lebensjahr werden Abschläge bis 10,8 Prozent abgezogen, obwohl dadurch keine steuernde Wirkung zu erzielen ist, denn die Betroffenen können sich ja weder Ihre Erkrankung noch den Zeitpunkt aussuchen, an dem sie beginnt.
Die durchschnittliche volle Erwerbsminderungsrente liegt heute bei monatlich 740 € netto und damit unterhalb der Grundsicherung (siehe unten). Ein Teil der krankheitsbedingten Frührentner erhält nur eine halbe Erwerbsminderungsrente. Ca. 20 Prozent der Rentenneuzugänge sind derzeit Erwerbsminderungsrenten.
Die „Rentenreform“ von 2001 mit der Einführung der Erwerbsminderungsrenten anstelle der früheren Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrenten hat zu einem Abbau von sozialen Rechten für mehr als 70 Prozent der abhängig Beschäftigten geführt. So ist in Deutschland davon auszugehen, dass ca. 60 Prozent der Versicherten einen Berufsabschluss und 11,5 Prozent einen Fachhochschul- bzw. Universitätsabschluss besitzen, nur ca. 10 Prozent sind ohne abgeschlossene Ausbildung. Die Abschaffung der bisherigen Berufsunfähigkeitsrente war deshalb eine groß angelegte Enteignung im Bereich der Daseinsfürsorge und der bis dahin gültigen sozialen Rechte für die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten, ist aber bis heute in der Öffentlichkeit kein Thema!
Der Versicherungswissenschaftler Prof. Schwintowski hat kürzlich bei Report Mainz und in einem Interview auf den Nachdenkseiten die Meinung vertreten, dass die Streichung der Absicherung gegen Berufsunfähigkeit ein Verfassungsbruch gewesen ist und schlägt deshalb eine Verfassungsbeschwerde vor (6).
Diese Enteignung konnte nur deshalb ohne größere Widerstände von Seiten der Betroffenen durchgesetzt werden, weil die Gesetze unter Leitung eines sozialdemokratischen Ministers (Walter Riester) erarbeitet und von der damaligen rot-grünen Koalition beschlossen wurden. Sie finden bis heute uneingeschränkten Beifall bei den übrigen neoliberalen Parteien wie CDU/CSU und FDP.
Als Schlussfolgerungen aus diesem Abschnitt ergibt sich für einen D. B. in Deutschland:
- Wenn er eine Erwerbsminderungsrente beantragt, ihm in der Rehabilitationsklinik trotz vieler Einschränkungen ein noch vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte Arbeiten attestiert wird, er aber in seinem erlernten Beruf nicht mehr eingesetzt werden kann, und wenn er mindestens 56 Jahre alt ist, dann genießt er derzeit noch einen (gegenüber früher reduzierten) Berufsschutz und hat noch einen Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit in Höhe einer halben Vollrente. Da der Zahlbetrag jedoch wahrscheinlich unter 800 € liegen wird, kann er mit dem positiven Rentenbescheid zugleich einen Antrag auf Grundsicherung beim Sozialamt (siehe unten) abgeben.
- Wenn er bei Antragstellung jünger als 56 Jahre alt ist, hat er bei dem genannten beruflichen Leistungsvermögen gar keinen Berufsschutz mehr, ist auf das Arbeitslosengeld I bzw. II angewiesen und muss jede Arbeit, die ihm vom Jobcenter angeboten wird, annehmen, auch wenn ein beruflicher Abstieg damit verbunden ist.
- Vor 2001 hätte D. B. unabhängig vom Lebendalter Anspruch auf eine Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 2/3 seiner Vollente gehabt, wenn er seinen erlernten Beruf aus Krankheitsgründen nicht mehr ausüben kann und eine Verweisung auf eine andere zumutbare Tätigkeit nicht mehr in Betracht kommt.
- Eine volle oder teilweise Erwerbsminderungsrente kann D. B. seit 2001 nur dann beanspruchen, wenn seine berufliche Leistungsfähigkeit aus Krankheitsgründen soweit abgesunken ist, dass auch leichte Arbeiten nur noch weniger als 6 Std. täglich zugemutet werden können. Unter leichter Arbeit versteht man z. B. eine vorwiegend sitzende Tätigkeit als Verpacker von Waren. In allen anderen Fällen wird er auf Hartz IV verwiesen.
Altersrenten
Mit Erreichen der Altersgrenze kann D. B. die Regelaltersrente beantragen. Diese ist an zwei Voraussetzungen gebunden, an die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von 5 Jahren (Mindestversicherungszeit) und an die Vollendung des 65. Geburtstags plus x Monate (durch die schrittweise Anhebung der Altersgrenze ab 2012 auf 67 Jahre ab Jahrgang 1947 um jeweils 1 Monat pro Jahr).
Ein früherer Rentenbeginn mit 63 Jahren ohne Abschläge bzw. mit 60 Jahren (unter bestimmten Umständen mit Abschlägen bis 10,8 Prozent) ist nur noch für Schwerbehinderte (Altersrente für Schwerbehinderte) möglich und setzt eine entsprechende Anerkennung nach dem Schwerbehindertengesetz voraus. Die frühere Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder Altersteilzeit ab dem 60. Lebensjahr ist inzwischen ausgelaufen.
2015 betrug in Deutschland die durchschnittliche monatliche Altersrente 842 € netto (679 € bei Frauen und 1006 € bei Männern- nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge, vor Steuern). Die Höhe der Standardrente (Eckrente) bei 45 Versicherungsjahren betrug 1.187,55 € netto.
Durch die erfolgte Absenkung des Rentenniveaus (1985 noch 57,5 Prozent) auf mittlerweile 48 Prozent (2016) hat D. B. eine deutlich niedrigere Altersrente als früher zu erwarten. Durch die Einführung des Riester-/und Nachhaltigkeitsfaktors (sog. Dämpfungsfaktoren) sind in den vergangenen Jahren schon deutliche Rentenkürzungen erfolgt, die noch zunehmen werden, wenn das Rentenniveau, wie geplant, bis 2030 auf 43 Prozent des durchschnittliche Jahres-Nettoverdienstes weiter abgesenkt wird. Von 2000 bis 2016 ist das Rentenniveau real um 10 Prozent abgesenkt worden und soll bis 2030 um weitere 15 Prozent gekürzt werden (7, 8).
Die Rentenkürzungen sollen angeblich durch eine private kapitalgedeckte Zusatzrente, die sogenannte „Riester-Rente“, ausgeglichen werden, was aber trotz der staatlichen Zuschüsse nicht funktionieren kann (9). Nur ein Teil der Rentenversicherten hat einen Riester-Vertrag abgeschlossen, wobei vor allem diejenigen, die sehr wenig verdienen und eine besonders niedrige Rente zu erwarten haben, gar nicht „riestern“ können.
Nicht in allen europäischen Ländern ist das Rentenniveau so niedrig wie in Deutschland. So erhielt 2013 beispielsweise in Österreich ein Neurentner nach 35 Jahren Beitragszahlungen eine Durchschnittsrente (brutto) von 1580 € (in Deutschland von 1050 €) in 14 monatlichen Auszahlungen, d. h. er erhielt ca. 75 Prozent mehr bzw. ca. 90 Prozent des Nettoverdienstes. Die Mindestrente betrug in Österreich 12.000 € pro Jahr (10, 11).
Der Vergleich zwischen den Altersversorgungssystemen in Deutschland und Österreich führt zu eindeutigen Ergebnissen: Das Rentenniveau in Österreich ist deutlich höher (um 70 bis 100 Prozent), das Rentensystem ist deutlich gerechter (ein System für alle), deutlich armutsfester (Mindestrente) und die Renten sind deutlich zukunftssicherer (reine Umlage-Rente).
Grundsicherung im Alter
Falls die Altersrente von D. B. so niedrig ausfällt, dass sie den Grundsicherungsbetrag (2016: 785 €) unterschreitet, kann er Grundsicherung im Alter beantragen, die von der Höhe mit der Sozialhilfe vergleichbar ist.
In Deutschland gibt es ca. 1 Mio. Alte und Erwerbsgeminderte, die auf das Sozialamt angewiesen sind. Dass derzeit nur 3 Prozent der Rentner Grundsicherung im Alter (hohe Dunkelziffer!) beziehen, lässt keine Rückschlüsse auf zukünftige Entwicklungen zu. Jeder Zweite verdient heute so wenig (< 2350 € monatlich), dass er im Alter mit einer Rente unterhalb der Grundsicherung rechnen muss! Das war die frohe Weihnachtsbotschaft der „Tagesschau“ vom 24.12.2016. Hat es darauf Proteste in der Öffentlichkeit gegeben? (12)
Wenn 2030 mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer eine Rente unter dem Grundsicherungsniveau zu erwarten hat, ist dies ein unhaltbarer Sachverhalt, der zeigt, wie dringend der Handlungsbedarf ist, um armutsfeste Renten aus der Gesetzlichen Rentenversicherung zu ermöglichen. Was in Österreich erreicht worden ist, sollte auch in Deutschland zu schaffen sein, wenn es wirklich gewollt wird.
Zusammenfassung und Alternativen
Es wurden einige konkrete sozialpolitische Auswirkungen der „Agenda-Reformen“ vorgestellt. Dazu gehören die Kürzung des Krankengeldes um 10 Prozent, der erschwerte Zugang zu Erwerbsminderungsrenten und die Kürzung und Abschaffung der früheren Berufsunfähigkeitsrente, die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, die Einführung des Arbeitslosengeldes II und des Sozialgeldes, auch Hartz IV genannt, auf Sozialhilfeniveau mit Auflagen und Sanktionsdruck auf Arbeitslose in Jobcentern, die Abschaffung der vorzeitigen Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Altersteilzeit, die Senkung des Niveaus der Altersrenten, bisher um 10 Prozent und in der Perspektive bis 2030 um weitere 15 Prozent, mit einer zu erwartenden drastischen Zunahme der Altersarmut.
Ziel dieses sozialpolitischen Kahlschlags war, wie Gerhard Schröder 2003 in Davos mit Stolz verkündet hat, der Ausbau des Niedrig-Lohn-Sektors mit der Einführung der Mini- und Midijobs und der Ausweitung der befristeten Arbeitsverträge, der Zeitarbeit und der Leiharbeit.
Bei den „Agenda-Reformen“ handelt es sich um den größten Sozialabbau seit 1945. Dieser hat die Reichen in Deutschland noch reicher und zugleich diejenigen in der unteren Hälfte der Einkommensskala noch ärmer gemacht und führt bei weiten Teilen der Mittelschicht zu Abstiegsängsten.
Auch ein „Daniel Blake“ in Deutschland gehört zu den davon Betroffenen. Deshalb wird es auch ihm in Deutschland wahrscheinlich heute schlechter gehen als noch vor 20 Jahren. Auch könnte er leicht in eine vergleichbare menschenunwürdige Lebenssituation hineingelangen, wie das in dem Film „Ich, Daniel Blake“ eindrucksvoll gezeigt wird.
Gibt es Alternativen? Grundsätzlich ja, denn die genannten „Reformen“ sind nicht Ausdruck von Naturgesetzen, obwohl sie von der herrschenden Politik und den Mainstream-Medien immer als alternativlos dargestellt werden. Sie sind vielmehr Ausdruck einer interessengeleiteten Politik der in unserem Land Herrschenden, die im Prinzip zu verändern ist.
Auf einer fortschrittlichen Agenda im Interesse der abhängig Beschäftigten müsste erstens die Wiederherstellung aller oben angegebenen früheren sozialstaatlichen Regelungen stehen. Es ist klar, dass eine Politik für „Mehr Gerechtigkeit“ nicht bei der Forderung nach einer Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I stehen bleiben darf. Sondern sie müsste in ihrer Agenda auch die Aufstockung des Krankengelds, einen leichteren Zugang zur Erwerbsminderungsrente und die Wiedereinführung der Berufsunfähigkeitsrente, wie sie vor 2001 bestanden hat, eine deutliche Erhöhung des Arbeitslosengelds II bei Abschaffung der Auflagen und Sanktionen, eine deutliche Aufstockung des Niveaus der Altersrenten, die Einführung einer auskömmlichen Mindestrente, die Abschaffung der privaten Riesterrente und eine deutliche Erhöhung der Grundsicherung im Alter aufnehmen, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen, die nicht oft genug wiederholt werden können.
Um unser sozialen Sicherungssystems auch zukünftig sicher zu machen, wäre zweitens dessen Weiterentwicklung in Angriff zu nehmen, z. B. durch die Einführung einer einheitlichen solidarischen Bürgerversicherung bzw. Erwerbstätigenversicherung, die die Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung umfasst und in die alle Erwerbstätigen ihre Beiträge auf alle erzielten Einkommensarten einzahlen müssen. Dafür gibt es von Fachleuten ausgearbeitete überzeugende Konzepte und wahrscheinlich heute schon eine sichere Mehrheit in unserer Gesellschaft (1).
Literaturangaben und Links:
1. Schneider U. Kein Wohlstand für alle!? Wie sich Deutschland selber zerlegt und was wir dagegen tun können. Westend Verlag, Frankfurt/Main 2017
2. Berger J. Wem gehört Deutschland? Die wahren Machthaber und das Märchen vom Volksvermögen. Westend Verlag, Frankfurt/Main
3. https://www.maskenfall.de/?p=11891#more-11891
4. Kolenda KD. Erwerbsminderungsrenten. Sozialmedizinische Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit aus der Sicht eines Internisten. internistische praxis 57, 319-330 (2017)
5. https://www.maskenfall.de/?p=11404
6. http://www.nachdenkseiten.de/?p=29270
7. http://rentenpolitikwatch.de/
8. https://www.maskenfall.de/?p=11913#more-11913
9. http://www.seniorenaufstand.de/
10. http://www.seniorenaufstand.de/in-sachen-rente-steht-es-zwischen-oesterreich-deutschland-40/
11. https://www.kontextwochenzeitung.de/ueberm-kesselrand/328/wo-die-rente-sicher-ist-4477.html?pk_campaign=KONTEXT-per-EMail&pk_kwd=Ausgabe-328
12. https://www.tagesschau.de/inland/rente-armut-101.html
Klaus-Dieter Kolenda, Jahrgang 1941, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin und Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik und ist seit über 40 Jahren als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Artikel und eine Reihe von Fach- und Sachbücher über die Prävention chronischer Krankheiten verfasst.
Trailer zum Film "Daniel Blake" von Ken Loach (deutschsprachig)
https://www.youtube.com/watch?v=vJ5tzlCE0Zo
Online-Flyer Nr. 629 vom 20.09.2017
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