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Gespräch eines "Brunnenvergifters" mit einer "Antisemitin"
Auf der falschen Seite der Geschichte?
Gespräch von Clara S. mit Gilad Atzmon (Teil 1 und 2)
Am 20.12.2017 erschien bei Rubikon der Artikel mit dem Titel "Der Brunnervergifter Gilad Atzmon" von Elias Davidsson, in dem der Philosoph Gilad Atzmon vernichtend kritisiert wird. Als Rubikon es Gilad Atzmon verweigerte, sich gegen die Vorwürfe der Holocaust-Leugnung und des Antisemitismus zu verteidigen, hat das vielfach großes Unverständnis hervorgerufen. Es waren zunächst Evelyn Hecht-Galinski und die NRhZ, die Gilad Atzmon Gelegenheit gaben, sich zu verteidigen. Inzwischen haben Muslim-Markt und Daily Sabah Interviews mit ihm geführt und deutschsprachig veröffentlicht. Und nun hat Clara S., nachdem sie ihren Diskussionsbeitrag "Gilad Atzmons 'The Wandering Who', die Meinungsfreiheit und ich" veröffentlicht hatte, ein umfangreiches, achtteiliges Gespräch mit Gilad Atzmon geführt. Es ist - wie Gilad Atzmon es sieht - ein furchtloser Austausch zwischen der deutschen linken Stimme Clara S. und dem ex-israelischen Jazz-Künstler, bei dem sie tief in Themen wie Israel, Palästina, den Holocaust, Frieden und Wahnvorstellungen, links und rechts, die Bedeutung der Vergangenheit und unsere Zukunftsaussichten im Kontext der gegenwärtigen identitären Dystopie eintauchen. Dem Gespräch über die Banalität des Guten, die Bedeutung der Vergangenheit, die Pornographie des Horrors und Humanismus vs. Tribalismus sind zwei Zitate vorangestellt: „Frieden kann nicht mit Gewalt erhalten werden; man kann ihn nur durch Verständnis erreichen.“ (Albert Einstein) Und: „In Zweifelsfällen kohärent bleiben.“ (Kurt Fasch - deutscher Philosophiehistoriker). Es folgen die Gesprächsteile 1 und 2.
Die Banalität des Guten (Montage von Gilad Atzmon)
1. Erwachsenwerden
Clara: Was bedeutet der Holocaust für Dich?
Gilad: Das ist ganz offensichtlich eine sehr belastete und auch vielschichtige Frage.
Clara: Dann lass uns in diesem Gespräch die Lasten und Schichten genauer betrachten. Wie kam der Holocaust in Dein Leben?
Gilad: Ich bin in Israel aufgewachsen, ich war umgeben von Menschen mit tätowierten Oberarmen, manche waren Mitglieder meiner Familie.
Clara: Der Holocaust war also vom Tag der Geburt an Teil Deiner Realität?
Gilad: Das ist schwer zu sagen. Er war ganz sicher gegenwärtig. Ich glaube aber nicht, dass wir in den 60er Jahren geborenen Israelis uns besonders mit dem Holocaust beschäftigt haben. Meine beiden Eltern waren in Palästina geboren. Mein Ur-Ur-Großvater väterlicherseits wurde auf dem Ölberg begraben. Aber das ist natürlich keine allgemeingültige Geschichte. Meine Frau würde das wahrscheinlich anders sehen. Ihre Eltern waren beide während des Kriegs in Europa und mussten schwer leiden. Gleichzeitig schaute die israelische Gesellschaft, in der ich aufwuchs, mit Herablassung auf die Überlebenden des Holocaust. Sie wurden als schwache Charaktere angesehen, die dem jüdischen National-Ruf nicht schnell genug gefolgt waren und dafür einen schweren Preis bezahlten.
Clara: Willst Du damit wirklich sagen, das die Israelis kein Mitleid für die Holocaust-Opfer hatten!?
Gilad: Vermutlich bin ich dann hier der Bote. Aber bis in die späten 1960er gab es ein Element von Zurückweisung, Unterdrückung und Verbergen des Holocausts in Israel. Aber dazu muss ich noch etwas erklären. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass im Israel der 1960er, 70er und sogar der 80er Jahre die Holocaust-Opfer um Mitleid oder zumindest Verständnis gebeten haben. Uns schien es, als ob die meisten von ihnen dieses Kapitel einfach hinter sich lassen wollten. Vorwärtsgehen, vergessen. Ich würde behaupten, dass es die so genannte zweite Generation war, die den Holocaust politisiert hat. Es ist die zweite Generation, die aus dem Holocaust das gegenwärtige Standbein der israelischen Identität gemacht hat. Es ist die zweite Generation, die es schwierig oder sogar unmöglich fand, mit der Verzweiflung ihrer Eltern fertig zu werden. Wie Du vielleicht weißt, beschäftigen sich eine Menge israelischer Denker mit diesem Thema. Ich würde Dir empfehlen, Dir Yoav Shamirs ‘Defamation’ anzusehen, um diese subtile israelische Debatte zu verstehen.
Clara: Das ist jetzt ziemlich interessant. Hör Dir mal diese Beschreibung der Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg an. Sie stammt aus dem Buch ‘Die Unfähigkeit zu trauern’. „An die Stelle von Trauerarbeit gemäß Freuds Formel „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten” sei die Verleugnung der Vergangenheit getreten. Die „manische Abwehr durch Ungeschehenmachen im Wirtschaftswunder” habe jene „blitzartige Wandlung” ermöglicht, infolge derer die Deutschen den Nationalsozialismus fortan wie die „Dazwischenkunft einer Infektionskrankheit in Kinderjahren” hätten betrachten können (S. 25). Die Folge dieser „autistischen Haltung” der Erinnerungsverweigerung war aus Sicht der Autoren eine „auffallende Gefühlsstarre” der Deutschen, „die sich in unserem gesamten politischen und sozialen Organismus bemerkbar macht” (S. 38, S. 17). In Westdeutschland übrigens schwieg die erste Generation, die zweite Generation war zornig, und es ist die dritte Generation, die versucht zu verstehen (sofern sie nicht rechts-revisionistisch ist oder zur Antifa gehört). Die Situation in der DDR kenne ich nicht wirklich. Klingt das nicht ziemlich ähnlich zu Deinen Erfahrungen?
Gilad: Ich würde meinen, dass wir hier es hier mit einem systematischen und institutionellen Unterdrückungsmechanismus zu tun haben, anknüpfend an die komplette Leugnung des Geschehens. Ich vermute, der Holocaust stellt für die Deutschen eine kognitive Dissonanz dar, die niemals zu einer allgemeingültigen Lehre gereift ist. Vielleicht ist es an der Zeit, ihn als integralen Bestandteil der Vergangenheit und eingebettet in ein historisches Kontinuum zu betrachten. So eine Herangehensweise könnte dazu beitragen, das nächste globale Desaster zu vermeiden.
Clara: Vielleicht hast Du recht; was Du sagst gibt mir jedenfalls reichlich Gedankenfutter. Ich denke, man muss sich die Gründe für die Leugnung, den Wunsch nur nach vorne zu schauen und die Repression ansehen. Und natürlich welchen Platz dies alles in der deutschen Geschichte einnimmt. Aber lass uns doch dies alles Schritt für Schritt erkunden und uns erst einmal unsere persönlichen Erfahrungen betrachten. In meiner Familie wuchsen wir mit Vätern auf, die nicht über den Krieg sprachen, und mit Müttern, die über den Krieg so sprachen als sei ein böses Schicksal über sie hereingebrochen: der Ehemann gefallen, das Warten auf den Verlobten in sowjetischer Gefangenschaft, die Bomben, der Hunger, das Auseinanderreißen der Familien, der Zusammenhalt als Familie, die Teilung Deutschlands und das erneute Auseinanderreißen der Familien. Sehr früh lernte ich, dass Krieg etwas Schreckliches ist, und das wurde für mich etwas sehr grundlegendes: Kriegstreiber tun Unrecht und es ist unbedingt wichtig gegen sie die Stimme zu erheben.
Gilad: Das alles ist mir ziemlich gegenwärtig. Das Leiden der Deutschen ist mir sehr bewusst. Aber interessehalber gefragt, welche Rolle spielt der Holocaust in alldem?
Clara: So wirklich erwähnt wurde er in meiner Familie nicht. Mit 16 sah ich dann die Originalfilme aus Konzentrationslagern und industriell organisiertem Massenmord in einem Jugendzentrum und war zutiefst schockiert. Die Nazis hatten diese Filme selbst gedreht und schienen auch noch stolz auf ihre Taten zu sein. Ich nahm an einem Jugendaustausch mit Israel teil, sah die Namen und Porträts all derjenigen, die getötet wurden und sprach mit Überlebenden. Das Wort ‘Rampe’ ist für mich nie wieder ein normales Wort geworden. Eine Rampe ist der Ort, an dem Menschen selektiert werden, um entweder zu leben oder zu sterben. Von Ärzten, deren Pflicht es ist, Leben zu bewahren. Das war also die Realität und die würde sich auch nicht ändern, wenn ich eine andere Richtung blickte. So wurde auch der Holocaust zu einem Teil meines moralischen Kompasses, die Verhinderung der Wiederholung solcher Grausamkeiten so etwas wie eine Lebensverpflichtung. Aber irgendwann wurde der Holocaust für Dich dann doch noch wichtig?
Gilad: Wann das war, ist schwer zu sagen. Aber es ist ganz klar, dass es in den 1970ern eine Verschiebung in der israelischen Gesellschaft gab. Manche glauben, es hätte etwas mit dem großen Sieg im Jahr 1967 zu tun. Andere denken, es sei die traumatische Niederlage im Jahr 1973 (Jom-Kippur-Krieg) gewesen. Und einige sind der Meinung, es hinge mit Menachem Begins Sieg im Jahr 1977 zusammen (im Jahr 1977 wurde die rechtsgerichtete Likud-Partei erstmals stärkste Kraft in Israel und Menachem Begin ab Mai 1977 der erste Likud-Ministerpräsident). Begin war ein rechtsgerichteter polnischer Jude, der mit dem “Sabra”-Narrativ nicht viel am Hut hatte. Er peppte seine Reden ständig mit Holocaust Anekdoten auf. Die Wahrheit liegt, wie immer, irgendwo in der Mitte, und ich wuchs inmitten dieser kulturellen ‘Holocaust-Verschiebung’ auf.
Clara: Wie war das mit Schuldzuweisungen? Hast Du in Israel gelernt, dass die Deutschen grausam und schuldig waren? Meine Erfahrung in Israel war, dass man mich nicht persönlich verantwortlich machte. Aber das Schuldthema stand immer im Raum.
Gilad: Das ist auch wieder so ein faszinierendes Thema. Der Zionismus war und ist immer noch eine nationalistische, rassistische und expansionistische Ideologie. Diese ähnelte der Nazi-Ideologie nicht nur, sie ging ihr tatsächlich um fast drei Jahrzehnte voraus (Der erste zionistische Kongress fand 1897 in Basel statt). Einige politische Kräfte der israelischen Rechten waren pro-faschistisch (z.B. Menachem Begins Herut Party). Als ob das nicht genug wäre, aber es war tatsächlich die israelische ‘Linke’, die die ethnische Säuberung der Palästinenser betrieb und sie daran hinderte, in ihr Land zurückzukehren. Dabei wendeten sie diskriminierende Gesetze an, die irgendwie den Nürnberger Rassegesetzen nur allzu ähnlich waren. Ganz zu schwiegen davon, dass die junge israelische Armee ziemlich genau die militärische Doktrin des ‘Blitzkrieges‘ kopierte, die zu dem Siegeswunder im 6-Tage-Krieg von 1967 führte. Deswegen waren, zumindest in den Anfängen, die israelischen Gefühle Deutschland und den Nazis gegenüber durchaus gemischt. Niemand liebte die Nazis, aber die Bewunderung der Deutschen und ihrer Kultur war tief in einige Teile der israelischen Gesellschaft eingebettet. Wir haben es hier mit Hass-Liebe Beziehungen zu tun. Ich denke, dass wir hier, wieder einmal, über eine kognitive Dissonanz im Herzen der israelisch / zionistischen Kultur stolpern. Ich kann versuchen, es zu erklären. Für die Israelis der Jahre kurz nach dem Holocaust war die Schoah ein schambesetztes Ereignis. Es ließ die Diaspora Juden als absolut trostlos erscheinen. ‘Kälber auf dem Weg zur Schlachtbank’ wurden sie in Israel genannt. Junge Israelis wollten sich lieber nicht mit diesem desaströsen Kapitel der jüdischen Geschichte in Verbindung bringen lassen. Sie sahen sich als die gesunde Alternative. Ich muss zugeben, dass es in meiner unmittelbaren Familie immer eine Faszination für die Deutschen und ihre Kultur gab. Ich erlaube mir sogar zu behaupten, dass meine Altersgenossen die Deutschen nicht als Feind sahen. In meinem unmittelbaren Umkreis gehörte der große Krieg der Vergangenheit an.
Clara: Das entspricht auch meiner Erfahrung mit israelischen Altersgenossen bei meinem Jugend-Austausch.
Gilad: Aber ich kann Dir auch erzählen, dass mein rechtsradikaler Großvater, ein Terror-Veteran, der sich 1936 in Palästina angesiedelt hatte, Deutschland zutiefst hasste und schwor, Deutschland niemals zu besuchen und auch kein deutsches Auto zu fahren. Kurz gesagt, das Thema ‘Israelis, Deutsche und der Holocaust’ ist nicht so einfach, wie es manche gerne hätten. Für mich ist es viel interessanter zu erfahren, wie die deutsche Schuldfrage ein Teil Deines Lebens wurde; schließlich wurdest Du fast ein Jahrzehnt nach Kriegsende geboren.
Clara: Das war schon sehr früh. Schon als ich acht-jährig als Missionarstochter ein amerikanisches Internat in Tansania besuchte. Im Jahr des Berliner Mauerbaus wurde ich von meinen Schulkameraden gleichzeitig als Nazi und Kommunistin beschimpft. Also ja, ich lernte, dass es ‘die’ Deutschen sind, die verantwortlich waren, im Fall der Berliner Mauer zusammen mit ‘den’ Russen. Gnädigerweise brachte ich die Schuld meiner Eltern und Verwandten erst später ins Spiel. Dann wurde mir klar, dass es sich dabei um ein sehr weites Feld handelte, dass sehr wehtun konnte. Es gab die ganze Palette – vom Großvater, dem in der DDR der Titel ‘anerkannter Antifaschist’ zuerkannt wurde, über Familienmitglieder, die im Geheimen den Ereignissen kritisch gegenüber standen, über Mitläufertum, bis hin zu enthusiastischer Unterstützung und begangenen Kriegsverbrechen. Es gab für die zweite Generation ziemlich viele Geheimnisse aufzudecken. - Aber zurück zu Dir. Offensichtlich hat der Holocaust Dein Leben doch noch ziemlich stark geformt. Inwiefern?
Gilad: Ich kann nicht wirklich behaupten, dass es so war. Wie ich schon vorhin erwähnte, er war keine tragende Säule meiner Identität. Aber vermutlich ist es richtig zu sagen, dass der Holocaust dazu da war, uns Israelis eine klare kämpferische Botschaft zu vermitteln – wir wurden dazu erzogen, bis auf den Tod zu kämpfen und wurden von phantasierten künftigen Anschlägen auf unser Leben als ‘Kollektiv’ (Araber, Antisemiten, UdSSR, PLO, Iran etc.) traumatisiert. Ich vermute, dass es dieses tiefe, gefühlte prä-traumatische Belastungssyndrom war, das zu dem unglaublichen israelischen Sieg im Jahr 1967 beitrug. Aus ihrer Sicht verhinderten mein Vater und seine Altersgenossen mithilfe eines Blitzkrieges jüdischer Machart einen Holocaust.
Clara: Prä-traumatisches Belastungssyndrom?
Gilad: Prä-traumatisch im Gegensatz zu post-traumatisch bezieht sich auf die Vorstellung, dass jemand durch ein phantasiertes künftiges Ereignis traumatisiert wird. Ich kann ganz bestimmt viele Beispiele von Manifestierungen einer prä-traumatischen Belastungsstörung geben, die die jüdische Geschichte geformt und tatsächlich zu totalen Desastern geführt haben.
Clara: Aber die Gefahr war doch real. Israel war von feindlichen Nachbarn umgeben.
Gilad: Du musst Dich fragen, warum ist die ‘Gefahr real’. Hatte der Zionismus nicht versprochen, die Diaspora-Juden durch das Nachhause-Kommen zu zivilisieren, sie in Menschen wie alle anderen zu verwandeln, in eine mit der Scholle verwachsene Gemeinschaft, die in Frieden und Harmonie mit ihren Nachbarn lebte? Es kommt der Punkt, an dem wir uns fragen müssen, warum der Zionismus gescheitert ist. Wann und wo ist er in die falsche Richtung abgebogen? Warum schaffte es Israel nicht, seine Nachbarn zu lieben und von ihnen geliebt zu werden? Ich bin sicher, dass die Antworten auf diese Fragen weit über die israelische Politik und die zionistische Ideologie herausreichen. Wir tauchen wieder einmal tief ein in die so genannte ‘jüdische Frage’. Als Teenager begann es mir zu dämmern, dass wir auf einem Land lebten, das anderen gehörte. Als ich in der Armee war und besonders zur Zeit des ersten Libanon-Kriegs (1982), wurde mir klar, dass wir, die Israelis, uns auf der falschen Seite der Geschichte befanden. Wie ich schon in einigen von meinen Schriften erwähnt habe, war es bei einem Besuch in Ansar, als ich Zeuge wurde, wie Palästinenser und Libanesen hinter Stacheldraht eingeschlossen waren, bewacht von Türmen und Maschinengewehren, dass ich akzeptierte, dass ich in diesem Kampf der Nazi war. Es war tatsächlich die Verinnerlichung der Bedeutung des Holocaust, die mich in einen starken Gegner Israels und des Jüdisch-Seins verwandelte. Es ist der Holocaust, der aus mir einen ergebenen Unterstützer der Rechte und des Widerstands der Palästinenser sowie des palästinensischen Rechts auf Heimkehr machte.
Clara: Kann man also sagen, dass für Dich im Holocaust eine universelle Botschaft enthalten ist, und Du feststellen musstest, dass das in Israel nicht so gesehen wurde?
Gilad: Genau. Ich wusste, dass meine Tage in Israel gezählt waren.
Clara: Für mich war es ähnlich. Während des Israel-Austausches beobachtete ich, wie meine deutsche ‚Vätergeneration‘ voller Bewunderung für die Israelis war, die gerade den 6-Tage-Krieg gewonnen hatten, und wie kein Israeli sich über Beifall von der falschen Seite beschwerte. Die ehemaligen Opfer und die ehemaligen Täter feierten den Sieg gemeinsam. Als ich Israelis und Deutsche nach dem Schicksal der Palästinenser fragte, war die Antwort: „Die Araber wollen uns / sie ins Meer werfen!“ Zusammen mit 200 jungen Leuten pflückte ich im Kibbuz Äpfel. Ein großes Friedensprojekt. Einige arabische Jugendliche aus Nazareth freundeten sich mit uns an. Ich wurde zu einem von ihnen in sein Zuhause eingeladen. Und streng von den Kibbuzleuten ermahnt: „Diese Araber sind gefährlich.“ So lernte ich, dass man ‚einen Spaten nicht immer einen Spaten nennen‘ kann. Es scheint gute und schlechte ‚Spaten‘ zu geben. Das führte zu meiner kritischen Haltung gegenüber der Politik Israels, aber natürlich auch zu meiner Verurteilung des Vietnamkrieges und der uneingeschränkten Unterstützung, die Deutschland dem ‘großen Bruder’ gab. Es führte dazu, dass ich Teil der großen Friedensbewegung in den 1980ern wurde und machte aus mir eine entschiedene Unterstützerin der deutschen Entspannungspolitik, die zum Mauerfall 1989 führte. - Und Du warst nicht zufrieden damit, ein Jazz-Musiker in Großbritannien zu sein? Du wurdest außerdem ein politischer Aktivist?
Gilad: Ich bin nicht wirklich ein politischer Aktivist, ich war noch nie Mitglied einer politischen Organisation und halte mich im Allgemeinen von politischen Aktivisten fern. Aus welchen Gründen auch immer kennen Aktivisten immer schon die Antworten. Sie folgen Kommandos, Jargons, Regimes der Korrektheit. Ich sehe mich stattdessen als Philosoph. Meine Aufgabe ist es, die Fragen zu verfeinern. Ich kann ziemlich gut Diskurse anstoßen und dabei alternative Sichtweisen anbieten. Ich bin deswegen Ziel von ziemlich heftigen Diffamierungen und werde mit Schmutz beworfen. Es besteht jedoch heute kein Zweifel daran, dass meine Arbeiten zu Identitätspolitik allgemein und jüdischer Identitätspolitik im Besonderen einfach ihrer Zeit voraus waren. Wahrscheinlich klinge ich jetzt kein bisschen bescheiden, aber ich bin sicher, dass sogar meine bittersten Gegner inzwischen zugeben würden, dass das so war.
2. Ist das Opfer selber schuld?
Clara: Und plötzlich haben wir das Jahr 2014, ein anstrengendes Arbeits- und Familienleben liegt hinter mir, bei dem ich versucht habe, meinem moralischen Kompass treu zu bleiben – nicht als Aktivistin, nur mit dem Versuch, meinen Standards zu genügen – und auf einmal, hundert Jahre nach Ausbruch des ersten Weltkrieges, ist Russland wieder der Feind, Nord Afrika und der Nahe Osten liegen im Chaos und im Jahr 2015 ergießt sich auch noch eine riesige Flüchtlingswelle in unser Land. Und mitten im Propagandakrieg fühle ich mich zutiefst angegriffen, nicht nur in Bezug auf meine ethischen Grundsätze sondern auch in meinen Fähigkeiten als kohärent und logisch denkende Intellektuelle. Und Israel bombardiert den Gazastreifen. Als ich sah wie am Strand spielende Kinder getötet wurden, war ich wieder schockiert. Aber man sagte mir, ich müsse akzeptieren, dass diese Menschen ihr Schicksal selbst herbeigerufen hätten, indem sie ihre Kinder als menschliche Schutzschilder einsetzten. Hatte ich das nicht schon einmal gehört? Hatten die Nazis nicht auch gesagt, dass die Juden den Tod verdient hätten, weil sie so viel Unglück über die Welt gebracht hatten? Und Du hast mir gerade erzählt, dass die Überlebenden von ihren Mitbürgern ähnlich behandelt wurden. Deswegen nun meine nächste Frage: Als ich Dein Buch las, konnte ich nicht anders als mich zu fragen ‚Will Gilad wirklich behaupten, dass die Juden für das was ihnen zugestoßen ist, selbst verantwortlich sind?‘ In Kapitel 21 des ‚Wandering Who‘ schreibst Du wörtlich: „65 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz sollten wir uns fragen können – warum? Warum wurden die Juden gehasst? Warum wendeten sich die Europäer gegen ihre Nachbarn?“ Ist das nicht genauso, als ob ich einem Vergewaltigungsopfer sagen würde, sie hätte sich ordentlicher anziehen sollen oder wäre am besten ganz daheim geblieben? Das ist doch unglaublich!
Gilad: Der Ausspruch ‚Beschuldige nicht das Opfer‘ ist beliebt, aber trotzdem problematisch. Er verlangt nach genauerer Betrachtung. Wir müssen dazu einige grundlegende Fragen stellen: Wer und was ist das Opfer? Worin besteht das Opfersein? Was sind die Umstände, in denen das Verbrechen stattgefunden hat? Wie Du Dir vorstellen kannst, habe ich tatsächlich viel über diese Frage nachgedacht. Die ethische Bewertung ist in diesem Fall weit von einem universellen Algorithmus entfernt. Im Gegenteil – es ist die Besonderheit der Beurteilung die als universelle Maxime zu gelten hat. Lass uns z.B. den Fall einer jungen Frau X untersuchen, die mitten in der Nacht in einem Park vergewaltigt wurde. Sie wurde einem sexuellen Angriff ausgesetzt, einer Sache, der sie nicht zugestimmt hatte. Es ist eindeutig ein Fall von Vergewaltigung. X ist ein Opfer. Nun erfahren wir aber, dass X die bewusste Entscheidung getroffen hat, halbnackt durch den Park zu laufen, mitten in der Nacht, obwohl sie wusste, dass der Park als Schauplatz für sexuelle Übergriffe bekannt ist. Wirst Du mir zustimmen, dass sie, obwohl ein Vergewaltigungsopfer, den Angriff bis zu einem gewissen Grad selbst hervorgerufen hat? Sie ist ein unvernünftiges Risiko eingegangen. Und was würdest Du sagen, wenn Du nun hörtest, dass sie am selben Ort, seit mindestens zwei Jahrzehnten, regelmäßig fünfmal die Woche vergewaltigt wurde? X ist immer noch ein Opfer, diejenigen, die sie vergewaltigen, sind immer noch Kriminelle. Würdest Du aber nicht trotzdem über X geistigen Gesundheitszustand nachdenken? Der Fall der Juden, des Judentums und der jüdischen Geschichte ist tatsächlich ganz anders. Zunächst einmal geht es um eine ethnische Gruppe (und nicht um eine einzelne Person). Weiterhin beschäftige ich mich nicht mit Menschen: Moshe, Yossef oder Yakov. Ich untersuche Ideologie, Kultur und Politik. Die Fragen ’Warum wurden die Juden gehasst?‘ Oder ‚Warum wendeten sich die Europäer gegen ihre Nachbarn?‘ führten mich dazu, die Kultur, Ideologie und Politik zu untersuchen, die die jüdische Identität formen. Ich frage ‚Was an der jüdischen Kultur, Identitätspolitik und Ideologie ruft an so vielen verschiedenen Orten und zu so vielen verschiedenen Zeiten in der Geschichte Feindschaft hervor‘? Ich bin davon überzeugt, und das ist für meine Arbeit grundlegend, dass Juden genauso wie alle anderen Menschen unschuldig geboren werden. Ich behaupte aber, dass es in der jüdischen Kultur einige Elemente, wie z.B. den Glauben an das Auserwähltsein als Stamm, gibt, die die Dinge für viele Juden im Verlauf ihrer langen Geschichte kompliziert gemacht haben.
Clara: Jetzt warte aber mal: natürlich verhält sich das Opfer nicht gerade vernünftig. Aber ich bestehe immer noch darauf, dass ich in einer Umgebung leben möchte, in der meine Sicherheit gewähreistet ist, und dass ich solches kriminelles Verhalten nicht zu erwarten habe, egal wie exzentrisch ich auch sein möge.
Gilad: Hier geht es um etwas viel Grundlegenderes als nur exzentrisches Verhalten. Ich behaupte, dass wir angesichts der Kette von Desastern, aus der die jüdische Geschichte besteht, ein-für-allemal verstehen müssen, was an der jüdischen Kultur, Politik und Ideologie die Juden als Volk gefährdet. Nebenbei gesagt, diese Frage habe nicht ich erfunden. Es ist genau diese Frage, die die zionistische Bewegung in Gang setzte. Es waren Denker wie Bernhard Lazare, die sich zur Judenfrage äußerten, in dem Versuche ‚ein-für-allemal‘ zu verstehen: ‚Warum die Juden?‘. Der Unterschied zwischen den frühen Zionisten (Herzl, Lazare, Borochov, Nordau etc.) und mir ist, dass die frühen Zionisten daran glaubten, dass die Juden kollektiv in etwas Anderes verwandelt werden könnten. Ich bin nicht sicher, ob das der Fall ist. Ich bin nicht davon überzeugt, dass es eine kollektive Lösung für die Judenfrage gibt. Manche brechen, glaube ich, als Individuen aus. Ich hoffe, dass ich selbst es geschafft habe.
Clara: Es ist ja auch das, was Kommunisten gerne glauben, dass sie eine neue und bessere Art Menschen schmieden können. Ich habe das auch früher gedacht. Heute habe ich meine Zweifel, ob das realistisch ist. Aber noch einmal zurück zu der Frage ‚Ist das Opfer selbst schuld‘? Es ist bekannt, dass Missbrauchsopfer dazu neigen, den Grund für das, was ihnen geschehen ist, bei sich selbst zu suchen. Die Schuld, die sie empfinden, ist ein Weg, den entsetzlichen Dingen, die sie erleiden mussten, einen Sinn zu geben, das Unkontrollierbare unter die eigene Kontrolle zu bringen. Machst Du nicht genau das Gleiche?
Gilad: Selbstverständlich. Ich glaube daran, dass die Juden, weil die jüdische Geschichte eine Kette von Desastern war, sich mit den Mitteln der Selbst-Reflexion genau betrachten müssen und nicht die Goyim beschuldigen sollten. Wie Du ja weißt, bin ich ein Anhänger des österreichischen Philosophen Otto Weininger, der für uns enthüllt hat, dass die Wahrnehmung der Welt in der Kunst der Selbstwahrnehmung zu finden ist. Je mehr ich in mich hineinblicke, desto besser verstehe ich die Welt um mich herum.
Clara: Naja, ich weiß nicht. Viele Opfer geben sich selbst die Schuld für Dinge, die sie zu 100 Prozent nicht zu verantworten haben. Das ist jedenfalls keine gesunde Art, mit traumatischen Erfahrungen fertig zu werden.
Gilad: Wer entscheidet das? Wie rechnen wir den genauen Prozentsatz der Verantwortlichkeit aus? Sollte uns dieser Prozentsatz überhaupt kümmern? Ich meine, es ist viel hilfreicher, die Realität in ihrer Bedeutung zu erfassen. Wenn wir z.B. noch einmal den Fall von X betrachten, könnten wir dabei vielleicht sogar herausfinden, dass es X’s Bedürfnisse befriedigt, ein Vergewaltigungsopfer zu sein. Vermutlich kannst Du diese Analogie immer weiter ausdehnen.
Clara: Wenn es so wäre, würden wir uns ganz sicher Gedanken über X’s Gemütsverfassung machen müssen. Aber für uns andere, die keine Befriedigung daraus ziehen, ein Opfer zu sein, geht es vielleicht am Ende um die Frage der Verantwortung. Um die Übernahme von Verantwortung für die Dinge, die ich ändern kann, und um das Akzeptieren, dass es viele Dinge gibt, die ich nicht ändern kann. Es ist für den Einzelnen schon schwer genug, das herauszufinden. Kann eine Gruppe einen solchen Prozess durchlaufen? Nachdem sie zwei Weltkriege begonnen und verloren hatten, wurden die Deutschen als Kollektiv beschuldigt und gaben sich auch selbst die Schuld an all den schlimmen Dingen, die ihnen selbst in der Folge passiert sind. Dann haben einige Menschen angefangen zu fragen, ob die Taktik des Angst und Schreckens bei der Bombardierung von Dresden und anderen Städten wirklich nötig war, um den Krieg zu gewinnen (und, nicht zu vergessen, die Atombomben, die Hiroshima und Nagasaki zerstörten). Meine Mutter z.B. verlor alles was sie hatte, durch das Bombardement von Leipzig, zum Glück kam keiner in ihrer Familie ums Leben. Aber dieses Nachfragen wird von anderen wiederum als Versuch gewertet, sich für die von meinem Volk begangenen Grausamkeiten zu rechtfertigen. Wie auch immer, wenn ein Individuum wie Du anfängt, die Verantwortung für eine ganze Gruppe zu beanspruchen, könnte es schon sein, dass die anderen Mitglieder darüber nicht gerade erfreut sind. Kein Wunder, dass einige Deiner Mit-Juden Dich Brunnenvergifter nennen!
Gilad: Ich sehe diese Leute nicht als meine ‚Mit-Juden‘ an. Denn ich bin schon viele Jahre lang kein Jude mehr, und sie sind auch nicht gerade meine Kumpel. Ich beschuldige auch die Juden nicht, sondern ich bitte Sie vielmehr, sich ihre Kultur, Ideologie und Politik genauer anzusehen und sich die Frage ‚Warum?‘ zu stellen. Warum die Pogrome, der Holocaust, Antisemitismus? Der Zionismus versprach, die Juden zu verwandeln, dafür zu sorgen, dass sie geliebt wurden, und ist kläglich gescheitert. Warum? Wenn Juden sich um eine Antwort bemühen, dann ist, wie ich schon vorher erwähnte, der frühe Zionismus ein guter Anfang. Ich empfehle nochmals die Werke von Lazare, Borochov, Ehad Ha’am und sogar Herzl. Verantwortung, wenn Du das so sehen willst, fängt mit Selbstreflexion an.
Clara: Wie würdest Du Dich denn dann beschreiben, wenn nicht als Jude?
Gilad: Erst einmal vermeide ich jede politische Zuordnung ... Ich bin Jazz-Künstler, ich bin Schriftsteller, ich bin britischer Staatsbürger, ich bin Ex-Jude, und Ex-Israeli, ich folge der Botschaft Christi, gehöre aber keiner Religionsgemeinschaft an.
Das Gespräch erscheint parallel im opablog - beginnend am 23. Januar 2018 mit Folge 1
Die acht Folgen:
1. Erwachsenwerden
2. Ist das Opfer selber schuld?
3. Geschichtsschreibung als Prozess
4. Antisemitismus, Rassismus und kulturelle Identität
5. Prä-traumatisches Belastungssyndrom, Zionismus und Imperium
6. Jüdische Macht und Identitätspolitik
7. Globale Stammesverbände und nationaler Überschwang
8. Auf der Suche nach dem Weg nach Hause
Siehe auch:
Gespräch eines "Brunnenvergifters" mit einer "Antisemitin"
Auf der falschen Seite der Geschichte?
Gespräch von Clara S. mit Gilad Atzmon (Teil 3 und 4)
Teil 3: Geschichtsschreibung als Prozess
Teil 4: Antisemitismus, Rassismus und kulturelle Identität
NRhZ 645 vom 31.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24545
Ich will nicht in einem Land leben, das jemand anderem gehört
Gilad Atzmon - interviewt von Burak Altun
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24508
Gilad Atzmons „The Wandering Who“, die Meinungsfreiheit und ich
Ein Diskussionsbeitrag zur Versachlichung
Von Clara S.
NRhZ 643 vom 17.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24486
Inzwischen sind wir alle Palästinenser
Gespräch über die Ideologie des Auserwähltheit-Seins, Israel, Palästina und den Holocaust
Gilad Atzmon - interviewt von Muslim-Markt
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24454
Wie weit geht die Freiheit der Gedanken?
Elias Davidsson und Gilad Atzmon debattieren über Palästina, Israel und Holocaust
Aufbereitet von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24453
Einwurf in eine kontroverse Debatte
Alles bekannt über den Holocaust?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24469
Online-Flyer Nr. 644 vom 24.01.2018
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Gespräch eines "Brunnenvergifters" mit einer "Antisemitin"
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Gespräch von Clara S. mit Gilad Atzmon (Teil 1 und 2)
Am 20.12.2017 erschien bei Rubikon der Artikel mit dem Titel "Der Brunnervergifter Gilad Atzmon" von Elias Davidsson, in dem der Philosoph Gilad Atzmon vernichtend kritisiert wird. Als Rubikon es Gilad Atzmon verweigerte, sich gegen die Vorwürfe der Holocaust-Leugnung und des Antisemitismus zu verteidigen, hat das vielfach großes Unverständnis hervorgerufen. Es waren zunächst Evelyn Hecht-Galinski und die NRhZ, die Gilad Atzmon Gelegenheit gaben, sich zu verteidigen. Inzwischen haben Muslim-Markt und Daily Sabah Interviews mit ihm geführt und deutschsprachig veröffentlicht. Und nun hat Clara S., nachdem sie ihren Diskussionsbeitrag "Gilad Atzmons 'The Wandering Who', die Meinungsfreiheit und ich" veröffentlicht hatte, ein umfangreiches, achtteiliges Gespräch mit Gilad Atzmon geführt. Es ist - wie Gilad Atzmon es sieht - ein furchtloser Austausch zwischen der deutschen linken Stimme Clara S. und dem ex-israelischen Jazz-Künstler, bei dem sie tief in Themen wie Israel, Palästina, den Holocaust, Frieden und Wahnvorstellungen, links und rechts, die Bedeutung der Vergangenheit und unsere Zukunftsaussichten im Kontext der gegenwärtigen identitären Dystopie eintauchen. Dem Gespräch über die Banalität des Guten, die Bedeutung der Vergangenheit, die Pornographie des Horrors und Humanismus vs. Tribalismus sind zwei Zitate vorangestellt: „Frieden kann nicht mit Gewalt erhalten werden; man kann ihn nur durch Verständnis erreichen.“ (Albert Einstein) Und: „In Zweifelsfällen kohärent bleiben.“ (Kurt Fasch - deutscher Philosophiehistoriker). Es folgen die Gesprächsteile 1 und 2.
Die Banalität des Guten (Montage von Gilad Atzmon)
1. Erwachsenwerden
Clara: Was bedeutet der Holocaust für Dich?
Gilad: Das ist ganz offensichtlich eine sehr belastete und auch vielschichtige Frage.
Clara: Dann lass uns in diesem Gespräch die Lasten und Schichten genauer betrachten. Wie kam der Holocaust in Dein Leben?
Gilad: Ich bin in Israel aufgewachsen, ich war umgeben von Menschen mit tätowierten Oberarmen, manche waren Mitglieder meiner Familie.
Clara: Der Holocaust war also vom Tag der Geburt an Teil Deiner Realität?
Gilad: Das ist schwer zu sagen. Er war ganz sicher gegenwärtig. Ich glaube aber nicht, dass wir in den 60er Jahren geborenen Israelis uns besonders mit dem Holocaust beschäftigt haben. Meine beiden Eltern waren in Palästina geboren. Mein Ur-Ur-Großvater väterlicherseits wurde auf dem Ölberg begraben. Aber das ist natürlich keine allgemeingültige Geschichte. Meine Frau würde das wahrscheinlich anders sehen. Ihre Eltern waren beide während des Kriegs in Europa und mussten schwer leiden. Gleichzeitig schaute die israelische Gesellschaft, in der ich aufwuchs, mit Herablassung auf die Überlebenden des Holocaust. Sie wurden als schwache Charaktere angesehen, die dem jüdischen National-Ruf nicht schnell genug gefolgt waren und dafür einen schweren Preis bezahlten.
Clara: Willst Du damit wirklich sagen, das die Israelis kein Mitleid für die Holocaust-Opfer hatten!?
Gilad: Vermutlich bin ich dann hier der Bote. Aber bis in die späten 1960er gab es ein Element von Zurückweisung, Unterdrückung und Verbergen des Holocausts in Israel. Aber dazu muss ich noch etwas erklären. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass im Israel der 1960er, 70er und sogar der 80er Jahre die Holocaust-Opfer um Mitleid oder zumindest Verständnis gebeten haben. Uns schien es, als ob die meisten von ihnen dieses Kapitel einfach hinter sich lassen wollten. Vorwärtsgehen, vergessen. Ich würde behaupten, dass es die so genannte zweite Generation war, die den Holocaust politisiert hat. Es ist die zweite Generation, die aus dem Holocaust das gegenwärtige Standbein der israelischen Identität gemacht hat. Es ist die zweite Generation, die es schwierig oder sogar unmöglich fand, mit der Verzweiflung ihrer Eltern fertig zu werden. Wie Du vielleicht weißt, beschäftigen sich eine Menge israelischer Denker mit diesem Thema. Ich würde Dir empfehlen, Dir Yoav Shamirs ‘Defamation’ anzusehen, um diese subtile israelische Debatte zu verstehen.
Clara: Das ist jetzt ziemlich interessant. Hör Dir mal diese Beschreibung der Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg an. Sie stammt aus dem Buch ‘Die Unfähigkeit zu trauern’. „An die Stelle von Trauerarbeit gemäß Freuds Formel „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten” sei die Verleugnung der Vergangenheit getreten. Die „manische Abwehr durch Ungeschehenmachen im Wirtschaftswunder” habe jene „blitzartige Wandlung” ermöglicht, infolge derer die Deutschen den Nationalsozialismus fortan wie die „Dazwischenkunft einer Infektionskrankheit in Kinderjahren” hätten betrachten können (S. 25). Die Folge dieser „autistischen Haltung” der Erinnerungsverweigerung war aus Sicht der Autoren eine „auffallende Gefühlsstarre” der Deutschen, „die sich in unserem gesamten politischen und sozialen Organismus bemerkbar macht” (S. 38, S. 17). In Westdeutschland übrigens schwieg die erste Generation, die zweite Generation war zornig, und es ist die dritte Generation, die versucht zu verstehen (sofern sie nicht rechts-revisionistisch ist oder zur Antifa gehört). Die Situation in der DDR kenne ich nicht wirklich. Klingt das nicht ziemlich ähnlich zu Deinen Erfahrungen?
Gilad: Ich würde meinen, dass wir hier es hier mit einem systematischen und institutionellen Unterdrückungsmechanismus zu tun haben, anknüpfend an die komplette Leugnung des Geschehens. Ich vermute, der Holocaust stellt für die Deutschen eine kognitive Dissonanz dar, die niemals zu einer allgemeingültigen Lehre gereift ist. Vielleicht ist es an der Zeit, ihn als integralen Bestandteil der Vergangenheit und eingebettet in ein historisches Kontinuum zu betrachten. So eine Herangehensweise könnte dazu beitragen, das nächste globale Desaster zu vermeiden.
Clara: Vielleicht hast Du recht; was Du sagst gibt mir jedenfalls reichlich Gedankenfutter. Ich denke, man muss sich die Gründe für die Leugnung, den Wunsch nur nach vorne zu schauen und die Repression ansehen. Und natürlich welchen Platz dies alles in der deutschen Geschichte einnimmt. Aber lass uns doch dies alles Schritt für Schritt erkunden und uns erst einmal unsere persönlichen Erfahrungen betrachten. In meiner Familie wuchsen wir mit Vätern auf, die nicht über den Krieg sprachen, und mit Müttern, die über den Krieg so sprachen als sei ein böses Schicksal über sie hereingebrochen: der Ehemann gefallen, das Warten auf den Verlobten in sowjetischer Gefangenschaft, die Bomben, der Hunger, das Auseinanderreißen der Familien, der Zusammenhalt als Familie, die Teilung Deutschlands und das erneute Auseinanderreißen der Familien. Sehr früh lernte ich, dass Krieg etwas Schreckliches ist, und das wurde für mich etwas sehr grundlegendes: Kriegstreiber tun Unrecht und es ist unbedingt wichtig gegen sie die Stimme zu erheben.
Gilad: Das alles ist mir ziemlich gegenwärtig. Das Leiden der Deutschen ist mir sehr bewusst. Aber interessehalber gefragt, welche Rolle spielt der Holocaust in alldem?
Clara: So wirklich erwähnt wurde er in meiner Familie nicht. Mit 16 sah ich dann die Originalfilme aus Konzentrationslagern und industriell organisiertem Massenmord in einem Jugendzentrum und war zutiefst schockiert. Die Nazis hatten diese Filme selbst gedreht und schienen auch noch stolz auf ihre Taten zu sein. Ich nahm an einem Jugendaustausch mit Israel teil, sah die Namen und Porträts all derjenigen, die getötet wurden und sprach mit Überlebenden. Das Wort ‘Rampe’ ist für mich nie wieder ein normales Wort geworden. Eine Rampe ist der Ort, an dem Menschen selektiert werden, um entweder zu leben oder zu sterben. Von Ärzten, deren Pflicht es ist, Leben zu bewahren. Das war also die Realität und die würde sich auch nicht ändern, wenn ich eine andere Richtung blickte. So wurde auch der Holocaust zu einem Teil meines moralischen Kompasses, die Verhinderung der Wiederholung solcher Grausamkeiten so etwas wie eine Lebensverpflichtung. Aber irgendwann wurde der Holocaust für Dich dann doch noch wichtig?
Gilad: Wann das war, ist schwer zu sagen. Aber es ist ganz klar, dass es in den 1970ern eine Verschiebung in der israelischen Gesellschaft gab. Manche glauben, es hätte etwas mit dem großen Sieg im Jahr 1967 zu tun. Andere denken, es sei die traumatische Niederlage im Jahr 1973 (Jom-Kippur-Krieg) gewesen. Und einige sind der Meinung, es hinge mit Menachem Begins Sieg im Jahr 1977 zusammen (im Jahr 1977 wurde die rechtsgerichtete Likud-Partei erstmals stärkste Kraft in Israel und Menachem Begin ab Mai 1977 der erste Likud-Ministerpräsident). Begin war ein rechtsgerichteter polnischer Jude, der mit dem “Sabra”-Narrativ nicht viel am Hut hatte. Er peppte seine Reden ständig mit Holocaust Anekdoten auf. Die Wahrheit liegt, wie immer, irgendwo in der Mitte, und ich wuchs inmitten dieser kulturellen ‘Holocaust-Verschiebung’ auf.
Clara: Wie war das mit Schuldzuweisungen? Hast Du in Israel gelernt, dass die Deutschen grausam und schuldig waren? Meine Erfahrung in Israel war, dass man mich nicht persönlich verantwortlich machte. Aber das Schuldthema stand immer im Raum.
Gilad: Das ist auch wieder so ein faszinierendes Thema. Der Zionismus war und ist immer noch eine nationalistische, rassistische und expansionistische Ideologie. Diese ähnelte der Nazi-Ideologie nicht nur, sie ging ihr tatsächlich um fast drei Jahrzehnte voraus (Der erste zionistische Kongress fand 1897 in Basel statt). Einige politische Kräfte der israelischen Rechten waren pro-faschistisch (z.B. Menachem Begins Herut Party). Als ob das nicht genug wäre, aber es war tatsächlich die israelische ‘Linke’, die die ethnische Säuberung der Palästinenser betrieb und sie daran hinderte, in ihr Land zurückzukehren. Dabei wendeten sie diskriminierende Gesetze an, die irgendwie den Nürnberger Rassegesetzen nur allzu ähnlich waren. Ganz zu schwiegen davon, dass die junge israelische Armee ziemlich genau die militärische Doktrin des ‘Blitzkrieges‘ kopierte, die zu dem Siegeswunder im 6-Tage-Krieg von 1967 führte. Deswegen waren, zumindest in den Anfängen, die israelischen Gefühle Deutschland und den Nazis gegenüber durchaus gemischt. Niemand liebte die Nazis, aber die Bewunderung der Deutschen und ihrer Kultur war tief in einige Teile der israelischen Gesellschaft eingebettet. Wir haben es hier mit Hass-Liebe Beziehungen zu tun. Ich denke, dass wir hier, wieder einmal, über eine kognitive Dissonanz im Herzen der israelisch / zionistischen Kultur stolpern. Ich kann versuchen, es zu erklären. Für die Israelis der Jahre kurz nach dem Holocaust war die Schoah ein schambesetztes Ereignis. Es ließ die Diaspora Juden als absolut trostlos erscheinen. ‘Kälber auf dem Weg zur Schlachtbank’ wurden sie in Israel genannt. Junge Israelis wollten sich lieber nicht mit diesem desaströsen Kapitel der jüdischen Geschichte in Verbindung bringen lassen. Sie sahen sich als die gesunde Alternative. Ich muss zugeben, dass es in meiner unmittelbaren Familie immer eine Faszination für die Deutschen und ihre Kultur gab. Ich erlaube mir sogar zu behaupten, dass meine Altersgenossen die Deutschen nicht als Feind sahen. In meinem unmittelbaren Umkreis gehörte der große Krieg der Vergangenheit an.
Clara: Das entspricht auch meiner Erfahrung mit israelischen Altersgenossen bei meinem Jugend-Austausch.
Gilad: Aber ich kann Dir auch erzählen, dass mein rechtsradikaler Großvater, ein Terror-Veteran, der sich 1936 in Palästina angesiedelt hatte, Deutschland zutiefst hasste und schwor, Deutschland niemals zu besuchen und auch kein deutsches Auto zu fahren. Kurz gesagt, das Thema ‘Israelis, Deutsche und der Holocaust’ ist nicht so einfach, wie es manche gerne hätten. Für mich ist es viel interessanter zu erfahren, wie die deutsche Schuldfrage ein Teil Deines Lebens wurde; schließlich wurdest Du fast ein Jahrzehnt nach Kriegsende geboren.
Clara: Das war schon sehr früh. Schon als ich acht-jährig als Missionarstochter ein amerikanisches Internat in Tansania besuchte. Im Jahr des Berliner Mauerbaus wurde ich von meinen Schulkameraden gleichzeitig als Nazi und Kommunistin beschimpft. Also ja, ich lernte, dass es ‘die’ Deutschen sind, die verantwortlich waren, im Fall der Berliner Mauer zusammen mit ‘den’ Russen. Gnädigerweise brachte ich die Schuld meiner Eltern und Verwandten erst später ins Spiel. Dann wurde mir klar, dass es sich dabei um ein sehr weites Feld handelte, dass sehr wehtun konnte. Es gab die ganze Palette – vom Großvater, dem in der DDR der Titel ‘anerkannter Antifaschist’ zuerkannt wurde, über Familienmitglieder, die im Geheimen den Ereignissen kritisch gegenüber standen, über Mitläufertum, bis hin zu enthusiastischer Unterstützung und begangenen Kriegsverbrechen. Es gab für die zweite Generation ziemlich viele Geheimnisse aufzudecken. - Aber zurück zu Dir. Offensichtlich hat der Holocaust Dein Leben doch noch ziemlich stark geformt. Inwiefern?
Gilad: Ich kann nicht wirklich behaupten, dass es so war. Wie ich schon vorhin erwähnte, er war keine tragende Säule meiner Identität. Aber vermutlich ist es richtig zu sagen, dass der Holocaust dazu da war, uns Israelis eine klare kämpferische Botschaft zu vermitteln – wir wurden dazu erzogen, bis auf den Tod zu kämpfen und wurden von phantasierten künftigen Anschlägen auf unser Leben als ‘Kollektiv’ (Araber, Antisemiten, UdSSR, PLO, Iran etc.) traumatisiert. Ich vermute, dass es dieses tiefe, gefühlte prä-traumatische Belastungssyndrom war, das zu dem unglaublichen israelischen Sieg im Jahr 1967 beitrug. Aus ihrer Sicht verhinderten mein Vater und seine Altersgenossen mithilfe eines Blitzkrieges jüdischer Machart einen Holocaust.
Clara: Prä-traumatisches Belastungssyndrom?
Gilad: Prä-traumatisch im Gegensatz zu post-traumatisch bezieht sich auf die Vorstellung, dass jemand durch ein phantasiertes künftiges Ereignis traumatisiert wird. Ich kann ganz bestimmt viele Beispiele von Manifestierungen einer prä-traumatischen Belastungsstörung geben, die die jüdische Geschichte geformt und tatsächlich zu totalen Desastern geführt haben.
Clara: Aber die Gefahr war doch real. Israel war von feindlichen Nachbarn umgeben.
Gilad: Du musst Dich fragen, warum ist die ‘Gefahr real’. Hatte der Zionismus nicht versprochen, die Diaspora-Juden durch das Nachhause-Kommen zu zivilisieren, sie in Menschen wie alle anderen zu verwandeln, in eine mit der Scholle verwachsene Gemeinschaft, die in Frieden und Harmonie mit ihren Nachbarn lebte? Es kommt der Punkt, an dem wir uns fragen müssen, warum der Zionismus gescheitert ist. Wann und wo ist er in die falsche Richtung abgebogen? Warum schaffte es Israel nicht, seine Nachbarn zu lieben und von ihnen geliebt zu werden? Ich bin sicher, dass die Antworten auf diese Fragen weit über die israelische Politik und die zionistische Ideologie herausreichen. Wir tauchen wieder einmal tief ein in die so genannte ‘jüdische Frage’. Als Teenager begann es mir zu dämmern, dass wir auf einem Land lebten, das anderen gehörte. Als ich in der Armee war und besonders zur Zeit des ersten Libanon-Kriegs (1982), wurde mir klar, dass wir, die Israelis, uns auf der falschen Seite der Geschichte befanden. Wie ich schon in einigen von meinen Schriften erwähnt habe, war es bei einem Besuch in Ansar, als ich Zeuge wurde, wie Palästinenser und Libanesen hinter Stacheldraht eingeschlossen waren, bewacht von Türmen und Maschinengewehren, dass ich akzeptierte, dass ich in diesem Kampf der Nazi war. Es war tatsächlich die Verinnerlichung der Bedeutung des Holocaust, die mich in einen starken Gegner Israels und des Jüdisch-Seins verwandelte. Es ist der Holocaust, der aus mir einen ergebenen Unterstützer der Rechte und des Widerstands der Palästinenser sowie des palästinensischen Rechts auf Heimkehr machte.
Clara: Kann man also sagen, dass für Dich im Holocaust eine universelle Botschaft enthalten ist, und Du feststellen musstest, dass das in Israel nicht so gesehen wurde?
Gilad: Genau. Ich wusste, dass meine Tage in Israel gezählt waren.
Clara: Für mich war es ähnlich. Während des Israel-Austausches beobachtete ich, wie meine deutsche ‚Vätergeneration‘ voller Bewunderung für die Israelis war, die gerade den 6-Tage-Krieg gewonnen hatten, und wie kein Israeli sich über Beifall von der falschen Seite beschwerte. Die ehemaligen Opfer und die ehemaligen Täter feierten den Sieg gemeinsam. Als ich Israelis und Deutsche nach dem Schicksal der Palästinenser fragte, war die Antwort: „Die Araber wollen uns / sie ins Meer werfen!“ Zusammen mit 200 jungen Leuten pflückte ich im Kibbuz Äpfel. Ein großes Friedensprojekt. Einige arabische Jugendliche aus Nazareth freundeten sich mit uns an. Ich wurde zu einem von ihnen in sein Zuhause eingeladen. Und streng von den Kibbuzleuten ermahnt: „Diese Araber sind gefährlich.“ So lernte ich, dass man ‚einen Spaten nicht immer einen Spaten nennen‘ kann. Es scheint gute und schlechte ‚Spaten‘ zu geben. Das führte zu meiner kritischen Haltung gegenüber der Politik Israels, aber natürlich auch zu meiner Verurteilung des Vietnamkrieges und der uneingeschränkten Unterstützung, die Deutschland dem ‘großen Bruder’ gab. Es führte dazu, dass ich Teil der großen Friedensbewegung in den 1980ern wurde und machte aus mir eine entschiedene Unterstützerin der deutschen Entspannungspolitik, die zum Mauerfall 1989 führte. - Und Du warst nicht zufrieden damit, ein Jazz-Musiker in Großbritannien zu sein? Du wurdest außerdem ein politischer Aktivist?
Gilad: Ich bin nicht wirklich ein politischer Aktivist, ich war noch nie Mitglied einer politischen Organisation und halte mich im Allgemeinen von politischen Aktivisten fern. Aus welchen Gründen auch immer kennen Aktivisten immer schon die Antworten. Sie folgen Kommandos, Jargons, Regimes der Korrektheit. Ich sehe mich stattdessen als Philosoph. Meine Aufgabe ist es, die Fragen zu verfeinern. Ich kann ziemlich gut Diskurse anstoßen und dabei alternative Sichtweisen anbieten. Ich bin deswegen Ziel von ziemlich heftigen Diffamierungen und werde mit Schmutz beworfen. Es besteht jedoch heute kein Zweifel daran, dass meine Arbeiten zu Identitätspolitik allgemein und jüdischer Identitätspolitik im Besonderen einfach ihrer Zeit voraus waren. Wahrscheinlich klinge ich jetzt kein bisschen bescheiden, aber ich bin sicher, dass sogar meine bittersten Gegner inzwischen zugeben würden, dass das so war.
2. Ist das Opfer selber schuld?
Clara: Und plötzlich haben wir das Jahr 2014, ein anstrengendes Arbeits- und Familienleben liegt hinter mir, bei dem ich versucht habe, meinem moralischen Kompass treu zu bleiben – nicht als Aktivistin, nur mit dem Versuch, meinen Standards zu genügen – und auf einmal, hundert Jahre nach Ausbruch des ersten Weltkrieges, ist Russland wieder der Feind, Nord Afrika und der Nahe Osten liegen im Chaos und im Jahr 2015 ergießt sich auch noch eine riesige Flüchtlingswelle in unser Land. Und mitten im Propagandakrieg fühle ich mich zutiefst angegriffen, nicht nur in Bezug auf meine ethischen Grundsätze sondern auch in meinen Fähigkeiten als kohärent und logisch denkende Intellektuelle. Und Israel bombardiert den Gazastreifen. Als ich sah wie am Strand spielende Kinder getötet wurden, war ich wieder schockiert. Aber man sagte mir, ich müsse akzeptieren, dass diese Menschen ihr Schicksal selbst herbeigerufen hätten, indem sie ihre Kinder als menschliche Schutzschilder einsetzten. Hatte ich das nicht schon einmal gehört? Hatten die Nazis nicht auch gesagt, dass die Juden den Tod verdient hätten, weil sie so viel Unglück über die Welt gebracht hatten? Und Du hast mir gerade erzählt, dass die Überlebenden von ihren Mitbürgern ähnlich behandelt wurden. Deswegen nun meine nächste Frage: Als ich Dein Buch las, konnte ich nicht anders als mich zu fragen ‚Will Gilad wirklich behaupten, dass die Juden für das was ihnen zugestoßen ist, selbst verantwortlich sind?‘ In Kapitel 21 des ‚Wandering Who‘ schreibst Du wörtlich: „65 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz sollten wir uns fragen können – warum? Warum wurden die Juden gehasst? Warum wendeten sich die Europäer gegen ihre Nachbarn?“ Ist das nicht genauso, als ob ich einem Vergewaltigungsopfer sagen würde, sie hätte sich ordentlicher anziehen sollen oder wäre am besten ganz daheim geblieben? Das ist doch unglaublich!
Gilad: Der Ausspruch ‚Beschuldige nicht das Opfer‘ ist beliebt, aber trotzdem problematisch. Er verlangt nach genauerer Betrachtung. Wir müssen dazu einige grundlegende Fragen stellen: Wer und was ist das Opfer? Worin besteht das Opfersein? Was sind die Umstände, in denen das Verbrechen stattgefunden hat? Wie Du Dir vorstellen kannst, habe ich tatsächlich viel über diese Frage nachgedacht. Die ethische Bewertung ist in diesem Fall weit von einem universellen Algorithmus entfernt. Im Gegenteil – es ist die Besonderheit der Beurteilung die als universelle Maxime zu gelten hat. Lass uns z.B. den Fall einer jungen Frau X untersuchen, die mitten in der Nacht in einem Park vergewaltigt wurde. Sie wurde einem sexuellen Angriff ausgesetzt, einer Sache, der sie nicht zugestimmt hatte. Es ist eindeutig ein Fall von Vergewaltigung. X ist ein Opfer. Nun erfahren wir aber, dass X die bewusste Entscheidung getroffen hat, halbnackt durch den Park zu laufen, mitten in der Nacht, obwohl sie wusste, dass der Park als Schauplatz für sexuelle Übergriffe bekannt ist. Wirst Du mir zustimmen, dass sie, obwohl ein Vergewaltigungsopfer, den Angriff bis zu einem gewissen Grad selbst hervorgerufen hat? Sie ist ein unvernünftiges Risiko eingegangen. Und was würdest Du sagen, wenn Du nun hörtest, dass sie am selben Ort, seit mindestens zwei Jahrzehnten, regelmäßig fünfmal die Woche vergewaltigt wurde? X ist immer noch ein Opfer, diejenigen, die sie vergewaltigen, sind immer noch Kriminelle. Würdest Du aber nicht trotzdem über X geistigen Gesundheitszustand nachdenken? Der Fall der Juden, des Judentums und der jüdischen Geschichte ist tatsächlich ganz anders. Zunächst einmal geht es um eine ethnische Gruppe (und nicht um eine einzelne Person). Weiterhin beschäftige ich mich nicht mit Menschen: Moshe, Yossef oder Yakov. Ich untersuche Ideologie, Kultur und Politik. Die Fragen ’Warum wurden die Juden gehasst?‘ Oder ‚Warum wendeten sich die Europäer gegen ihre Nachbarn?‘ führten mich dazu, die Kultur, Ideologie und Politik zu untersuchen, die die jüdische Identität formen. Ich frage ‚Was an der jüdischen Kultur, Identitätspolitik und Ideologie ruft an so vielen verschiedenen Orten und zu so vielen verschiedenen Zeiten in der Geschichte Feindschaft hervor‘? Ich bin davon überzeugt, und das ist für meine Arbeit grundlegend, dass Juden genauso wie alle anderen Menschen unschuldig geboren werden. Ich behaupte aber, dass es in der jüdischen Kultur einige Elemente, wie z.B. den Glauben an das Auserwähltsein als Stamm, gibt, die die Dinge für viele Juden im Verlauf ihrer langen Geschichte kompliziert gemacht haben.
Clara: Jetzt warte aber mal: natürlich verhält sich das Opfer nicht gerade vernünftig. Aber ich bestehe immer noch darauf, dass ich in einer Umgebung leben möchte, in der meine Sicherheit gewähreistet ist, und dass ich solches kriminelles Verhalten nicht zu erwarten habe, egal wie exzentrisch ich auch sein möge.
Gilad: Hier geht es um etwas viel Grundlegenderes als nur exzentrisches Verhalten. Ich behaupte, dass wir angesichts der Kette von Desastern, aus der die jüdische Geschichte besteht, ein-für-allemal verstehen müssen, was an der jüdischen Kultur, Politik und Ideologie die Juden als Volk gefährdet. Nebenbei gesagt, diese Frage habe nicht ich erfunden. Es ist genau diese Frage, die die zionistische Bewegung in Gang setzte. Es waren Denker wie Bernhard Lazare, die sich zur Judenfrage äußerten, in dem Versuche ‚ein-für-allemal‘ zu verstehen: ‚Warum die Juden?‘. Der Unterschied zwischen den frühen Zionisten (Herzl, Lazare, Borochov, Nordau etc.) und mir ist, dass die frühen Zionisten daran glaubten, dass die Juden kollektiv in etwas Anderes verwandelt werden könnten. Ich bin nicht sicher, ob das der Fall ist. Ich bin nicht davon überzeugt, dass es eine kollektive Lösung für die Judenfrage gibt. Manche brechen, glaube ich, als Individuen aus. Ich hoffe, dass ich selbst es geschafft habe.
Clara: Es ist ja auch das, was Kommunisten gerne glauben, dass sie eine neue und bessere Art Menschen schmieden können. Ich habe das auch früher gedacht. Heute habe ich meine Zweifel, ob das realistisch ist. Aber noch einmal zurück zu der Frage ‚Ist das Opfer selbst schuld‘? Es ist bekannt, dass Missbrauchsopfer dazu neigen, den Grund für das, was ihnen geschehen ist, bei sich selbst zu suchen. Die Schuld, die sie empfinden, ist ein Weg, den entsetzlichen Dingen, die sie erleiden mussten, einen Sinn zu geben, das Unkontrollierbare unter die eigene Kontrolle zu bringen. Machst Du nicht genau das Gleiche?
Gilad: Selbstverständlich. Ich glaube daran, dass die Juden, weil die jüdische Geschichte eine Kette von Desastern war, sich mit den Mitteln der Selbst-Reflexion genau betrachten müssen und nicht die Goyim beschuldigen sollten. Wie Du ja weißt, bin ich ein Anhänger des österreichischen Philosophen Otto Weininger, der für uns enthüllt hat, dass die Wahrnehmung der Welt in der Kunst der Selbstwahrnehmung zu finden ist. Je mehr ich in mich hineinblicke, desto besser verstehe ich die Welt um mich herum.
Clara: Naja, ich weiß nicht. Viele Opfer geben sich selbst die Schuld für Dinge, die sie zu 100 Prozent nicht zu verantworten haben. Das ist jedenfalls keine gesunde Art, mit traumatischen Erfahrungen fertig zu werden.
Gilad: Wer entscheidet das? Wie rechnen wir den genauen Prozentsatz der Verantwortlichkeit aus? Sollte uns dieser Prozentsatz überhaupt kümmern? Ich meine, es ist viel hilfreicher, die Realität in ihrer Bedeutung zu erfassen. Wenn wir z.B. noch einmal den Fall von X betrachten, könnten wir dabei vielleicht sogar herausfinden, dass es X’s Bedürfnisse befriedigt, ein Vergewaltigungsopfer zu sein. Vermutlich kannst Du diese Analogie immer weiter ausdehnen.
Clara: Wenn es so wäre, würden wir uns ganz sicher Gedanken über X’s Gemütsverfassung machen müssen. Aber für uns andere, die keine Befriedigung daraus ziehen, ein Opfer zu sein, geht es vielleicht am Ende um die Frage der Verantwortung. Um die Übernahme von Verantwortung für die Dinge, die ich ändern kann, und um das Akzeptieren, dass es viele Dinge gibt, die ich nicht ändern kann. Es ist für den Einzelnen schon schwer genug, das herauszufinden. Kann eine Gruppe einen solchen Prozess durchlaufen? Nachdem sie zwei Weltkriege begonnen und verloren hatten, wurden die Deutschen als Kollektiv beschuldigt und gaben sich auch selbst die Schuld an all den schlimmen Dingen, die ihnen selbst in der Folge passiert sind. Dann haben einige Menschen angefangen zu fragen, ob die Taktik des Angst und Schreckens bei der Bombardierung von Dresden und anderen Städten wirklich nötig war, um den Krieg zu gewinnen (und, nicht zu vergessen, die Atombomben, die Hiroshima und Nagasaki zerstörten). Meine Mutter z.B. verlor alles was sie hatte, durch das Bombardement von Leipzig, zum Glück kam keiner in ihrer Familie ums Leben. Aber dieses Nachfragen wird von anderen wiederum als Versuch gewertet, sich für die von meinem Volk begangenen Grausamkeiten zu rechtfertigen. Wie auch immer, wenn ein Individuum wie Du anfängt, die Verantwortung für eine ganze Gruppe zu beanspruchen, könnte es schon sein, dass die anderen Mitglieder darüber nicht gerade erfreut sind. Kein Wunder, dass einige Deiner Mit-Juden Dich Brunnenvergifter nennen!
Gilad: Ich sehe diese Leute nicht als meine ‚Mit-Juden‘ an. Denn ich bin schon viele Jahre lang kein Jude mehr, und sie sind auch nicht gerade meine Kumpel. Ich beschuldige auch die Juden nicht, sondern ich bitte Sie vielmehr, sich ihre Kultur, Ideologie und Politik genauer anzusehen und sich die Frage ‚Warum?‘ zu stellen. Warum die Pogrome, der Holocaust, Antisemitismus? Der Zionismus versprach, die Juden zu verwandeln, dafür zu sorgen, dass sie geliebt wurden, und ist kläglich gescheitert. Warum? Wenn Juden sich um eine Antwort bemühen, dann ist, wie ich schon vorher erwähnte, der frühe Zionismus ein guter Anfang. Ich empfehle nochmals die Werke von Lazare, Borochov, Ehad Ha’am und sogar Herzl. Verantwortung, wenn Du das so sehen willst, fängt mit Selbstreflexion an.
Clara: Wie würdest Du Dich denn dann beschreiben, wenn nicht als Jude?
Gilad: Erst einmal vermeide ich jede politische Zuordnung ... Ich bin Jazz-Künstler, ich bin Schriftsteller, ich bin britischer Staatsbürger, ich bin Ex-Jude, und Ex-Israeli, ich folge der Botschaft Christi, gehöre aber keiner Religionsgemeinschaft an.
Das Gespräch erscheint parallel im opablog - beginnend am 23. Januar 2018 mit Folge 1
Die acht Folgen:
1. Erwachsenwerden
2. Ist das Opfer selber schuld?
3. Geschichtsschreibung als Prozess
4. Antisemitismus, Rassismus und kulturelle Identität
5. Prä-traumatisches Belastungssyndrom, Zionismus und Imperium
6. Jüdische Macht und Identitätspolitik
7. Globale Stammesverbände und nationaler Überschwang
8. Auf der Suche nach dem Weg nach Hause
Siehe auch:
Gespräch eines "Brunnenvergifters" mit einer "Antisemitin"
Auf der falschen Seite der Geschichte?
Gespräch von Clara S. mit Gilad Atzmon (Teil 3 und 4)
Teil 3: Geschichtsschreibung als Prozess
Teil 4: Antisemitismus, Rassismus und kulturelle Identität
NRhZ 645 vom 31.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24545
Ich will nicht in einem Land leben, das jemand anderem gehört
Gilad Atzmon - interviewt von Burak Altun
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24508
Gilad Atzmons „The Wandering Who“, die Meinungsfreiheit und ich
Ein Diskussionsbeitrag zur Versachlichung
Von Clara S.
NRhZ 643 vom 17.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24486
Inzwischen sind wir alle Palästinenser
Gespräch über die Ideologie des Auserwähltheit-Seins, Israel, Palästina und den Holocaust
Gilad Atzmon - interviewt von Muslim-Markt
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24454
Wie weit geht die Freiheit der Gedanken?
Elias Davidsson und Gilad Atzmon debattieren über Palästina, Israel und Holocaust
Aufbereitet von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24453
Einwurf in eine kontroverse Debatte
Alles bekannt über den Holocaust?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24469
Online-Flyer Nr. 644 vom 24.01.2018
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