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Globales
Gespräch eines "Brunnenvergifters" mit einer "Antisemitin"
Auf der falschen Seite der Geschichte?
Gespräch von Clara S. mit Gilad Atzmon (Teil 3 und 4)

Am 20.12.2017 erschien bei Rubikon der Artikel mit dem Titel "Der Brunnervergifter Gilad Atzmon" von Elias Davidsson, in dem der Philosoph Gilad Atzmon vernichtend kritisiert wird. Als Rubikon es Gilad Atzmon verweigerte, sich gegen die Vorwürfe der Holocaust-Leugnung und des Antisemitismus zu verteidigen, hat das vielfach großes Unverständnis hervorgerufen. Es waren zunächst Evelyn Hecht-Galinski und die NRhZ, die Gilad Atzmon Gelegenheit gaben, sich zu verteidigen. Inzwischen haben Muslim-Markt und Daily Sabah Interviews mit ihm geführt und deutschsprachig veröffentlicht. Und nun hat Clara S., nachdem sie ihren Diskussionsbeitrag "Gilad Atzmons 'The Wandering Who', die Meinungsfreiheit und ich" veröffentlicht hatte, ein umfangreiches, achtteiliges Gespräch mit Gilad Atzmon geführt (1. Erwachsenwerden, 2. Ist das Opfer selber schuld? 3. Geschichtsschreibung als Prozess, 4. Antisemitismus, Rassismus und kulturelle Identität, 5. Prä-traumatisches Belastungssyndrom, Zionismus und Imperium, 6. Jüdische Macht und Identitätspolitik, 7. Globale Stammesverbände und nationaler Überschwang, 8. Auf der Suche nach dem Weg nach Hause). Es ist - wie Gilad Atzmon es sieht - ein furchtloser Austausch zwischen der deutschen linken Stimme Clara S. und dem ex-israelischen Jazz-Künstler, bei dem sie tief in Themen wie Israel, Palästina, den Holocaust, Frieden und Wahnvorstellungen, links und rechts, die Bedeutung der Vergangenheit und unsere Zukunftsaussichten im Kontext der gegenwärtigen identiäteren Dystopie eintauchen. Dem Gespräch über die Banalität des Guten, die Bedeutung der Vergangenheit, die Pornographie des Horrors und Humanismus vs. Tribalismus sind zwei Zitate vorangestellt: „Frieden kann nicht mit Gewalt erhalten werden; man kann ihn nur durch Verständnis erreichen.“ (Albert Einstein) Und: „In Zweifelsfällen kohärent bleiben.“ (Kurt Fasch - deutscher Philosophiehistoriker). Es folgen die Gesprächsteile 3 und 4.


Die Banalität des Guten (Montage von Gilad Atzmon)


3. Geschichtsschreibung als Prozess

Clara: Hier kommt ein Zitat von Dir: „Ich bin der Meinung, dass Israel weit schlimmer ist als Nazi-Deutschland“.

Gilad: Mein Vergleich zwischen Israel und Nazi-Deutschland bezog sich auf eine Diskussion über die kollektive Verantwortung in demokratischen gegenüber autoritären Regimes. Ich vertrat die Meinung, dass, weil Israel sich als ‚einzige Demokratie im Nahen Osten‘ sieht, seine barbarischen Praktiken ein Licht auf die gesamte israelische Gesellschaft werfen, was über Nazi-Deutschland nicht gesagt werden kann. Sobald die Demokratie abgeschafft ist, entfällt auch die kollektive Verantwortung.

Clara: Offensichtlich kann man mit Literatur über die Frage ‚Was in der deutschen Geschichte hat die Deutschen im 20. Jahrhundert in zwei Katastrophen geführt?‘ viele Bibliotheksregale füllen. Jahrelang wurde uns beigebracht, dass der Erste Weltkrieg allein die Schuld der Deutschen war, jetzt wissen wir, dass die Sache doch komplizierter ist. Und die kollektive Verantwortung der Deutschen dieser Zeit und folglich die Verantwortung von Deutschland als Nation für alles, was im zweiten Weltkrieg passierte, wird uns immer noch in einer Fülle von Filmen als Fakt präsentiert, die das Narrativ der einzigartigen deutschen Schuld unterstützen und die Ereignisse mit der gefährlichen Ideologie und dem Wahn Hitlers und der Deutschen allein erklären. Und Du behauptest jetzt, dass diese Erzählung ungültig ist, weil Nazi-Deutschland keine Demokratie war?

Gilad: Das ist richtig.
 
Clara: Das verstehe ich. Während wir akzeptieren müssen, dass die unglaublichen Grausamkeiten tatsächlich geschehen sind und unsere Eltern daran beteiligt waren, haben wir ja auch schon lange herausgefunden, dass Hitler von der Mehrheit der nationalen Eliten unterstützt wurde. Deswegen sollte man nicht vergessen, dass hinter dem nationalsozialistischen Projekt mächtige Interessen standen, und eben nicht nur diejenigen Deutschen, die begeistert ‚Heil Hitler‘ riefen und durch das Erziehungssystem der Nazis indoktriniert wurden. Außerdem beseitigte Hitler diejenigen in seiner Bewegung, die das Wort ‚sozialistisch‘ ernst nahmen, schon zu einem frühen Zeitpunkt seiner Diktatur. Und noch etwas: Deutschland hätte den Krieg ohne die Unterstützung aus dem Ausland, besonders seitens US-amerikanischer Banken, gar nicht so lange durchhalten können. Wir haben auch entdeckt, dass die westlichen Alliierten es gerne gesehen hätten, wenn Deutschland vor seiner eigenen Niederlage erst einmal die Sowjetunion zerstört hätte.

Gilad: Ich muss zugeben, dass die Vorsicht, die ich aus Deiner Stimme heraushöre, und die Art und Weise wie Du ein Geschichtskapitel beschreibst, welches über 70 Jahre zurückliegt, mir nahelegt, dass wir lieber über die Angst, über die Geschichte zu reden, sprechen sollten als über die Geschichte selbst. Wovor haben wir Angst? Wovor hast Du Angst? Wer pflanzt uns diese Angst ein und warum? Mit welchen Methoden wurde diese Vorsicht implementiert? Und natürlich, wer profitiert davon, dass wir Angst davor haben, zurückzublicken?
 
Clara: Das sind wirklich gute Fragen. Verstörende Fragen. Ein Grund ist sicher, dass ich, auch wenn Nazi-Deutschland keine Demokratie war, nicht jeden Deutschen dieser Zeit vom Haken lassen möchte. Es gibt so etwas wie persönliche Verantwortung. Und viel Nazis haben diese nicht übernommen. Im Gegenteil – in Westdeutschland konnte man sie in vielen einflussreichen Positionen wiederfinden, und andere gingen direkt in die USA.

Gilad: Da hast Du vollkommen recht. Hier reden wir nicht von Kollektivschuld sondern von persönlicher Verantwortung. Dieses Prinzip wurde nach dem Krieg nicht wirklich angewendet, weder von Westdeutschland, noch der UdSSR oder den Amerikanern.

Clara: Vermutlich ist aber die große Angst, dass viele Leute denken, dass wenn man das offizielle Narrativ infrage stellt, man eine Rechtfertigung für Hitler und die Nazis liefert, und dass, wenn wir das zulassen, bald das Vierte Reich vor der Tür steht. Vertraue niemals einem Deutschen. Rassistische Überlegenheitsgefühle und Weltherrschaft sind Teil seiner DNA. Und es gibt ja diese Sorte rechter Deutscher, mit denen ich ‚nicht in einem Bett‘ gefunden werden möchte, die die Geschichte neu denken und Redefreiheit fordern mit dem Ziel, Deutschland wieder groß zu machen, indem Ausländer aus dem Land geworfen und ihre Häuser angezündet werden.

Gilad: Ich verstehe genau, was Du sagst. Ich bin keineswegs von vielen sogenannten Revisionisten beeindruckt, die zufällig genauso dogmatisch wie ihre Feinde sind und ihre eigenen Narrative diktieren möchten. Deswegen bin ich auch nicht für die ‚Revisionisten‘ sondern für ‚Revisionismus‘. Dafür, dass die Geschichtswissenschaft sich als dynamische, elastische Sphäre erweist, nicht als dogmatisch. Es erübrigt sich zu sagen, dass ich jegliche Formen von Bigotterie und Gewalt zurückweise.

Clara: Das scheint ja manchen Menschen Angst zu machen. Ich muss jedoch zugeben, dass ich ziemlich beleidigt war, als ich als potentieller Nazi bezeichnet wurde, dafür dass ich forderte, dass man Deine Vorstellungen ernst nehmen, und Dich nicht einfach als gefährlichen Holocaust-Leugner abtun sollte.


Gilad: Vermutlich beziehst Du Dich dabei auf Jens Wernicke vom Rubikon und Elias Davidsson, die hart daran gearbeitet haben, mich zu diffamieren, jedoch damit wenig mehr erreicht haben als sich selbst so zu zeigen, wie sie wirklich sind. Bedauerlicherweise muss ich darauf hinweisen, dass diese Art Verhalten genau die Sorte von Nazi-Autoritarismus ist, die wir bekämpfen wollten. Ich finde es ziemlich amüsant wie die sogenannten ‚Anti-Nazis‘ einige der problematischsten Nazisymptome an den Tag legen. Aber es überrascht mich auch nicht. Die Antifaschisten verhalten sich oft als Anti-Faschisten-Faschisten. Das gleiche kann man auch über die Antizionisten sagen. Viele verwenden anti-zionistische-zionistische Taktiken.
 
Clara: Ich glaube jedenfalls nicht, dass Antisemitismus Teil meiner DNA ist. Ich möchte verstehen, was die Nazis wirklich groß machte, und möchte untersuchen, ob es wahr ist, dass wir auf dem Weg zu einem neuen faschistischen Regime und insbesondere zu neuen Judenpogromen sind, wie manche Leute offensichtlich befürchten, wenn sie den Aufstieg rechts-populistischer Parteien beobachten. Ich persönlich habe den Eindruck, dass wenn es im heutigen Deutschland eine Gruppe gibt, die etwas zu befürchten hat, es nicht die Juden sondern die Muslime sind. Und dieses Feindbild wurde ja seit 9/11 systematisch aufgebaut.

Gilad: Das ist genau ein Teil meiner Beziehung zum Holocaust und der Vergangenheit allgemein. Ich bestehe darauf, dass Geschichtsschreibung der Versuch ist, die Vergangenheit zu erzählen, während wir uns gleichzeitig in die Zukunft bewegen. Geschichtsschreibung ist ein revisionistisches Abenteuer, und in dessen Kern liegt im ethischen Denken die Chance, sich eine bessere Zukunft vorzustellen. Ich stelle mich öffentlich gegen alle Geschichtsgesetze. Ich verwehre mich dagegen, dass der Holocaust oder irgendein anderes geschichtliches Ereignis zu einer Religion oder einem Dogma erhoben wird. Nachdem ich seit mehr als zwei Jahrzehnten in Europa gelebt habe, bin ich wirklich aufgebracht, dass solche Geschichtsgesetze jetzt auftauchen.

Clara: Du hast den Holocaust gerade eine Religion oder ein Dogma genannt. Was meinst Du damit?

Gilad: Es ist eine festgelegte Erzählung, die jede elastische oder dynamische Qualität verloren hat. Der Holocaust ist dazu da, das Primat des jüdischen Leidens und der europäischen Schuld aufrecht zu erhalten. Das Problem dabei ist jedoch, dass dieses Primat zur Begründung für unendliche globale Konflikte herangereift ist. Sieh Dir Palästina an. Sieh Dir die Kriege der ‚Neocons‘ an: Syrien, Irak, Libyen, Iran. Wieder denken wir nicht in ethischen Kategorien. Wieder weisen wir den universellen Auftrag zurück. Meine Auffassung ist klar und einfach. Wenn der Holocaust die neue Religion ist, dann lass mich bitte ein Atheist sein.
 
Clara: Du würdest also behaupten, dass die ‚Holocaust-Religion‘ der Ursprung des israelischen prä-traumatischen Belastungssyndroms ist, über das wir anfangs gesprochen haben?

Gilad: … ganz und gar nicht. Das prä-traumatische Belastungssyndrom ist tief in das jüdische Denken eingebettet. Hier ist ein alter jüdischer Witz für Dich: Ein jüdisches Telegramm: ‚Fang an, Dir Sorgen zu machen. Details folgen.“ Und das ist ganz und gar keine Angelegenheit, die nur Juden betrifft. Die anglo-amerikanische Politik nach 9/11 wird ganz ähnlich durch selbst herbeigerufenen Terror aufrechterhalten. Wir werden von fantasierten Prophezeiungen gequält und arbeiten hart daran, dass diese erfüllt werden.

Clara: Wir bewegen uns hier auf sehr dünnem Eis. Jeder, der es wagt, das offizielle Holocaust-Narrativ zu berühren, wird sehr schnell als Holocaust-Leugner angegriffen, und das ist nicht nur in Deutschland strafbar. Du leugnest ganz offensichtlich den Holocaust nicht; wie Du erklärt hast, weist Du dessen Funktion als Rechtfertigung für gegenwärtige politische Entscheidungen zurück. Jeder, der wirklich Deine Bücher liest, kann das sehr schnell herausfinden. Außerdem wurdest Du ja auch von keinem deutschen Gericht diesbezüglich schuldig gesprochen.

Gilad: Ich wurde nicht nur nicht schuldig gesprochen, ich bin noch nie von irgendeiner Behörde weltweit wegen irgendeiner Sache, die ich je gesagt oder geschrieben habe, befragt worden. Meine Aktivitäten bewegen sich klar innerhalb der Grenzen des Gesetzes, in Deinem oder irgendeinem anderen Land. Meine Bücher sind Welt-weit erhältlich, einschließlich in Deutschland und Israel. Aber ich sage es lieber noch einmal: Ich habe keine Angst davor, die Vergangenheit zu befragen und zu überprüfen, auch nicht meine eigene.

Clara: Trotzdem, Du wirst der Holocaust-Leugnung bezichtigt, ein Vorwurf, der benutzt wurde, um Journalisten, z.B. KenFM, oder eine ganze Bewegung, z.B. den Friedenswinter, eine deutsche Friedensinitiative, die in 2014 initiiert wurde, zu diskreditieren und mit ihnen alle, die zu ihnen in Kontakt stehen. Ich meine, dass dahinter ziemlich mächtige Interessen stehen. Sich für friedliche Beziehungen mit Russland einzusetzen, die Kriege zu kritisieren, die Deutschland Welt-weit unterstützt und auch von unserem Staatsgebiet aus, z.B. indem wir es den USA erlauben von Ramstein aus Drohnenangriffe von Ihrer Luftwaffenbasis Ramstein aus zu leiten, provoziert ziemlich heftige negative Reaktionen der Mächtigen. Es gibt eine deutliche Verbindung zwischen der Überprüfung der Geschichte des Holocaust und der In-Fragestellung der gegenwärtigen deutschen Politik. Leider sind diejenigen, die eine kritische Bewegung spalten wollen, ziemlich erfolgreich.
 
Gilad: Wenn sie erfolgreich wären, würden sie nicht so panisch reagieren. Sie befinden sich auf der falschen Seite der Geschichte und wissen das auch. Eine angemessene Erforschung der Geschichte des zweiten Weltkriegs im Rahmen des historischen Kontextes des englisch-sprachigen Imperiums wird enthüllen, dass diejenigen, die Hamburg verbrannt, Dresden platt gemacht und Hiroshima und Nagasaki atomar zerstört, das gleiche später in Korea und Vietnam fortgesetzt haben. Sie haben Israels expansionistisches Vorhaben immer weiter unterstützt, sie haben die totale Zerstörung über Syrien, den Irak, Afghanistan und Libyen gebracht. Jetzt ist anscheinend Iran an der Reihe. Eine angemessene historische Diskussion wird eine institutionell verankerte Verachtung menschlichen Lebens im Kern der anglo-amerikanischen Politik erkennen. Der Holocaust in Verbindung mit der deutschen Schuld ist dazu da, um uns daran zu hindern, die Verbrechen zu bezeugen, die vor unseren Augen in unserem Namen begangen werden. Für die Amerikaner und die Briten ist es viel leichter, Holocaust-Museen zu bauen, als sich an die Sklaverei oder die Verbrechen des Imperiums zu erinnern, besonders weil diese Verbrechen noch lange nicht aufgeklärt sind.


4. Antisemitismus, Rassismus und kulturelle Identität

Clara: Lass uns noch ein wenig mehr über Antisemitismus sprechen. Die gleichen Leute, die mich verwarnt haben, haben Dich als Antisemiten bezeichnet. Sie zitieren Dich folgendermaßen: ‘Tatsächlich arbeite ich die Verachtung für den Juden in mir sorgfältig heraus.‘ Ich verstehe nun unter einem Antisemiten jemanden, der Juden als Rasse diskriminiert. Bist Du nun also ein Rassist, der seine eigene Rasse hasst und nicht eine andere?


Gilad: Ich denke, dass die Bezeichnung ‚Jüdische Rasse‘ völlig hohl ist. Im ‚Wandernden Wer‘ beschäftige ich mich mit denjenigen, die sich politisch mit dem Judentum identifizieren. Ich beschäftige mich nicht mit ‚den Juden‘, ich berühre keine Themen, die mit Rasse zu tun haben. Ich befasse mich auch nicht mit dem Judaismus (der jüdischen Religion). Aber hier kommt eine Frage, die Du und ich und jede/r andere sich stellen sollte: Wie ist es möglich, dass die Tatsache, dass ich den Juden in mir hasse, so viele Juden beschäftigt, die mit mir überhaupt nichts zu tun haben? Ist es möglich, dass mein sogenannter ‚Selbsthass‘ so viele andere Juden beschäftigt, weil sich dahinter ein tiefes Problem im Herzen der jüdischen Identität verbirgt, das die meisten derjenigen, die sich mit dem Judentum identifizieren, unbedingt verbergen möchten? Ich kenne viele schwule Selbsthasser, sie bekommen keinen Druck von ihrer identitären Gemeinschaft. Selbsthassende Briten bekommen ebenfalls ihren Persilschein. Sogar selbsthassende Katholiken kommen mit ihrem ‚Verbrechen‘ davon. Aber jüdischer Selbsthass ist ein schlimmes Vergehen. Wir sollten fragen warum. Warum wurde Jesus gekreuzigt? Warum wurden Spinoza und Uriel Da Costa einem strengen Herem (Bann) unterworfen? Die Antwort finden wir wahrscheinlich im Alten Testament. Die Propheten waren vermutlich die Athenianer unter den Jerusalemiten.

Clara: Ich könnte über mich sagen, dass ich ‚die Verachtung für die Protestantin in mir sorgfältig herausarbeite‘, den Geiz, den übertriebenen Arbeitsethos, die Unfähigkeit sich zu entspannen und einfach einmal Spaß zu haben. Niemand würde mich deswegen eine Rassistin nennen, es handelt sich um tief eingepflanzte kulturelle Eigenschaften, von denen ich manche begrüße und andere versuche zu überwinden.
 
Gilad: Das ist tatsächlich ein guter Anfang. Warum darfst Du die Protestantin in Dir hassen, ich aber den Juden in mir nicht verachten? Es ist sehr schwer, die Tatsache zu leugnen, dass, obwohl die Juden keine Rasse sind, die jüdische Politik gleichwohl immer rassistisch getrieben erscheint. Das gilt ganz klar für Israel, den jüdischen Staat und dessen Diskriminierung der Palästinenser (sieh Dir das israelische Rückkehrgesetz [https://deref-web-02.de/mail/client/rMsDPVGtDeM/dereferrer/?redirectUrl=http%3A%2F%2Fwww.freunde-palaestinas.de%2Fal-nakba%2F172-das-rueckkehrrecht-der-palaestinensischen-fluechtlinge.html] an), aber es gilt auch für die jüdischen Anti-Zionisten, wie zum Beispiel die Organisation JVP (jüdische Stimme für den Frieden). Du, Clara, kannst Dich dort einschreiben, Du kannst Geld spenden, aber niemals dem Vorstand angehören. Warum? Weil Du rassisch nicht dafür qualifiziert bist. Ich vermute, die Tatsache, dass ich dies aufdecke, macht mich zum öffentlichen Feind.
 
Clara: Wie kann ich mich denn nach den JVP-Regeln als Jude ‚qualifizieren‘? Muss ich als Jude geboren sein, oder reicht die Konvertierung zum jüdischen Glauben?

Gilad: Du bist nicht qualifiziert, aber vermutlich ist die Konvertierung eine Option.
 
Clara: Es kommt mir sehr schwer vor, zwischen jüdischer Rasse und jüdischer Kultur zu unterscheiden. Du sprichst über Kultur und wirst Rassist genannt, Du nennst JVP rassistisch, aber ich könnte ja meinen Glauben ändern, um Mitglied zu werden. Das ist alles ziemlich verwirrend …

Gilad: Ich weiß nicht, was an der Unterscheidung zwischen Rasse und Kultur so schwierig sein soll. Was ich aber tue, ist auf die rassistische Kultur im Kern der verschiedenen jüdischen politischen Richtungen zu verweisen. Aber lass uns doch mal weiter denken. Müssen wir wirklich zum jüdischen Glauben konvertieren, um den jüdischen Staat kritisieren zu dürfen? Die Bedeutung hiervon ist doch erschreckend einfach: der Diskurs der Unterdrückten wird von den Empfindlichkeiten der Unterdrücker geformt …
 
Clara: Ich denke, ich habe es jetzt verstanden: ich kritisiere den jüdischen Staat Israel wegen dessen Behandlung der Palästinenser, für etwas, das die Israelis und ihre Unterstützer tun und nicht für das, was sie sind. Rasse ist mir völlig gleichgültig, ich könnte einen Juden an seinen biologischen Eigenschaften gar nicht erkennen. Wie denn auch? Aber wenn ich das tue, werde ich als Rassistin beschimpft. Also möchte ich mich einer jüdischen Gruppe anschließen, um diesen Geruch loszuwerden, bekomme aber nicht die vollen Mitgliedsrechte, weil ich keine Jüdin bin. Würde ich diese haben wollen, müsste ich zum jüdischen Glauben konvertieren, was irgendwie merkwürdig ist, weil die meisten anderen Mitglieder sich gar nicht als religiös betrachten.

Gilad: Ich sehe alle Formen von Rassismus und biologisch orientierter Politik sehr kritisch; das schließt jüdischen Rassismus genauso ein wie Nazitum! Die Nazis verfolgten die Juden dafür, dass sie Juden waren. Sie wurden verfolgt für das, was sie waren, nicht für das was sie taten. So ein Übergang ist in der Tat der Tod der Unschuld. Aber im jüdischen Staat werden Palästinenser verfolgt, weil sie keine Juden sind. Ich bestehe darauf, Vernunft so lange ins Spiel zu bringen, bis so etwas offiziell verboten wird.
 
Clara: Du siehst also keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Art, wie die Palästinenser in Israel behandelt werden, und der Art und Weise wie es die Nazis in Deutschland mit den Juden taten? Aber stellten denn nicht diese vollkommen rationale pseudo-wissenschaftliche Rassendefinition und die professionelle bürokratische und ‚industrialisierte‘ Organisation eines Genozids einen zur Vollendung getriebenen Rassismus weit über jede menschliche Vorstellungskraft dar? Und war deswegen der Holocaust nicht das einzigartige Genozid Ereignis der Geschichte?
 
Gilad: Das ist eine gute Frage, die man offen diskutieren sollte und nicht mit einem Gewehr an der Schläfe. Aber lass uns einmal weiterdenken. War der Holocaust einzigartiger als der Holodomor [https://de.wikipedia.org/wiki/Holodomor]? Sind zwei Jahre in Auschwitz einzigartiger als 70 Jahre in Gaza? Ich kenne die Antworten auf diese Fragen nicht, und ich glaube auch nicht, dass wir sie beantworten müssen. In meinem Buch ‘Being in time’ zeige ich, dass dies der entscheidende Unterschied zwischen einem Athenianer und einem Jerusalemiten ist. Athenianer sind dem Primat des Fragens verpflichtet. Jerusalemiten diktieren Antworten über Gebote und Mitzvoth (politische Korrektheit). Ich finde, dass diese Fragen offen bleiben und einer ständigen Erforschung und Überprüfung unterworfen sein sollten.

Clara: Das klingt sehr einleuchtend. Es gibt eine Menge Fragen zu stellen. Einerseits ist es wohlbekannt, dass rassistische Theorien keine alleinige Angelegenheit der Nazis waren. Es gab eine starke anglo-amerikanische wissenschaftliche Richtung, die die Tötung, zumindest aber die Sterilisation ‚unwerten Lebens‘ propagierte, und es ist sehr wahrscheinlich, dass Hitler eine Menge derartiger Literatur las, als er im Gefängnis ‚Mein Kampf‘ schrieb. Und manche Leute würden wirklich gerne wissen, warum die Alliierten nicht mehr dafür getan haben, um den Genozid an den Juden zu verhindern. Sie wussten ziemlich sicher was los war. Und sie hätten die Schienen bombardieren können.
 
Gilad: Genau. Wenn Du wirklich über Hitler und Nazitum diskutieren möchtest, bin ich offen zu Dir. Rasse und Rassismus wurden nicht von Hitler oder der Nazipartei erfunden. Wie ich schon erwähnt habe, wurde der Zionismus, der versprach‚ die ‚Juden wieder groß zu machen‘ 30 Jahre vor Hitlers ‚Mein Kampf‘ geboren und der rassistisch begründete jüdische Exzeptionalismus 3000 Jahre vor dem Zionismus. Ich bin der Letzte, der eine biologisch begründete Politik befürwortet. Tatsächlich kritisiere ich ja die ‚Neue Linke‘ dafür, dass sie ‚hitlerisch‘ ist. Und genauso kritisch stehe ich den weißen Identitären gegenüber. Aber wenn Du ‚Die Zerstörung Dresdens‘ von David Irving liest, begreifst Du das Ausmaß der völkermörderischen Absicht im Denken der anglo-amerikanischen Politiker. Ich möchte in einer Welt leben, in der Ideen frei ausgetauscht werden können und ethisches Denken ohne Grenzen erkundet werden kann. Tatsächlich findet ja unsere Diskussion genau deswegen statt, weil diese elementaren Freiheiten rapide vor unseren Augen verschwinden. Diese ganze Holocaust-Phobie hat sich als Wegbereiter für eine neue Banalität des Bösen erwiesen, die genauso blind ist wie die alte.


Das Gespräch erscheint parallel im opablog - beginnend am 23. Januar 2018 mit Folge 1


Die acht Folgen:

1. Erwachsenwerden
2. Ist das Opfer selber schuld?
3. Geschichtsschreibung als Prozess
4. Antisemitismus, Rassismus und kulturelle Identität
5. Prä-traumatisches Belastungssyndrom, Zionismus und Imperium
6. Jüdische Macht und Identitätspolitik
7. Globale Stammesverbände und nationaler Überschwang
8. Auf der Suche nach dem Weg nach Hause


Siehe auch:

Gespräch eines "Brunnenvergifters" mit einer "Antisemitin"
Auf der falschen Seite der Geschichte?
Gespräch von Clara S. mit Gilad Atzmon (Teil 1 und 2)
Teil 1: Erwachsenwerden
Teil 2: Ist das Opfer selber schuld?
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24509

Ich will nicht in einem Land leben, das jemand anderem gehört
Gilad Atzmon - interviewt von Burak Altun
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24508

Gilad Atzmons „The Wandering Who“, die Meinungsfreiheit und ich
Ein Diskussionsbeitrag zur Versachlichung
Von Clara S.
NRhZ 643 vom 17.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24486

Inzwischen sind wir alle Palästinenser
Gespräch über die Ideologie des Auserwähltheit-Seins, Israel, Palästina und den Holocaust
Gilad Atzmon - interviewt von Muslim-Markt
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24454

Wie weit geht die Freiheit der Gedanken?
Elias Davidsson und Gilad Atzmon debattieren über Palästina, Israel und Holocaust
Aufbereitet von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24453

Einwurf in eine kontroverse Debatte
Alles bekannt über den Holocaust?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24469

Online-Flyer Nr. 645  vom 31.01.2018

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