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Globales
Gespräch eines "Brunnenvergifters" mit einer "Antisemitin"
Auf der falschen Seite der Geschichte?
Gespräch von Clara S. mit Gilad Atzmon (Teil 5 und 6)

Am 20.12.2017 erschien bei Rubikon der Artikel mit dem Titel "Der Brunnervergifter Gilad Atzmon" von Elias Davidsson, in dem der Philosoph Gilad Atzmon vernichtend kritisiert wird. Als Rubikon es Gilad Atzmon verweigerte, sich gegen die Vorwürfe der Holocaust-Leugnung und des Antisemitismus zu verteidigen, hat das vielfach großes Unverständnis hervorgerufen. Es waren zunächst Evelyn Hecht-Galinski und die NRhZ, die Gilad Atzmon Gelegenheit gaben, sich zu verteidigen. Inzwischen haben Muslim-Markt und Daily Sabah Interviews mit ihm geführt und deutschsprachig veröffentlicht. Und nun hat Clara S., nachdem sie ihren Diskussionsbeitrag "Gilad Atzmons 'The Wandering Who', die Meinungsfreiheit und ich" veröffentlicht hatte, ein umfangreiches, achtteiliges Gespräch mit Gilad Atzmon geführt (1. Erwachsenwerden, 2. Ist das Opfer selber schuld? 3. Geschichtsschreibung als Prozess, 4. Antisemitismus, Rassismus und kulturelle Identität, 5. Prä-traumatisches Belastungssyndrom, Zionismus und Imperium, 6. Jüdische Macht und Identitätspolitik, 7. Globale Stammesverbände und nationaler Überschwang, 8. Auf der Suche nach dem Weg nach Hause). Es ist - wie Gilad Atzmon es sieht - ein furchtloser Austausch zwischen der deutschen linken Stimme Clara S. und dem ex-israelischen Jazz-Künstler, bei dem sie tief in Themen wie Israel, Palästina, den Holocaust, Frieden und Wahnvorstellungen, links und rechts, die Bedeutung der Vergangenheit und unsere Zukunftsaussichten im Kontext der gegenwärtigen identiäteren Dystopie eintauchen. Dem Gespräch über die Banalität des Guten, die Bedeutung der Vergangenheit, die Pornographie des Horrors und Humanismus vs. Tribalismus sind zwei Zitate vorangestellt: „Frieden kann nicht mit Gewalt erhalten werden; man kann ihn nur durch Verständnis erreichen.“ (Albert Einstein) Und: „In Zweifelsfällen kohärent bleiben.“ (Kurt Fasch - deutscher Philosophiehistoriker). Es folgen die Gesprächsteile 5 und 6.


Die Banalität des Guten (Montage von Gilad Atzmon)


5. Prä-traumatisches Belastungssyndrom, Zionismus und Imperium

Clara: Nachdem ich als Teenager den Roman Exodus gelesen hatte, war ich davon überzeugt, dass es eine ziemlich verständliche Reaktion des jüdischen Volkes war, in Israel eine neue Heimat zu finden und jeden zu bekämpfen, der ihre Existenz bedrohte.
 
Gilad: Meinst Du damit etwa das Töten von Arabern und die Beschlagnahme ihres Landes im Namen des jüdischen Leidens? Wenn Du das meinst, solltest Du bedenken, dass die Araber und ganz besonders die Palästinenser nichts mit dem jüdischen Leiden zu tun hatten. Tatsächlich lebten in Palästina und der arabischen Welt die Juden in Frieden und Harmonie mit ihren muslimischen und christlichen Nachbarn zusammen.

Wie ich schon vorher erklärt habe, nehmen sich im Falle eines prä-traumatischen Belastungssyndroms die ‚Opfer‘ als einer imaginären feindlichen Umwelt gegenüberstehend wahr. Die einzige Art zu überleben ist, als Erster zu handeln und jeden zu bekämpfen, der sich einem in den Weg stellt. Als nächstes beobachten wir die Errichtung von Ghetto-Mauern, und die Aussicht auf Frieden und Harmonie löst sich in Luft auf. Kurz gesagt, willkommen im gegenwärtigen Dystopia (dem Gegenbild zu Utopia).

Die Israelis fühlen sich z.B. heute ernsthaft von einem künftigen nuklearen Konflikt mit dem Iran bedroht. Anstatt jedoch diese prekäre Situation aufzulösen und zu versuchen, die Lage zu beruhigen, eskaliert die israelische Politik zusammen mit der jüdischen Lobby aktiv die Spannung. Die Realität am Boden ist bedrohlich. Die gesamte Region ist von einem Krieg bedroht, der sich leicht zu einem atomaren Konflikt verschärfen kann.

Ursprünglich war der Zionismus ein Versprechen, die Diaspora-Juden durch das Nachhauskommen zu ‚zivilisieren‘. Wir, ich schließe mich mit ein, um die Argumentation zu vereinfachen, sollten uns zu Menschen ‚wie alle anderen‘ entwickeln. Das bedeutete ganz sicher, mit den Nachbarn in Frieden zu leben. Dieses Projekt ist ganz klar gescheitert. Die meisten Anti-Zionisten sind der Meinung, dass der Zionismus das Judentum gekapert hätte. Ich glaube, dass die Tatsachen nahelegen, dass es (fast) genau umgekehrt war.

Der Zionismus, ursprünglich eine anti-jüdische Bewegung (einige würden sagen antisemitisch), wurde vom Judentum vereinnahmt (von der Kultur, nicht der Religion). Es war wieder einmal das Auserwähltsein (die jüdische Außerordentlichkeit), die die ursprüngliche Affinität der Bewegung zum Universellen auslöschte. Es war das Jüdisch-Sein, welches garantierte, dass die Israelis anders als andere Menschen sein würden. Es war das Jüdisch-Sein, welches die Vorstellung vom Auserwähltsein als Kern des zionistischen Denkens zurückholte. Nebenbei gesagt, war diese Verschiebung Gegenstand einer höchst lebhaften Debatte.

Clara: War Einstein also nicht immer noch ein Zionist alter Schule, als er 1929 an Chaim Weizmann schrieb, dass wenn Juden nicht mit den Arabern friedlich koexistieren könnten „wir absolut nichts aus unserer 2000-jährigen Leidensgeschichte gelernt haben?“


Gilad: Ganz bestimmt, und hierin besteht die Crux der Sache. Einstein bemerkte schon im Jahr 1929, dass die Feindseligkeit gegenüber der alteingesessenen Bevölkerung unglücklicherweise in die jüdische Kultur eingebettet ist. Einstein konnte schon so früh wie 1929 erkennen, dass die zionistische Bewegung die Palästinenser in die neuen Goyim verwandelte. Das war für ihn wahrscheinlich äußerst bedrückend und es zeigt ganz klar das zerstörerische jüdische Kontinuum.
 
Clara: Du behauptest, dass es im Grunde genommen der Glaube an das eigene Auserwähltsein war, welcher zu den vielen Desastern der jüdischen Geschichte geführt hat. Das ist aber nun ja keine jüdische ‚Spezialität‘. Ich habe immer darüber gestaunt, wie Europäer (und später die US-Amerikaner auch) sich das Recht herausnahmen, die Welt zu erobern, das Land in Besitz zu nehmen, die Ressourcen und Arbeitskraft auszubeuten, den Menschen, die eigene Kultur und Religion zu verordnen und sie zu töten, wenn sie im Wege standen. Dieses Gefühl rassischer und kultureller Überlegenheit hat mir immer Rätsel aufgegeben. Und es ging und geht ja nicht nur um Habgier. Viele von uns glaubten ja an die Mission, ‚westliche Werte‘ zu verbreiten, sei es aus religiösen oder weltlichen Gründen. Und sogar diejenigen, die dem ganzen kritisch gegenüber stehen, neigen immer noch dazu, eine gewisse kolonialistische Haltung an den Tag zu legen. Ich gebe zu, dass ich mich schon öfter gefragt habe, was am Christentum und der westlichen Kultur diese so verhängnisvoll für die Welt gemacht hat.

Gilad: Lass uns doch die verschiedenen Seiten des Auserwähltseins genauer betrachten. Erstens ist Auserwähltsein nicht unbedingt eine schlechte Sache. Sie wird schlecht, wenn Du dieses Auserwähltsein auf Kosten anderer betreibst. Orthodoxe Juden interpretieren das judaistische Auserwähltsein als moralische Last. Es ist ihre Pflicht, der Welt durch beispielhaftes ethisches Verhalten zu dienen (frag mich nicht, wie viele orthodoxe Juden dies befolgen). Während also im Judaismus das Auserwähltsein als moralische Pflicht interpretiert werden kann, wird es in der säkularen jüdischen Kultur als an rassische Faktoren angelehnter Exzeptionalismus wahrgenommen. So glauben die Zionisten beispielsweise, dass sie nach 2000 Jahren in ein Land ‚zurückkehren‘ und die biblische Gewaltherrschaft neu errichten können. Ich versichere Dir, dass nicht viele Italiener auf der Basis der römischen Herrschaft ungefähr um dieselbe Zeit Ackerland in Großbritannien beanspruchen. Aber die Anti-Zionisten folgen genau dem gleichen Weg. Die jüdischen pro-palästinensischen Aktivisten sind davon überzeugt, dass sie sich in einer ganz besonderen Position innerhalb der palästinensischen Solidaritätsbewegung befinden. Sie sind diejenigen, die uns anderen den ‚Koscher-Stempel‘ verleihen. Die jüdischen Anti-Zionisten haben praktisch eine Sphäre jüdischer Privilegiertheit im Kern des Diskurses platziert, der eigentlich dazu da ist, den Missbrauch ihrer Vormachtstellung durch ihre Brüder zu bekämpfen. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die jüdische Identitätspolitik im Grunde genommen eine Ansammlung verschiedener Ideen ist, die Selbstliebe ermöglichen. Aber Du hast recht. Europäischer Kolonialismus, Sklaverei, britischer Imperialismus und die heutigen ‚Ziocons‘ sind alle Formen des Auserwähltseins. Das Problem, welchem wir mit dem Zionismus oder der israelischen Brutalität begegnen, ist, dass hier vor unseren Augen eine Form von Exzeptionalismus ‚gefeiert‘ wird, über die wir nicht wirklich sprechen können.

Clara: Dann ist also die wirkliche Tragödie die, dass wenn Israels Feinde sich verbünden und wenn sie das Land besiegen würden, sich alle Befürchtungen bewahrheiten würden – die sich-selbst-erfüllende Prophezeiung eines neuen Holocaust, diesmal nicht durch Antisemitismus ausgelöst, sondern weil die Israelis nicht in der Lage waren, aus der Vergangenheit zu lernen und rechtzeitig Frieden zu schließen?

Gilad: Dem kann ich nur zustimmen. Israel definiert sich als jüdischer Staat. Wenn wir die Handlungen Israels begreifen möchten, die ihrer Lobbys und des Weltjudentums, müssen wir uns in die Bedeutung des – kulturellen – Jüdisch-Seins und des Judaismus einarbeiten, wir müssen fragen, wer die Juden sind. Wir müssen in die jüdische Kultur und Ideologie eintauchen. Wir sollten uns mit den jüdischen Überlebensstrategien vertraut machen.
 
Clara: Wo Du gerade vom Aufdecken jüdischer Lobbys sprichst: Du hast jetzt schon ein paar Mal die heutigen ‘Ziocons’ erwähnt. Wen oder was meinst Du damit?
 
Gilad: Zioncons sind diejenigen Neocons, die junge Amerikaner und Briten zum Sterben im Namen von Zion und Coca Cola entsenden.

Clara: Für Zion? Sie kämpfen / kämpften in Afghanistan, Irak, einige in Syrien, es handelt sich um ein Imperium mit mehr als 760 Militärbasen Welt-weit …

Gilad: So ziemlich. Zionismus ist nicht mehr eine geografisch begrenzte Ideologie. Ich behaupte oft, dass die Neocon-Schule eine klare globale Verschiebung vom ‚gelobten Land‘ zum ‚gelobten Planeten‘ anzeigt.

Clara: Sodass ohne die Neocons der Staat Israel nicht so stark und mächtig wäre, siehe Trumps Unterstützung, um Jerusalem zur Hauptstadt Israels zu machen? Und dass die Neocons ohne die Unterstützung und die Lobbyarbeit reicher, mächtiger Zionisten die amerikanische Politik nicht in der Weise kontrollieren könnten, wie sie das zurzeit tun?
 
Gilad: Ich wünschte ich könnte das bestätigen. Beim Schreiben dieser Zeilen lese ich von Bibi Netanyahus erfolgreichem Besuch in Indien. Die israelischen Strategen wissen, dass Amerika auf dem absteigenden Ast ist. Sie suchen sich schon einen Weg in die Korridore der Macht der aufstrebenden Mächte. Russland, Indien und China.

Clara: Irgendwann fragst Du „Wie hat Amerika sich erlaubt, von Ideologien versklavt zu werden, die von ausländischen Interessen bestimmt sind?“ Ein anderer Deiner anti-semitischen Aussprüche.

Gilad: Das Schweigen des amerikanischen politischen Establishments, der Medien und der Wissenschaftler beansprucht tatsächlich unsere intellektuelle Aufmerksamkeit. Ich argumentiere oft, dass die jüdische Macht darin besteht, die Diskussion über diese Macht zu unterdrücken. Ich glaube, dass der erste Schritt in die richtige Richtung ist, die Bedeutung dieser Macht zu enthüllen, das zu begreifen, was sie so stark zu verbergen und unterdrücken versuchen.

Clara: Könnten wir die Neocons und die Zionisten als nicht unbedingt sehr brüderliche Geschwister mit ähnlichen Gedankenverfassungen ansehen, die zusammen gegen eine multipolare Welt ankämpfen? Gegen eine Welt, in der die Nationen ihre Interessenkonflikte durch friedliche Verhandlungen und mit Respekt für das internationale Recht lösen? Eine Welt, in der die Menschen, die in einem Land leben wichtiger sind, als der Wunsch irgendeine ferne Gegend der Welt zu kontrollieren oder den vermuteten Interessen Israels zu dienen? Ich habe herausgefunden, dass ich bei vielen Themen, die mich berühren, über das amerikanische Imperium sprechen muss. Aber weil das Neocon-dominierte Imperium fest mit dem Zionismus verwachsen ist, und weil jüdische Eliten nicht nur in die israelische sondern auch in die amerikanische Politik involviert sind, ist es sehr schwer, diese Politik zu kritisieren: sobald Du jüdische oder israelischen Beeinflussung berührst, lauert die Drohung, als Nazi oder Antisemit beschimpft zu werden, hinter jeder Ecke. Es ist wirklich schwierig, in so einer Umgebung noch geradeaus zu denken!


Gilad: Sobald wir aus der Tyrannei der Korrektheit ausbrechen, verstehen wir, dass Neocons praktisch Ziocons sind. In anderen Worten: Neocons und Zionisten sind eins. Warum ist es so schwierig, dies zu diskutieren? Weil jüdische Macht die Macht ist, Kritik an der jüdischen Macht zu unterdrücken. Die jüdische Macht wird von der sogenannten ‚Linken‘ (in Wirklichkeit der neuen Linken) aufrechterhalten. Das werde ich Dir beweisen. Wer war es denn, der Dich vor kurzem zum Schweigen bringen wollte, als Du die Kampagne gegen Atzmon infrage gestellt hast? Waren es die zionistische Föderation, die israelische Botschaft? Nicht wirklich, es war der sogenannte ‚linke‘ Rubikon und der ‚Anti‘-Zionist Elias Davidsson. Ich sage Dir, wir sind jetzt sehr nahe an der Wahrheit. Ein Kontinuum wurde hergestellt.


6. Jüdische Macht und Identitätspolitik

Clara: Du zeigst, wie jüdische Institutionen die US-amerikanische Politik beeinflussen, dass alles ganz offen stattfindet, und dass die zionistischen Lobbyisten sich ihrer Macht rühmen. Kontrollieren die Juden also tatsächlich die Welt, wie die Nazis es behauptet haben?

 
Gilad: Das ist wieder eine vielschichtige Frage, die terminologische Genauigkeit erfordert. Sind es ‚die Juden‘ (das Volk), die die Welt beherrschen? Ganz bestimmt nicht. Aber einige Teile der jüdischen Elite sind zweifellos dominant und in den Medien, im Finanzwesen, in Kultur, Wissenschaft und Politik, der politischen Lobby, in Hollywood usw. stark überrepräsentiert. Ich habe mich zu diesem sensiblen Thema in meinem neuen Buch ‚Being in Time – A Post Political Manifesto‘ [http://www.gilad.co.uk/being-in-time/] genau geäußert. In dem Buch gebe ich zu, dass ich mich von ‚Das jüdische Jahrhundert‘ [http://www.dubnow.de/publikationen/monografien/yuri-slezkine-das-juedische-jahrhundert/], dem monumentalen Text von Yuri Slezkine habe inspirieren lassen, der versucht hat zu erklären, was an den Juden es ihnen ermöglicht hat, das 20. Jahrhundert zu ihrem Jahrhundert zu machen: Was an den Juden und ihrer Kultur hat ihre Dominanz im Westen ermöglicht? In ‚Being in Time‘ stelle ich außerdem einige eigene Gedanken zu dem Thema vor. Ich versuche auch, einige Theorien zu untersuchen, die in der Vergangenheit allgemein zurückgewiesen wurden, die ich aber hilfreich finde. Meine Untersuchungen legen nahe, dass die jüdische Elite extrem gebildet und auch begabt ist.

Clara: Wenn sie so begabt sind, warum siehst Du dann ihre ‚Dominanz in der westlichen Kultur‘ als so problematisch an? Können wir nicht alle von diesen außergewöhnlichen Talenten profitieren?


Gilad: Erst einmal, wir haben davon profitiert und tun es immer noch. Das, was wir kritisieren, ist auch das, was das Leben besonders macht. Die globale Obsession (zwanghafte Vorstellung) der freien Märkte, die wir hassen, ist mit einer Vorstellung von Freiheit verknüpft, die wir zu begrüßen scheinen. Wir hassen den unbegrenzten Konsum, der aber mit der Vorstellung verbunden ist, alles haben zu können, was wir wollen. Aber jetzt kommt das Problem, Die Welt, in der wir leben, ist kein schöner Ort. In Wirklichkeit ist sie eine Dystopie, und die Menschen werden von Minute zu Minute nostalgischer. Zu einer bestimmten Zeit sahen wir uns als freie Subjekte. Aber inzwischen ist von unserer verfallenden Freiheit nicht mehr viel übrig. Wir sind zu Konsumenten reduziert worden. Die Politiker, die unseren Willen und unsere Wünsche repräsentieren sollten, machen im Grunde wenig mehr, als uns über Kredite den Konsum zu ermöglichen. Die industrielle Produktion ist bei uns ausgestorben, und die Vorstellung von einer besseren Zukunft ist eine ferne Fantasie. Ich habe diese Besorgnis erregenden Themen in ‘Being in Time‘ angesprochen. Ich bin mir sicher, dass die identitäre Revolution, oder sollen wir lieber sagen, die Ideologie der ‚Neuen Linken‘ viel mit dem oben gesagten zu tun hat. Das westliche Individuum wurde praktisch dazu indoktriniert, als ‚Schwuler‘, ‚Frau‘, ‚Schwarz/e‘ zu sprechen. Wir werden dazu erzogen, uns mit unserer Biologie zu identifizieren (Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung usw.) So lernen wir im Grunde genommen, uns als eine Vielfalt biologisch orientierter Stämme zu sehen. Wir sind ein Konstrukt vielfältiger israelitischer Stämme; nur dass die Israeliten viel besser im Israelit-Sein sind, weil sie dies schon seit 3000 Jahren praktizieren.

Clara: Du siehst also die Identitätspolitik als jüdische Erfindung an?
 
Gilad: Ganz genau. Und jetzt kommt der problematischste Dreh an der Sache: In ‚Being in Time‘ behaupte ich, dass die ‚Neue Linke‘ in die Nazi-Falle getappt ist. Indem sie die Menschheit nach biologischen Kriterien einteilt, besteht sie darauf, dass wir uns selbst und andere nach biologischen Kriterien definieren. Anstatt uns unter einem dynamischen, universellen Ethos zu vereinen, werden wir wieder einmal neuen Kategorien unterworfen, die die universelle menschliche Harmonie unmöglich machen. Wir leben jetzt in einer vollkommen fragmentierten Gesellschaft. Anstatt gemeinsam zu kämpfen und nach Gemeinsamkeiten zu suchen, sind wir in identitäre Gruppen aufgespalten und bekämpfen einander.

Clara: Biologie? Das tun, was die Nazis taten, sogar eine ‚Rasse‘ erfinden, wo es keine gibt? Das ist wirklich ein schöner Dreh. Aber ich muss zugeben, dass es einem irgendwie natürlich vorkommt, sich nach identitären Gesichtspunkten zu definieren. Wir bringen fast alle Erfahrungen von Verlusten und Diskriminierung aufgrund unserer ‘biologischen’ Identität mit: als Frau, als Angehörige/r einer ethnischen Minderheit, als jemand mit einer Behinderung, wegen unserer sexuellen Orientierung.
 
Gilad: Das ist wahr. Es ist für viele Menschen offensichtlich natürlich, sich mit ihrer Biologie zu identifizieren. Deswegen hat die Hälfte aller Amerikaner für Hilary Clinton gestimmt. Deswegen ist die Identitätspolitik die einzige ‘linke’ Ideologie, die Popularität erlangen konnte. Es erklärt, warum der Nationalsozialismus die Massen angesprochen hat. Und, wenn Du mir erlaubst, es zu sagen; es erklärt auch die Logik im Kern des jüdischen Tribalismus.

Clara: Weißt Du, Gilad, mir liegt viel an antidiskriminierenden und emanzipatorischen Bewegungen. Ohne diese hätte ich immer noch kein Stimmrecht und meine unabhängige berufliche Karriere wäre nicht möglich gewesen. Das homosexuelle Paar in meiner Nachbarschaft hätte sich als Cousins ausgeben müssen und Barriere-freie Bahnhöfe gäbe es auch nicht. Außerdem mag ich persönlich den Mix aus unterschiedlichen ethnischen Kulturen, den wir in Deutschland vorfinden, trotz aller Probleme, die das mit sich bringt. Für mich als Lehrerin war es immer wichtig, diejenigen Schüler besonders zu unterstützen, die nicht mit dem Silberlöffel im Mund auf die Welt gekommen sind. Das Motto unserer Schule lautet ’Vielfalt ist unsere Stärke’ und dazu stehe ich. Als ich Kritik an der Identitätspolitik (dem ‘Genderismus’) hörte, habe ich das anfangs gar nicht ernst genommen, weil es aus meiner Sicht aus der ‚rechten Ecke‘ kam: von der Sorte Mensch, die die Frauen zurück zu Küche, Kinder und Kirche schicken, die Abtreibung verbieten lassen, alle Ausländer rausschmeißen wollen und Homosexualität als krank ansehen. Es gab dann mehr und mehr Dinge an ‘Multi-Kulti’ und offenen Grenzen, die mich stutzig machten; aber ich muss zugeben, dass mir erst während des amerikanischen Präsidentenwahlkampfs aufging, dass in der Demokratischen Partei die Identitätspolitik die Dinge ersetzt hatte, die aus meiner Sicht wahrhaft ‘links’ sind: die soziale Situation der Menschen zu verbessern und der Anti-Imperialismus. Und ich merkte, dass der Linken in Deutschland das gleiche passiert war. Ist also die Linke von den Identitären übernommen worden?

Gilad: Ja, das verstehe ich vollkommen. Wie viele andere war ich mit der linken Ideologie in jungen Jahren einverstanden. Aber als ich älter wurde, fand ich, dass die Linke wahnhaft, dogmatisch und weitgehend heuchlerisch wurde. Ich konnte keinerlei Sinn für dialektisches Denken entdecken. Sogar die Neigung zur Gleichheit hatte sich irgendwie in Luft aufgelöst. Für den ‘Wandernden Wer’ habe ich einen Trick erfunden; anstatt danach zu fragen, für was das ‘J-Wort’ steht, fragte ich, was Menschen denken, die sich als Juden identifizieren. Für ‘Being in Time’ habe ich die gleiche Taktik auf die Linke angewendet. Ich fragte die Leute, die sich als Linke identifizieren, welchen Vorstellungen sie anhängen. Die Antworten waren ziemlich peinlich. Die Neue Linke hat mit der alten Linken so gut wie keine gemeinsamen Werte. Die Neue Linke ist tribalistisch, biologisch orientiert, sie ist autoritär und oft proto-faschistisch. Die Linke wurde nicht von den Identitären eingenommen, sie wurde gekapert. Die Sphäre der Neuen Linken ist besetztes Territorium und das ist der Grund dafür, dass wir alle Palästinenser sind. Deswegen vertrete ich ja die Meinung, dass inzwischen die links / rechts Dichotomie (Zweiteilung) bedeutungslos bis überflüssig ist. Willkommen im post-politischen Zustand.

Clara: Wir sind alle Palästinenser?


Gilad: Ich denke ich war es, der den beliebten Spruch geprägt hat ‘inzwischen sind wir alle Palästinenser‘. Die Bedeutung dieser Aussage ist ziemlich niederschmetternd – wie die Palästinenser ist es uns nicht erlaubt, die wahre Bedeutung unserer Unterdrückung aufzudecken. Die Grenzen des palästinensischen Diskurses werden von den jüdischen Empfindlichkeiten geformt. Tragischerweise ist das auch die angemessene Beschreibung des westlichen Dissenses. Unsere Opposition wird von den Empfindlichkeiten der Unterdrücker geformt.

Clara: Könnten wir also sagen, dass Emanzipation durch Opfertum ersetzt wurde? Ist die Identitätspolitik eine sehr mächtige Bewegung von Menschen, die die Welt von der beschränkten Perspektive eines Opfers rassistischer, sexistischer oder sonstiger Vorurteile und Diskriminierung aus betrachten? Bedeutet es zu denken ‚Die Welt wäre besser, wenn alle sie so sehen würden wie ich‘; ‚Wenn XY seine Haltung ändern würde, könnte ich viel mehr erreichen, ich kann dies oder jenes nicht tun, weil XY mich nicht lässt‘? So ist es immer ein anderer, den ich für mein Schicksal verantwortlich mache. Kein Wunder, dass heutzutage auch die männlichen Weißen, bisher das Symbol der Unterdrückung, als Opfer anerkannt werden wollen. Der Schritt von einer solchen Denkweise bis zu Hass und destruktivem Verhalten ist nicht allzu groß: „Wir werden Menschen sein. Es wird uns gelingen oder die Erde wird zerstört bei unserem Versuch dies zu erreichen.“ So drückte es Eldrige Cleaver für die schwarze Rasse aus. Die Art und Weise wie die MeToo-Bewegung die männlichen Täter zur Rechenschaft zieht, scheint mir manches Mal auch mehr von Boshaftigkeit und dem Wunsch, diese zu demütigen, bestimmt zu sein, als von dem Wunsch, Fehlverhalten ans Licht zu bringen und den verletzten Frauen Frieden. Wahrhaft ‚Seelen auf Eis‘! Und weil wir uns ‚politisch korrekt‘ verhalten müssen, dürfen wir Opfer nicht kritisieren, um ihre Gefühle nicht zu verletzen. Aber dadurch werden keine Verletzungen geheilt. Man füttert dieses ‚Kind‘ ständig weiter, aber es ist nie zufrieden und wächst zu einem riesigen, fetten Monster heran, welches bis ans Ende aller Zeiten ‚Füttere mich!‘ schreit. Aber wie passen nun jüdisches Opfertum und die riesigen Erfolge der Juden im 20. Jahrhundert zusammen?

Gilad: Ich finde es ziemlich erstaunlich zu hören, was Du da sagst, weil ich in meinem Buch ‚Being in Time‘ die Themen Identitätspolitik und Opfertum mit einem ähnlichen Ansatz verfolge. Einerseits sind wir alle in biologisch orientierte Stämme aufgespalten. Wir werden über unsere Hautfarbe, unser Geschlecht, die Gene unserer Mutter, unsere sexuelle Orientierung definiert. Aber es sind nur die Juden, die es zu einem Staat, hunderten Atombomben und Schwadronen von F-35 Bombern gebracht haben, und die Frage ist Warum? Ich will Dich schockieren. Weil die jüdische Identität Selbst-Hass beinhaltet. Der (frühe) Zionismus beinhaltete das Versprechen, die Juden zu verändern, sie von ihrer Opferrolle zu befreien. Sie in Menschen wie alle anderen zu verwandeln. Wenn die Identitären lernen würden, sich selbst zu hassen, würden sie vielleicht anfangen, sich weiter zu entwickeln und vielleicht sogar den Weg zum Universellen wiederentdecken.
 
Clara: Du meinst also, dass Selbsthass der Schlüssel zum Zionismus war, und dass, wenn das Jüdisch-Sein diesen nicht gekapert hätte, die Juden den Weg zum Universellen gefunden hätten?

Gilad: Genau. Der Zionismus wurde von ‘hard-core’-Selbstverachtung getrieben. Das Kernprinzip der frühen Zionisten war die ‘Negation des Galut (der Diaspora)‘. Es war diese Form des Selbsthasses, welche die Fantasie eines jüdischen Neubeginns befeuerte. Der Zionismus setzte die Stärkung des Judentums an die Stelle der ewigen Opferrolle.

Clara: ‚… ich lache, esse gut und werde stark …‘

Gilad: Ja. Man warf den Goyims nicht mehr die anti-semitischen Verbrechen vor, sondern betrachtete die jüdische Geschichte und Kultur, um herauszufinden, was an dieser Kultur und Politik Antisemitismus hervorrief. Dieser Ansatz könnte erklären, warum der jüdische Identitarismus viel mehr erreicht hat als andere ethnische Identitätsgruppen. Aus meiner Sicht ist der frühe Zionismus eine erstaunliche Veränderung in der jüdischen Geschichte. Dass er jedoch gescheitert ist, ist noch signifikanter. Es könnte nahelegen, dass es keine kollektive Lösung für die Judenfrage gibt. Wenn sich die Juden retten möchten, müssen sie alleine in der Nacht ausbrechen und darauf hoffen, dass sie bei Tagesanbruch dem Universellen begegnen.


Das Gespräch erscheint parallel im opablog - beginnend am 23. Januar 2018 mit Folge 1



Die acht Folgen:

1. Erwachsenwerden
2. Ist das Opfer selber schuld?
3. Geschichtsschreibung als Prozess
4. Antisemitismus, Rassismus und kulturelle Identität
5. Prä-traumatisches Belastungssyndrom, Zionismus und Imperium
6. Jüdische Macht und Identitätspolitik
7. Globale Stammesverbände und nationaler Überschwang
8. Auf der Suche nach dem Weg nach Hause


Siehe auch:

Gespräch eines "Brunnenvergifters" mit einer "Antisemitin"
Auf der falschen Seite der Geschichte?
Gespräch von Clara S. mit Gilad Atzmon (Teil 1 und 2)
Teil 1: Erwachsenwerden
Teil 2: Ist das Opfer selber schuld?
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24509

Gespräch eines "Brunnenvergifters" mit einer "Antisemitin"
Auf der falschen Seite der Geschichte?
Gespräch von Clara S. mit Gilad Atzmon (Teil 3 und 4)
Teil 3: Geschichtsschreibung als Prozess
Teil 4: Antisemitismus, Rassismus und kulturelle Identität
NRhZ 645 vom 31.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24545

Ich will nicht in einem Land leben, das jemand anderem gehört
Gilad Atzmon - interviewt von Burak Altun
NRhZ 644 vom 24.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24508

Gilad Atzmons „The Wandering Who“, die Meinungsfreiheit und ich
Ein Diskussionsbeitrag zur Versachlichung
Von Clara S.
NRhZ 643 vom 17.01.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24486

Inzwischen sind wir alle Palästinenser
Gespräch über die Ideologie des Auserwähltheit-Seins, Israel, Palästina und den Holocaust
Gilad Atzmon - interviewt von Muslim-Markt
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24454

Wie weit geht die Freiheit der Gedanken?
Elias Davidsson und Gilad Atzmon debattieren über Palästina, Israel und Holocaust
Aufbereitet von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24453

Einwurf in eine kontroverse Debatte
Alles bekannt über den Holocaust?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 642 vom 27.12.2017
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24469

Warum ich mich als Nicht-Jüdin mit einem "inner-jüdischen" Streit beschäftige
Auf den Spuren einer Strategie der Macht
Von Clara S.
NRhZ 646 vom 07.02.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24566

Ein Umdenken ist erforderlich:
Die westliche "Rasse" muss menschlich werden!
Von Yavuz Özoguz
NRhZ 646 vom 07.02.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24570

Kampagne gegen Lisa Fitz: ein neues Beispiel für die Strategie der Macht
Schutzschild der Hochfinanz
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 646 vom 07.02.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24553

Online-Flyer Nr. 646  vom 07.02.2018

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