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Kultur und Wissen
Ein Nachtrag aus gegebenem Anlass
Eine kurze Geschichte der HIV-Erkrankung und der antiretroviralen Therapie
Von Klaus-Dieter Kolenda
Eine Infektion mit dem HI-Virus ist die entscheidende Ursache von AIDS und es gibt seit 1996 eine wirksame antiretrovirale Therapie. Diese Tatsachen habe ich in meinen Artikeln „HIV-Infektionen und AIDS - ein Vergleich zwischen Subsahara-Afrika und Deutschland“ ausführlich dargestellt (1, 2). Trotz dieser eindeutigen Sachlage sind in jüngster Zeit auch in verschiedenen linken Magazinen und Blogs Texte veröffentlicht worden, in denen das Gegenteil behauptet wird (3-6). Wenn es dabei nur um gegensätzliche Thesen eines wissenschaftlichen Disputes ginge, könnte man sich beruhigt zurücklehnen und darauf warten, bis neue Erkenntnisse vielleicht eine Klärung der Streitfragen bringen. So ist es aber nicht. Einen derartigen begründeten Disput, den es vielleicht in den 1980er Jahren gegeben haben mag, gibt es unter Ärzten und Wissenschaftlern, die die eindeutigen Forschungsergebnisse der letzten 25 Jahre über HIV und AIDS zur Kenntnis nehmen, schon lange nicht mehr. Behauptungen wie die, dass HIV nicht die Ursache von AIDS sei und es keine effektive lebensverlängernde antiretrovirale Therapie geben würde, sind nicht nur falsch, sondern auch irreführend und unverantwortlich, weil sie die von einer HIV-Erkrankung Betroffenen bei ihren Behandlungsentscheidungen verunsichern oder sogar davon abhalten können, eine für sie lebenserhaltende Therapie zu beginnen.
Und sie können alle präventiven Bemühungen zur Eindämmung von HIV und AIDS in Frage stellen, wie es in der Regierungszeit von Tabor Mbeki, dem Nachfolger von Nelson Mandela in Südafrika, leider der Fall war, wie ich in meinen oben genannten Artikeln dargestellt habe (1, 2). Deshalb möchte ich derartigen Behauptungen in meinem vorliegenden Nachtrag entschieden widersprechen.
Im Folgenden werde ich daher meine bisherigen Ausführungen zum Thema (1, 2) mit einem kurzen Abriss der Geschichte der HIV-Erkrankung und deren Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten ergänzen. Dabei stütze ich mich vor allem auf das Buch „HIV 2016/2017“, das von Christian Hoffmann und Jürgen K. Rockstroh alle 2 Jahre in aktualisierter Form herausgegeben wird (7). An der letzten Ausgabe dieses Buches haben 39 ausgewiesene HIV-Spezialisten aus Deutschland und anderen Ländern mitgeschrieben. Das umfangreiche Werk, das einschließlich von vielen Bildtafeln mehr als 700 Seiten umfasst und Hunderte von aktuellen Literaturzitaten enthält, gilt als ein wichtiges Fachbuch auf diesem Gebiet, ist in mehrere Sprachen übersetzt worden, gut lesbar und kann kostenfrei im Internet angesehen und herunter geladen werden. Mit Christian Hoffmann, einem der Herausgeber, habe ich viele Jahre lang erfolgreich zusammengearbeitet.
Zum anderen stützt sich mein Text auf meine persönlichen ärztlichen Erfahrungen im Umgang mit etwa 1200 Patienten mit einer HIV-Erkrankung in den Jahren 1990 bis 2006 in einer Rehabilitationsklinik (8-12). Darunter befanden sich etwa 500 AIDS-Patienten.
Und schließlich verweise ich bei einigen Argumenten auf das wichtige Buch von Seth Kalichman mit dem Titel „Denying AIDS“ aus dem Jahre 2009, das leider nur in englischer Sprache veröffentlicht wurde (13). Der englische Titel hat wohl eine gewollte doppelte Bedeutung: Einerseits bedeutet er „AIDS leugnen“ und andererseits „Hilfsmittel verweigern“.
Seit der Entdeckung vor 35 Jahren hat das HI-Virus der Wissenschaft zahlreiche Rätsel aufgegeben. Viele davon konnten jedoch in den vergangenen Jahrzehnten gelöst werden. Dazu gehören die Fragen: Woher kam das HI-Virus? Und: Wie konnte es die schlimmste Pandemie unserer Zeit auslösen?
Ein Dokumentarfilm bringt Aufklärung
Wissenschaftler aus Belgien, den USA und dem Kongo haben gute Argumente dafür, dass das HI-Virus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Herzen Afrikas (Kamerun) seinen Ursprung genommen hat. Dort ist HIV beim Übergang des Simian Immunodefiency Virus (SIV) vom Schimpansen auf den Menschen entstanden.
Über mehrere Jahrzehnte konnte sich dann das HI-Virus bei den Menschen in Zentral- und Ostafrika unerkannt ausbreiten, bis die Erstbeschreibung von HIV/AIDS Anfang der 1980er Jahre in den USA erfolgt ist. Die älteste bekannte HIV-positive Probe stammt aus dem Jahre 1959 aus Kinshasa im Kongo (7). Man nimmt an, dass sich während der anschließenden Jahrzehnte die HIV-Erkrankung von Zentralafrika über Ostafrika auf den etablierten Verkehrswegen und von dort weiter ins südliche Afrika ausgebreitet hat.
Das wird in dem sehenswerten Dokumentarfilm „AIDS - Erbe der Kolonialzeit“ von Carl Gierstorfer gezeigt, der 2014 entstanden ist, aus Anlass des Welt-AIDS-Tages am 2. Dezember 2017 auf ARTE ausgestrahlt wurde und über YouTube angesehen werden kann (14).
Es brauchte Jahrzehnte interdisziplinärer Forschung, um dem HI-Virus diese Geheimnisse abzuringen. Virologen, Biologen und Historiker haben die Spuren des HI-Virus bis zu seinen Anfängen zurückverfolgt, die lange vor dem Beginn der 1980er Jahre liegen, als HIV/AIDS in der Homosexuellenszene an der Westküste der USA auftrat und Angst und Schrecken verbreitete.
Mehrere Jahre folgte der Filmemacher Gierstorfer Wissenschaftlern auf ihrer Suche nach dem Ursprung von HIV. In Krankenhäusern und Laboren in der Demokratischen Republik Kongo, dem früheren Belgisch-Kongo, stießen die Forscher auf ein Archiv von Gewebeproben aus der Kolonialzeit. Deren Analyse ergab, dass bereits Anfang der 1960er Jahre eine HIV-Epidemie in Zentralafrika grassierte.
Lange zuvor muss also das Virus vom Schimpansen auf den Menschen übergesprungen sein; ein Vorgang, der aber nicht zwangsläufig eine Pandemie auslösen muss. Haben die Kolonialherren mit ihrer rücksichtslosen Ausbeutung von Mensch und Natur die Ausbreitung des HI-Virus erst ermöglicht? Diese Frage wird in dem Film bejaht und mit erschreckenden Filmdokumenten aus der Kolonialzeit belegt. Dazu gehören in Zentralafrika mit unsterilen Spritzen durchgeführte Impfungen größerer Bevölkerungsgruppen gegen die Schlafkrankheit, wodurch die Ansteckung mit dem HI-Virus möglicherweise massenhaft verbreitet worden ist. Nach Meinung des Autors bereiteten die damaligen Kolonialmächte, vor allem Frankreich und Belgien, von Zentralafrika ausgehend der AIDS-Pandemie den Weg.
Teils wissenschaftliche Reportage in von kolonialer Ausbeutung, Kriegen und Korruption zerrütteten Ländern Afrikas, teils historische Analyse, eröffnet dieser Film von Gierstorfer eine neue Perspektive auf die AIDS-Pandemie. Diese hat bislang wahrscheinlich circa 40 Millionen Menschen das Leben gekostet. Weltweit wird die derzeitige Zahl der mit HIV Infizierten auf 36,9 Millionen geschätzt, davon leben 26,8 Millionen in Subsahara-Afrika. Mehr als die Hälfte davon sind Frauen (1, 2, 7).
Der Dokumentarfilm von Gierstorfer ist aber auch deshalb sehenswert, weil er anschaulich macht, was fast 150 Jahre koloniale und neokoloniale Ausbeutung für die Bevölkerung des Kongo, eines der an der Rohstoffen reichsten Länder der Welt, bis heute bedeutet: Öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser, die in dem Film gezeigt werden, sind nach wie vor in einem äußerst beklagenswerten Zustand, weil der Reichtum außer Landes geschafft oder privatisiert wird, die Eliten korrupt sind und diejenigen, die dagegen aufbegehren, wie zum Beispiel Patrice Lumumba, der erste Premierminister nach der Kolonialzeit, von den Kolonialmächten und ihren ausländischen und einheimischen Helfern ermordet wurden.
Das HI-Virus und die HIV-Erkrankung
Das HI-Virus ist erst seit 1983 bekannt und trotzdem heute wahrscheinlich der Krankheitserreger, über den die medizinische Wissenschaft am besten unterrichtet ist. Das hängt damit zusammen, dass das HI-Virus Anfang der 1980er Jahre als ein besonders für junge Menschen in den Industrieländern tödlicher Krankheitserreger in Erscheinung getreten ist, dessen erfolgreiche Behandlung für die Pharma-Industrie große Gewinne versprach. Trotz der erheblichen Geldmittel, die in die HIV-Forschung flossen, mussten die HIV-Infizierten und AIDS-Kranken aber 13 Jahre lang bis 1996 auf eine effektive Therapie warten. Eine wirksame Impfung gegen HIV gibt es bis heute nicht und ist auch nicht in Sicht.
Unser Wissen über das HI-Virus und die HIV-Erkrankung beruht auf vielen Zehntausenden wissenschaftlicher Arbeiten, die weltweit zu allen Aspekten der HIV-Erkrankung in den letzten Jahrzehnten durchgeführt und veröffentlicht worden sind (1, 2, 7).
HIV ist ein Retrovirus und gehört zur Gruppe der Lentiviren (15). Infektionen mit diesem Virustyp verlaufen chronisch, zeigen eine lange klinische Latenzphase (Zeit von der Infektion bis zum Ausbruch der Krankheit), eine anhaltende Virämie (Vorhandensein von Viren im Blut) und eine Beteiligung des zentralen Nervensystems. HIV-1 wurde 1983 erstmals beschrieben, HIV-2 drei Jahre später.
Beide Viren sehen zwar im elektronischen-mikroskopischen Bild nahezu identisch aus, unterscheiden sich aber zum Beispiel molekulargenetisch und pathophysiologisch deutlich. Da HIV-2 nur in wenigen Regionen Westafrikas vorkommt und weltweit nur circa 1 Prozent aller HIV-Infektionen ausmacht, konzentriert sich die HIV-Forschung auf HIV-1. Das umfangreiche und detaillierte Wissen, über das wir heute zum Beispiel über die Morphologie, das virale Genom (Erbgut des Virus), den Eintritt von HIV in die Zielzelle, die Wirkungen von HIV auf das Immunsystem und speziell auf die CD4-positiven T-Zellen (Helferzellen), verfügen, kann im Buch „HIV 2016/2017“ ausführlich nachgelesen werden (15).
Die rasche und sichere serologische Diagnose (Diagnose aus Blutbefunden) der HIV-Infektion ermöglicht den Patienten den Zugang zur antiretroviralen Therapie und hilft gleichzeitig, Ansteckungen, zum Beispiel von Sexualpartnern und Neugeborenen oder durch Blut und Blutprodukte zu verhindern.
Das Ergebnis von korrekt durchgeführten HIV-Tests ist eindeutig: Die Probanden sind entweder „HIV-positiv“ oder „HIV-negativ“. Trotz der flächendeckenden Testangebote in Deutschland wird die HIV-Infektion oft erst zu einem späten Zeitpunkt diagnostiziert. In einem Drittel der Fälle besteht laut Robert-Koch-Institut zum Zeitpunkt der Erstdiagnose eine fortgeschrittene HIV-Erkrankung mit einem ausgeprägten Immundefekt oder AIDS (16).
Neben den serologischen Testsystemen stehen auch Verfahren zum Nachweis von HIV-RNA (RNA bedeutet Ribonukleinsäure und bezeichnet einen Bestandteil des Erbmaterials) zu Verfügung. Der quantitative Nachweis von HIV-RNA-Partikeln wird auch „Bestimmung der Viruslast“ genannt und ist heute ein wesentlicher Bestandteil der Überwachung einer HIV-Infektion (16).
1981 wurde die erworbene Immunschwäche AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrome) erstmals als klinisches Krankheitsbild beschrieben. Die ersten Berichte gingen auf die ungewöhnliche Häufung bis dahin seltener Erkrankungen wie Kaposi-Sarkom (KS) und Pneumocystis Pneumonien (PCP) zurück. Bis zu dieser Zeit war das Auftreten dieser Indikatorkrankheiten für einen schweren Immundefekt (Schwäche der Immunabwehr) noch nie bei gesunden jungen Menschen beobachtet worden.
Zunächst wurde die Ursache in spezifischen risikoträchtigen Lebensstilen vermutet, wie sie zum Beispiel in der Gay-Community verbreitet sind. Schließlich konnte 1983 das Humane Immunschwäche-Virus (HIV) als wahrscheinliche Ursache von AIDS identifiziert werden. Im Jahre 2008 erhielt die Forschergruppe um Luc Montagnier für diese Arbeiten den Nobelpreis.
Der natürliche Verlauf der HIV-Infektion
Abb. 1: Der natürliche Verlauf der HIV-Infektion ohne antiretrovirale Therapie.
CD4-Zellen: Helferzellen, HIV-RNA: Viruslast (aus 7., S. 7)
In Abbildung 1 ist der natürliche Verlauf der HIV-Infektion (ohne antiretrovirale Therapie) dargestellt (17). Kurze Zeit nach der Erstinfektion wird bei einigen Patienten ein akutes retrovirales Syndrom beobachtet, das mit Lymphknotenschwellungen, Fieber, Muskelschmerzen und einem vorübergehenden fleckförmigem Hautausschlag einhergehen und 2 bis 4 Wochen anhalten kann. Anschließend erfolgt eine Periode von mehreren Jahren, in denen die meisten Patienten klinisch unauffällig sind.
Danach können Beschwerden und Erkrankungen auftreten, die nach der CDC-Klassifikation der klinischen Kategorie B zugeordnet werden. Dazu gehören Soor-(Pilz)-Infektionen der Mundschleimhaut und Herpes Zoster-Infektionen. Diese Erkrankungen sind zwar nicht AIDS-definierend, aber ursächlich auf die HIV-Infektion zurückzuführen und weisen auf eine Störung der zellulären Abwehr hin.
Im Mittel 8 bis 10 Jahre nach der Erstinfektion treten dann AIDS-definierende Erkrankungen der Kategorie C auf. Es handelt sich dabei um eine Liste von schwerwiegenden Erkrankungen, zu denen neben dem schon erwähnten Kaposi-Syndrom (KS) und der Pneumocystis-Pneumonie (PCP) weitere schwere Infektionen durch Pilze, Viren und Bakterien und verschiedene Krebserkrankungen gehören (17).
Diese führen in unterschiedlich langer Zeit ohne antiretroviale Therapie schließlich zum Tode. Zwischen den ersten AIDS-Komplikationen und dem Tod vergingen in der Ära vor der antiretroviralen Therapie 2 bis 4 Jahre. Ohne Therapie versterben vermutlich mehr als 90 Prozent aller HIV-Patienten an AIDS. Mit der antiretroviralen Therapie lässt sich heute jedoch ein Voranschreiten der Erkrankung bis hin zum Stadium AIDS aufhalten beziehungsweise verhindern.
Die Abbildung 1 zeigt weiter, dass das Fortschreiten der HIV-Erkrankung sich in zwei gegenläufigen Parametern spiegelt, die heute regelmäßig im Blut bestimmt werden können, der HI-Viruslast (Anzahl der Viruspartikel) und der Anzahl der CD4-positiven T-Helferzellen (Zellen der Immunabwehr).
Kurz nach der Primärinfektion kann die Viruslast einen extrem hohen Wert erreichen, den man als initialen Setpoint bezeichnet. Zugleich mit dem Auftreten von Antikörpern sinkt dieser wieder stark ab und bleibt dann relativ lange stabil. Die Höhe des viralen Setpoints bestimmt die Geschwindigkeit des Krankheitsprozesses und Schnelligkeit und Ausmaß des Abfalls der Helferzellen. Diese betragen anfangs um 1000 Zellen pro Mikroliter Blut und können dann im weiteren Krankheitsprozess langsam bis auf sehr niedrige Werte bis nahe Null absinken. Dieser starke Abfall der Helferzellzahl ist ein spezifisches Kennzeichen für die zunehmende Zerstörung der zellulären Immunität und die Voraussetzung für das Auftreten von AIDS-definierenden Erkrankungen.
Die antiretrovirale Therapie- Fehlschläge und Erfolge
Wohl kaum ein Gebiet der Medizin hat in den letzten Jahrzehnten eine ähnlich stürmische Entwicklung genommen wie die antiretrovirale Therapie (18). Nach der Ohnmacht der Anfangszeit und nach vorsichtigen Hoffnungen mit Monotherapien wie zum Beispiel mit AZT (Azidothymidin) und weiteren Nukleosid-Analoga (DDC, DDI und D4T) stürzte spätestens die Concorde-Studie 1994 Patienten und Behandler in eine mehrjährige Resignation. Zwei Studien, die DELTA-Studie aus Europa und die ACTG 175 aus den USA, in denen gezeigt werden konnte, dass die Kombination von zwei Nucleosidanaloga bei der Verhinderung der Virus-Vermehrung wirksamer war als die Einzelsubstanzen, ließen 1996 jedoch aufhorchen.
Der erste therapeutische Durchbruch erfolgte noch im selben Jahr, als eine neue Wirkstoffklasse, die Proteinase-Inhibitoren, in die Therapie eingeführt wurden. Bei der Welt-AIDS-Konferenz 1996 in Vancouver trat das volle Potential der neuen Kombinationstherapie zutage. Es wurden Studien vorgestellt, die zeigten, dass unter Einbeziehung von Präparaten der neuen Wirkstoffklasse die Todes- und AIDS-Raten deutlich gesenkt werden konnten. Diese wurden als sensationell im Vergleich zu allem, was vorher veröffentlicht worden war, empfunden (18).
Anfang 1997 titelte der Spiegel „Sieg über die Seuche?“. Mit dem neuen nicht-nukleosidalen Reverse-Transkriptase-Inhibitor (NNRTI) Nevirapin war eine dritte Wirkstoffklasse eingeführt worden. Man hatte jetzt eine Auswahl bei der Kombinationstherapie, die zunächst von den meisten Patienten gut vertragen wurde, auch wenn die Tablettenanzahl häufig sehr hoch war und 20 Tabletten am Tag und mehr erreichen konnte. Aber es half und die AIDS-Zahlen brachen innerhalb von nur vier Jahren, von 1994 bis 1998, um mehr als das Zehnfache ein, von 30,7 auf 2,5 pro 100 Patientenjahre, wie die europäische SIDA-Studie eindrucksvoll zeigte (18, 19).
Aber dann kam ein Rückschlag, weil sich die alte Mediziner-Weisheit bewahrheitete: Kein Medikament, das wirkt, bleibt ohne Nebenwirkungen. Eine so genannte „Lipodystrophie“ mit Auftreten von unangenehmen Nebenwirkungen wie Büffelnacken, Storchenbeinen, schmalen Gesichtern und einem dicken Bauch mit der Neigung, einen Diabetes zu entwickeln, trat immer häufiger in Erscheinung und wurde vor allem auf die Proteinase-Inhibitoren zurückgeführt.
Zum Glück haben sich die Zeiten dann jedoch wieder geändert. Moderne Therapien sind in den letzten Jahren mit neuen Präparaten und mit einer optimierten Pharmakokinetik viel besser verträglich geworden. So sind auch Single-Tablet-Regimes auf dem Vormarsch und Dreimonats-Spritzen in Sichtweite (18).
Mittlerweile ist Realität geworden, was noch vor wenigen Jahren utopisch schien: eine normale Lebenserwartung trotz HIV-Infektion. Das bedeutet aber auch, dass die Patienten über viele Jahrzehnte mit Medikamenten behandelt werden müssen, was eine enorme Herausforderung an die Langzeitverträglichkeit der Therapie bedeutet (18).
Und wie sieht es mit der Heilung der HIV-Infektion aus? Bis heute bedeutet eine effektive antiretrovirale Therapie nur „bedingte“ Gesundheit, da die Wirkung der Behandlung nur so lange anhält, wie die Medikation weitergeführt wird. Noch immer können wir das latente Reservoir an HI-Viren in den Geweben des Körpers, mit dem das trickreiche HI-Virus überlebt, nicht richtig messen, geschweige denn leeren oder „auswaschen“ (18). Ob das eines Tages möglich sein wird, ist heute nicht abzusehen.
Peter Duesberg über AIDS
Trotz der geschilderten wissenschaftlichen Fakten gibt es die so genannten „AIDS-Dissidenten“, die die Behauptungen vertreten, dass die HIV-Infektion nicht die Ursache von AIDS sei und es keine effektive medikamentöse Behandlung dieser Erkrankung gebe. Einer der wenigen Wissenschaftler von Rang, auf den sich diese Gruppe berufen kann, ist der 1936 in Deutschland geborene US-Amerikaner Peter Duesberg (20). Dieser war seit 1964 an der kalifornischen Universität Berkeley als Professor für Molekulare und Zellbiologie tätig.
Wie Kalichman schreibt, gründet sich Duesberg`s frühes wissenschaftliches Renommee auf die Erforschung der genetischen Basis von Krebs. Als einem der ersten gelang ihm in den 1970er Jahren die Isolierung von Onkogenen, das heißt krebserzeugenden Genen, und von Retroviren, die mit Krebs in Beziehung stehen und Onkogene in die Zellen einschleusen können. Als Anerkennung für diese Forschungen wurde er 1986 in die Nationale Akademie der Wissenschaften der USA berufen (20).
Mitte der 1980er Jahre vollzog er jedoch eine radikale Kehrtwende in seinen wissenschaftlichen Ansichten über die Bedeutung der Retroviren und erklärte, dass diese harmlos seien und keinen Krebs oder andere Krankheiten erzeugen könnten.
Als Robert Gallo, ein ebenfalls renommierter Virologe, der über Retroviren forschte, 1983 fast zeitgleich mit der französischen Arbeitsgruppe um den Virusforscher Luc Montagnier den Erreger von AIDS entdeckte, der später als HIV-1 bezeichnet wurde, kam es zwischen Gallo und Duesberg zu jahrelangen wissenschaftlichen und persönlichen Auseinandersetzungen (20).
Dabei vertrat Duesberg die folgende Hypothese über die Entstehung von AIDS: HIV ist ein harmloses Virus; die Schädigung des Immunsystem, die letztlich zu AIDS führt, kommt durch verschiedene Einwirkungen zustande, zum Beispiel bei homosexuellen Männern durch Missbrauch von Drogen wie Poppers, bei Nicht-Drogennutzern durch den Gebrauch von antiretroviralen Medikamenten wie AZT, bei Hämophilen durch die Transfusion von eiweißhaltigen Blutprodukten und bei armen Afrikanern durch Unterernährung, verschmutztes Wasser und weitere Umwelttoxine, während bei reichen Afrikanern wiederum der Gebrauch von antiretroviralen Medikamenten dafür ursächlich angeschuldigt wurde (20).
Diese Hypothesen wurden von Duesberg in einer Reihe von Veröffentlichungen verbreitet, ohne dass für diese Thesen je überzeugende wissenschaftliche Belege angeführt wurden. Die große Anzahl von wissenschaftlichen Befunden über das HI-Virus, die HIV-Erkrankung und deren Therapie, die oben dargestellt worden sind, wurden und werden bis heute von den AIDS-Dissidenten nicht zur Kenntnis genommen.
So konnte zum wiederholten Male nachgewiesen werden, dass Drogen wie Poppers keine Immunschwäche wie bei AIDS hervorrufen, während HIV das mit Sicherheit tut (20, 21). Auch wird nicht zur Kenntnis genommen, dass der Einsatz von antiretroviralen Medikamenten seit 1996 zu einer ausgeprägten Verminderung der AIDS-Todesfälle bei jungen US-Bürgern im Alter von 25 bis 45 Jahren geführt hat und zu einem Rückgang von HIV-infizierten Babys im Staat New York in der Zeit von 1997 bis 2006 auf ein Zehntel der ursprünglichen Anzahl (22).
Armut, AIDS und Afrika
Auf Afrika, und damit ist speziell Subsahara-Afrika gemeint, wo es die meisten HIV-Infizierten und AIDS-Kranken gibt, muss in diesem Zusammenhang gesondert eingegangen werden (siehe auch 1, 2). Kann die Armut in Afrika für die vielen AIDS-Fälle dort verantwortlich sein, wie es die AIDS-Dissidenten meinen?
Unterernährung kann sicher einen schlechten Gesundheitszustand hervorrufen und unterernährte Menschen können auf Grund von Hunger und Flüssigkeitsmangel sterben. Duesberg kann jedoch nicht erklären, warum AIDS in Subsahara-Afrika so schnell angewachsen ist, und das ganz besonders in Südafrika, einem der Länder mit mittleren Einkommen, wo sich der durchschnittliche Lebensstandard in den letzten 20 Jahren deutlich verbessert hat.
Wirtschaftswissenschaftler der Universität Kapstadt konnten zeigen, dass afrikanische Länder in Bezug auf AIDS eine 18-fach größere Krankheitslast zu tragen haben als andere Länder mit vergleichbarer oder noch stärkerer Armut (20, 23). Wenn man in den 10 ärmsten Länder der Welt den Grad der Armut, gemessen am Prozentsatz der Bevölkerung, die von weniger als 2 Dollar Einkommen am Tag leben muss, in Beziehung setzt zu der Anzahl der an AIDS Gestorbenen, dann ergibt sich kein konsistentes Bild. So ist Bangladesh das ärmste Land der Welt und hat trotzdem nur sehr wenige AIDS-Todesfälle. Wenn Armut, Unterernährung und unsauberes Wasser AIDS verursacht, warum hat Laos so wenig AIDS-Fälle und Südafrika so viele?
Dieser inkonsistente Zusammenhang gilt auch für den Vergleich von afrikanischen Ländern unter einander (20). Länder wie Burkina Faso, Gambia und Mali gehören zu den ärmsten Ländern Afrikas und haben die geringsten AIDS-Raten. Wenn an AIDS-erkrankte Arbeitsmigranten aus den Nachbarländern ihren Wohnsitz nach Südafrika verlegen, dann verschwindet ihre AIDS-Erkrankung nicht, weil sie plötzlich sauberes Wasser und mehr Nahrung erhalten.
Die Länder im südlichen Afrika, die am stärksten unter AIDS leiden, haben einen deutlichen Rückgang der durchschnittlichen Lebenserwartung zu verzeichnen (1; eine entsprechende Abbildung ist dort zu finden). So ist die Lebenserwartung in den ersten beiden postkolonialen Lebensjahrzehnten zunächst angestiegen, begann dann aber in den 1980er und 1990er Jahren wieder zu sinken und lag in den ersten beiden Jahrzehnten nach 2000 auf einem niedrigeren Wert als in den 1950er Jahren, dem letzten Jahrzehnt des Kolonialismus. Wenn Duesberg diese Entwicklung bestreitet, wenn er mit dem trotzdem erfolgten positiven Bevölkerungswachstum in diesen Ländern argumentiert, dann lässt sich dieser scheinbare Widerspruch durch die hohe Geburtenrate leicht erklären.
Ein unvoreingenommener Blick auf die Beziehung zwischen Armut und AIDS zeigt, dass es lächerlich ist, wenn behauptet wird, die Armut in Afrika könnte für sich allein diese Erkrankung hervorrufen. Es gibt keinen Beweis für Duesberg`s Behauptung, dass Unterernährung und kontaminiertes Trinkwasser AIDS hervorrufen. Sogar schwerste Formen der Unterernährung rufen keinen Kollaps des Immunsystems hervor, wie das bei AIDS der Fall ist (22). Die entscheidende Ursache für AIDS auch in Subsahara-Afrika ist die HIV-Infektion, die sich dort wahrscheinlich seit Anfang des letzten Jahrhunderts von Zentralafrika ausgehend ausgebreitet hat.
Die Durban-Erklärung
Bei der Welt-AIDS-Konferenz im südafrikanischen Durban im Jahre 2000 kam es zu einem Eklat. Nachdem der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki bei seiner Begrüßungsansprache Sympathien für die Thesen der AIDS-Dissidenten um Peter Duesberg hatte erkennen lassen, erklärten über 5.000 Wissenschaftler und Ärzte aus über 50 Ländern, unter ihnen ein Dutzend Nobelpreisträger, dass HIV eindeutig die Ursache von AIDS sei. Auch Mbekis Vorgänger, Nelson Mandela, stellte sich in seiner Schlussrede unmissverständlich auf die Seite dieser Wissenschaftler. Hier die wesentlichen Aussagen der Durban-Erklärung (24; Übersetzung durch den Autor):
Der Beweis, dass AIDS durch HIV-1 oder HIV-2 verursacht wird, ist klar, erschöpfend und eindeutig und genügt den höchsten Standards der Wissenschaft. Die vorliegenden Daten erfüllen genau die gleichen Kriterien wie jene, die für andere Viruserkrankungen wie Polio, Masern und Windpocken gelten.
Patienten mit AIDS, unabhängig davon, wo sie leben, sind mit HIV infiziert. Wenn sie nicht behandelt werden, entwickeln die meisten Menschen mit einer HIV-Infektion im Laufe von 5 bis 10 Jahren Zeichen von AIDS. Die HIV-Infektion wird nachgewiesen durch Antikörper, Gen-Sequenzen oder die Isolation des Virus.
Personen, die mit HIV-kontaminiertes Blut oder Blutprodukte erhalten, entwickeln AIDS, während diejenigen, die nicht belastetes oder gescreentes Blut erhalten, das nicht tun. Die meisten Kinder, die AIDS entwickeln, sind von Müttern geboren worden, die HIV-infiziert sind. Je höher die Viruslast der Mutter war, desto größer ist das Risiko für die Kinder, sich zu infizieren. Im Labor infiziert HIV einen bestimmten Typ von weißen Blutzellen (die CD4- Lymphozyten), die bei Personen mit AIDS vermindert sind. Medikamente, die die HIV-Vermehrung im Teströhrchen blockieren, verzögern das Fortschreiten von AIDS. Wo sie verfügbar sind, haben sie die Sterblichkeit von AIDS um 80 Prozent vermindert. Affen, die mit geklonter SIV-DNA (Erbmaterial von Immun-Defizient-Viren von Schimpansen) geimpft wurden, werden infiziert und entwickeln AIDS.
HIV erfüllt die Koch-Postulate
Abschließend soll noch kurz auf die HIV-Erkrankung vor dem Hintergrund der Koch-Postulate eingegangen werden (25). Diese wurden von dem Nobelpreisträger Robert Koch und dem Anatomen Friedrich G. Henle Ende des 19. Jahrhundert aufgestellt. Erfüllt ein Erreger alle vier Forderungen, wird er als Krankheitsursache angesehen.
Schlussbetrachtungen
Spätestens seit der Erklärung von Durban im Jahre 2000 ist man sich in der medizinische Wissenschaft weltweit darin einig, dass die entscheidende Ursache für die HIV-Erkrankung und AIDS eine Infektion mit dem HI-Virus ist, die mit einer antiretroviralen Behandlung erfolgreich therapiert werden kann. Die Wenigen, die diese Zusammenhänge ablehnen, bezeichnen sich selbst als AIDS-Dissidenten. Ihre Behauptungen werden von dem Sozialpsychologen und Herausgeber der wissenschaftlichen Zeitschrift „AIDS and Behavior“, Seth Kalichman, in seinem oben angeführten Buch (13) als „AIDS-Leugnung“ eingestuft, da diese sich nicht auf Erkenntnisse der modernen HIV/AIDS-Forschung gründen, sondern auf pseudowissenschaftlichen Behauptungen basieren (26) und offenbar nur durch persönliche psychologische Gegebenheiten bei den AIDS-Dissidenten zu erklären sind (27).
Trotzdem bin ich der Meinung, dass der Begriff „AIDS-Leugnung“ beziehungsweise „AIDS-Leugner“ für Angehörige dieser Gruppe nicht angebracht ist, weil nicht alle die Existenz von AIDS leugnen, sondern die Verursachung von AIDS durch das HI-Virus. Außerdem weckt dieser Begriff diskriminierende Assoziationen, die für eine sachliche Debatte nicht förderlich sind. Deshalb bevorzuge ich in meinen Artikeln den Begriff „AIDS-Dissidenten“ (1, 2). Auf die katastrophalen Folgen der Nicht-Anerkennung der Virusgenese von AIDS, die von 1999 bis 2008 in Südafrika offizielle Staatspolitik war, habe ich in meinen oben genannten schon Artikeln hingewiesen (1, 2). 2008 erschien eine wissenschaftliche Untersuchung, in der geschätzt wurde, dass die Ablehnung von antiretroviralen Medikamenten durch die südafrikanische Regierung zum Tod von 330.000- 343.000 Menschen an AIDS und zu 171.000 vermeidbaren HIV-Infektionen, darunter bei vielen Tausenden Neugeborener und Kleinkinder, geführt hat (28).
HIV-Infektionen und AIDS sind aber, wie Kalichman ausführt, sicher auch ein großes psychologisches Problem, insbesondere für die Betroffenen. Wer mit dieser Diagnose konfrontiert wird, will sie häufig nicht wahrhaben und neigt dazu, sie zu verdrängen. Das ist einer der Gründe, warum die Verleugnung von HIV-Infektionen und AIDS ein solides Fundament auch bei von dieser Erkrankung Betroffenen und ihren Angehörigen hat.
Es erscheint mir daher eher Wunschdenken zu sein, wenn die medizinische Wissenschaft meint, das Problem der AIDS-Leugnung lasse sich durch Ignorieren und Aussitzen überwinden. Deshalb würde ich mir wünschen, dass die AIDS-Dissidenten ernst genommen werden und sich engagierte HIV-Ärzte und Wissenschaftler weltweit in sachlicher und aufklärender Weise mit diesem Phänomen auseinander setzen, wie ich das in meinen vorliegenden Artikeln zu tun versucht habe.
Der Untertitel des Buches von Kalichman lautet: Conspiracy Theories, Pseudoscience und Human Tragedy (13), zu deutsch: Verschwörungstheorien, Pseudowissenschaft und menschliche Tragödie.
Dass es sich, wie Kalichman schreibt, bei den Argumenten derjenigen, die die HIV-Genese von AIDS nicht anerkennen wollen, vielfach um Pseudowissenschaft, auch Scheinwissenschaft genannt, handelt, kann ich gut nachvollziehen (26).
Mit der Charakterisierung der AIDS-Leugnung als einer „Verschwörungstheorie“ habe ich jedoch meine Probleme. Dieser Andersdenkende verunglimpfende wohlfeile politische Kampfbegriff hat ja in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen wieder Hochkonjunktur. Er wurde bekanntlich nach der Ermordung von US-Präsident Kennedy vom amerikanischen Geheimdienst CIA gezielt in die Welt gesetzt, um diejenigen zu verleumden, die Zweifel am offiziellen Narrativ des Warren-Reports, der Einzeltäter-Theorie, äußerten. Mit einer solchen Wortwahl begibt man sich daher auf die Ebene der Schmähkritik und der abwertenden Propaganda. Aber möglicherweise waren Kalichman diese Zusammenhänge nicht bekannt, als er sein wichtiges Buch veröffentlichte.
Auch den Begriff „Tragödie“ im Zusammenhang mit HIV/AIDS in Subsahara-Afrika möchte ich in Frage stellen. Wie ich in meinem oben genannten Artikel (1) näher ausgeführt habe, ist HIV/AIDS in Deutschland eher ein medizinisches Randproblem, während diese Erkrankung in Subsahara-Afrika für die dort lebende Bevölkerung die häufigste Todesursache ist und damit eine Katastrophe bedeutet. Diese ist nicht auf eine „Tragödie“ zurückzuführen, sondern ist zu einem großen Teil von Menschen gemacht. Sie ist eine der verheerendsten Auswirkungen des Kolonialismus und des heutigen globalen neoliberalen Kapitalismus. Zu dieser Katastrophe haben auch die AIDS-Dissidenten und die Politik der AIDS-Leugnung in Südafrika von 1999 bis 2008 wesentlich beigetragen. Denn seit mehr als 20 Jahren gibt es eine effektive Behandlung dieser Seuche in den reichen Ländern und auch für Reiche in armen Ländern, aber viele Arme, vor allem in Subsahara-Afrika, müssen weiter an AIDS sterben.
Literaturangaben und Links:
1. Kolenda KD. HIV-Infektionen und AIDS- ein Vergleich zwischen Subsahara- Afrika und Deutschland. Nachdenkseiten vom 12.12.2017: http://www.nachdenkseiten.de/?p=41544
2. Kolenda KD. „Das Sterben der Armen. HIV-Infektionen und AIDS. Ein Vergleich zwischen Subsahara-Afrika und Deutschland“. Rubikon, 19.11.2017: https://www.rubikon.news/artikel/das-sterben-der-armen
3. https://www.rubikon.news/artikel/das-trugerische-aids-erbe-von-rock-hudson
4. https://peds-ansichten.de/2017/12/hiv-macht-aids-ein-diktum-ohne-beweise-1/
5. https://peds-ansichten.de/2018/01/eine-sensibilisierung/
6. https://peds-ansichten.de/2018/01/hiv-macht-aids-ein-diktum-ohne-beweise-2/
7. Hoffmann C, Rockstroh JK. HIV 2016/2017. Medizin Fokus Verlag, Hamburg 2016 www.hiv.buch.de.
8. Kolenda KD, Hoffmann C. Rehabilitation, sozialmedizinische Beurteilung und Beratung bei HIV-infizierten Patienten. Die Rehabilitation 2006; 45: 102-109
9. Carstensen K, Hoffmann C, Horst A, Kolenda KD. The impact of highly active antiviral therapy on sociomedical assessment in HIV-infected patients undergoing rehabilitation measures: a monocentric study of more than 800 patients. Oral presentation V11, 10. Deutsch-Österreicherischer AIDS- Kongress, Wien, June 1.- 4., 2005. Eur J Med Res 2005, 10 (Suppl II): 28
10. Kolenda KD. HIV und Rehabilitation. In: Hoffmann/Jäger (Hrsg.): HIV/AIDS. Wunschwelt - Heilung. Evidenz für Fortschritt oder Stillstand. Druck: Kessler, Boblingen 2006, S. 269- 270
11. Johnsen K, Kolenda KD. Rehabilitation bei HIV-infizierten Patienten. Schlesw Holst Ärztebl 1/2009; 62: 49-55; zugleich Schattenblick (elektronische Zeitschrift) AIDS/739
12. Hoffmann C, Kolenda KD. HIV-Infektion und AIDS. In: Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung. Springer Verlag Berlin-Heidelberg, 7. Auflage 2011, S. 259- 268
13. Kalichman S. Denying AIDS. Conspiracy Theories, Pseudoscience, and Human Tragedy. Springer Science and Business Media, 2009
14. AIDS-Erbe der Kolonialzeit. Dokumentarfilm von Carl Gierstorfer, 52 min, 2014, https://www.youtube.com/watch?v=Zj-waIPrzTE
15. Hoffmann C, Rockstroh JK. Siehe unter 7., S. 23- 41
16. Hoffmann C, Rockstroh JK. Siehe unter 7., S. 15- 22
17. Hoffmann C, Rockstroh JK. Siehe unter 7., S. 2- 14
18. Hoffmann C, Rockstroh JK. Siehe unter 7., S. 58- 60
19. Mocroft A, et al. AIDS across Europe, 1994- 1998: the EuroSIDA-study. Lancet 2000; 356: 291-296
20. Kalichman S. Siehe unter 13., S. 25- 45
21. Chao C, et al. Recreational drug use and T-lymphocyte subpopulations in HIV-uninfected and infected men. Drug and Alcohol Dependence 2008, doi: 10.1016/j.drugalcdep.2007.11.010
22. Kalichman S. Siehe unter 13., S. 78- 82
23. Kalichman S. Siehe unter 13., S. 76- 78
24. Kalichman S. Siehe unter 13., S. 136-138
25. http://members.tripod.com/hiv_aids/koch.htm
26. Kalichman S. Siehe unter 13., S. 57- 76
27. Kalichman S. Siehe unter 13., S. 1- 25
28. Chigwedere P, et al. Estimating the lost benefits of antiretroviral drug use in South-Africa. Journal of Aquired Immune Deficiency Syndrom 2008; 49 (4): 410- 415
Die erste Fassung dieses Artikels wurde am 6.2.2018 in den NachDenkSeiten veröffentlicht.
Klaus-Dieter Kolenda, Jahrgang 1941, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin und Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik und ist seit über 40 Jahren als medizinischer Sachverständiger bei den Sozialgerichten in Schleswig-Holstein tätig. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Artikel und eine Reihe von Fach- und Sachbüchern über die Prävention chronischer Krankheiten verfasst. Zuletzt hat er Artikel über sozialmedizinische, sozialpolitische und friedenspolitische Themen in alternativen Online-Medien wie „Maskenfall“, „Nachdenkseiten“, „Rubikon“ und der „Neuen Rheinischen Zeitung“ veröffentlicht. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de
Online-Flyer Nr. 648 vom 21.02.2018
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Kultur und Wissen
Ein Nachtrag aus gegebenem Anlass
Eine kurze Geschichte der HIV-Erkrankung und der antiretroviralen Therapie
Von Klaus-Dieter Kolenda
Eine Infektion mit dem HI-Virus ist die entscheidende Ursache von AIDS und es gibt seit 1996 eine wirksame antiretrovirale Therapie. Diese Tatsachen habe ich in meinen Artikeln „HIV-Infektionen und AIDS - ein Vergleich zwischen Subsahara-Afrika und Deutschland“ ausführlich dargestellt (1, 2). Trotz dieser eindeutigen Sachlage sind in jüngster Zeit auch in verschiedenen linken Magazinen und Blogs Texte veröffentlicht worden, in denen das Gegenteil behauptet wird (3-6). Wenn es dabei nur um gegensätzliche Thesen eines wissenschaftlichen Disputes ginge, könnte man sich beruhigt zurücklehnen und darauf warten, bis neue Erkenntnisse vielleicht eine Klärung der Streitfragen bringen. So ist es aber nicht. Einen derartigen begründeten Disput, den es vielleicht in den 1980er Jahren gegeben haben mag, gibt es unter Ärzten und Wissenschaftlern, die die eindeutigen Forschungsergebnisse der letzten 25 Jahre über HIV und AIDS zur Kenntnis nehmen, schon lange nicht mehr. Behauptungen wie die, dass HIV nicht die Ursache von AIDS sei und es keine effektive lebensverlängernde antiretrovirale Therapie geben würde, sind nicht nur falsch, sondern auch irreführend und unverantwortlich, weil sie die von einer HIV-Erkrankung Betroffenen bei ihren Behandlungsentscheidungen verunsichern oder sogar davon abhalten können, eine für sie lebenserhaltende Therapie zu beginnen.
Und sie können alle präventiven Bemühungen zur Eindämmung von HIV und AIDS in Frage stellen, wie es in der Regierungszeit von Tabor Mbeki, dem Nachfolger von Nelson Mandela in Südafrika, leider der Fall war, wie ich in meinen oben genannten Artikeln dargestellt habe (1, 2). Deshalb möchte ich derartigen Behauptungen in meinem vorliegenden Nachtrag entschieden widersprechen.
Im Folgenden werde ich daher meine bisherigen Ausführungen zum Thema (1, 2) mit einem kurzen Abriss der Geschichte der HIV-Erkrankung und deren Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten ergänzen. Dabei stütze ich mich vor allem auf das Buch „HIV 2016/2017“, das von Christian Hoffmann und Jürgen K. Rockstroh alle 2 Jahre in aktualisierter Form herausgegeben wird (7). An der letzten Ausgabe dieses Buches haben 39 ausgewiesene HIV-Spezialisten aus Deutschland und anderen Ländern mitgeschrieben. Das umfangreiche Werk, das einschließlich von vielen Bildtafeln mehr als 700 Seiten umfasst und Hunderte von aktuellen Literaturzitaten enthält, gilt als ein wichtiges Fachbuch auf diesem Gebiet, ist in mehrere Sprachen übersetzt worden, gut lesbar und kann kostenfrei im Internet angesehen und herunter geladen werden. Mit Christian Hoffmann, einem der Herausgeber, habe ich viele Jahre lang erfolgreich zusammengearbeitet.
Zum anderen stützt sich mein Text auf meine persönlichen ärztlichen Erfahrungen im Umgang mit etwa 1200 Patienten mit einer HIV-Erkrankung in den Jahren 1990 bis 2006 in einer Rehabilitationsklinik (8-12). Darunter befanden sich etwa 500 AIDS-Patienten.
Und schließlich verweise ich bei einigen Argumenten auf das wichtige Buch von Seth Kalichman mit dem Titel „Denying AIDS“ aus dem Jahre 2009, das leider nur in englischer Sprache veröffentlicht wurde (13). Der englische Titel hat wohl eine gewollte doppelte Bedeutung: Einerseits bedeutet er „AIDS leugnen“ und andererseits „Hilfsmittel verweigern“.
Seit der Entdeckung vor 35 Jahren hat das HI-Virus der Wissenschaft zahlreiche Rätsel aufgegeben. Viele davon konnten jedoch in den vergangenen Jahrzehnten gelöst werden. Dazu gehören die Fragen: Woher kam das HI-Virus? Und: Wie konnte es die schlimmste Pandemie unserer Zeit auslösen?
Ein Dokumentarfilm bringt Aufklärung
Wissenschaftler aus Belgien, den USA und dem Kongo haben gute Argumente dafür, dass das HI-Virus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Herzen Afrikas (Kamerun) seinen Ursprung genommen hat. Dort ist HIV beim Übergang des Simian Immunodefiency Virus (SIV) vom Schimpansen auf den Menschen entstanden.
Über mehrere Jahrzehnte konnte sich dann das HI-Virus bei den Menschen in Zentral- und Ostafrika unerkannt ausbreiten, bis die Erstbeschreibung von HIV/AIDS Anfang der 1980er Jahre in den USA erfolgt ist. Die älteste bekannte HIV-positive Probe stammt aus dem Jahre 1959 aus Kinshasa im Kongo (7). Man nimmt an, dass sich während der anschließenden Jahrzehnte die HIV-Erkrankung von Zentralafrika über Ostafrika auf den etablierten Verkehrswegen und von dort weiter ins südliche Afrika ausgebreitet hat.
Das wird in dem sehenswerten Dokumentarfilm „AIDS - Erbe der Kolonialzeit“ von Carl Gierstorfer gezeigt, der 2014 entstanden ist, aus Anlass des Welt-AIDS-Tages am 2. Dezember 2017 auf ARTE ausgestrahlt wurde und über YouTube angesehen werden kann (14).
Es brauchte Jahrzehnte interdisziplinärer Forschung, um dem HI-Virus diese Geheimnisse abzuringen. Virologen, Biologen und Historiker haben die Spuren des HI-Virus bis zu seinen Anfängen zurückverfolgt, die lange vor dem Beginn der 1980er Jahre liegen, als HIV/AIDS in der Homosexuellenszene an der Westküste der USA auftrat und Angst und Schrecken verbreitete.
Mehrere Jahre folgte der Filmemacher Gierstorfer Wissenschaftlern auf ihrer Suche nach dem Ursprung von HIV. In Krankenhäusern und Laboren in der Demokratischen Republik Kongo, dem früheren Belgisch-Kongo, stießen die Forscher auf ein Archiv von Gewebeproben aus der Kolonialzeit. Deren Analyse ergab, dass bereits Anfang der 1960er Jahre eine HIV-Epidemie in Zentralafrika grassierte.
Lange zuvor muss also das Virus vom Schimpansen auf den Menschen übergesprungen sein; ein Vorgang, der aber nicht zwangsläufig eine Pandemie auslösen muss. Haben die Kolonialherren mit ihrer rücksichtslosen Ausbeutung von Mensch und Natur die Ausbreitung des HI-Virus erst ermöglicht? Diese Frage wird in dem Film bejaht und mit erschreckenden Filmdokumenten aus der Kolonialzeit belegt. Dazu gehören in Zentralafrika mit unsterilen Spritzen durchgeführte Impfungen größerer Bevölkerungsgruppen gegen die Schlafkrankheit, wodurch die Ansteckung mit dem HI-Virus möglicherweise massenhaft verbreitet worden ist. Nach Meinung des Autors bereiteten die damaligen Kolonialmächte, vor allem Frankreich und Belgien, von Zentralafrika ausgehend der AIDS-Pandemie den Weg.
Teils wissenschaftliche Reportage in von kolonialer Ausbeutung, Kriegen und Korruption zerrütteten Ländern Afrikas, teils historische Analyse, eröffnet dieser Film von Gierstorfer eine neue Perspektive auf die AIDS-Pandemie. Diese hat bislang wahrscheinlich circa 40 Millionen Menschen das Leben gekostet. Weltweit wird die derzeitige Zahl der mit HIV Infizierten auf 36,9 Millionen geschätzt, davon leben 26,8 Millionen in Subsahara-Afrika. Mehr als die Hälfte davon sind Frauen (1, 2, 7).
Der Dokumentarfilm von Gierstorfer ist aber auch deshalb sehenswert, weil er anschaulich macht, was fast 150 Jahre koloniale und neokoloniale Ausbeutung für die Bevölkerung des Kongo, eines der an der Rohstoffen reichsten Länder der Welt, bis heute bedeutet: Öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser, die in dem Film gezeigt werden, sind nach wie vor in einem äußerst beklagenswerten Zustand, weil der Reichtum außer Landes geschafft oder privatisiert wird, die Eliten korrupt sind und diejenigen, die dagegen aufbegehren, wie zum Beispiel Patrice Lumumba, der erste Premierminister nach der Kolonialzeit, von den Kolonialmächten und ihren ausländischen und einheimischen Helfern ermordet wurden.
Das HI-Virus und die HIV-Erkrankung
Das HI-Virus ist erst seit 1983 bekannt und trotzdem heute wahrscheinlich der Krankheitserreger, über den die medizinische Wissenschaft am besten unterrichtet ist. Das hängt damit zusammen, dass das HI-Virus Anfang der 1980er Jahre als ein besonders für junge Menschen in den Industrieländern tödlicher Krankheitserreger in Erscheinung getreten ist, dessen erfolgreiche Behandlung für die Pharma-Industrie große Gewinne versprach. Trotz der erheblichen Geldmittel, die in die HIV-Forschung flossen, mussten die HIV-Infizierten und AIDS-Kranken aber 13 Jahre lang bis 1996 auf eine effektive Therapie warten. Eine wirksame Impfung gegen HIV gibt es bis heute nicht und ist auch nicht in Sicht.
Unser Wissen über das HI-Virus und die HIV-Erkrankung beruht auf vielen Zehntausenden wissenschaftlicher Arbeiten, die weltweit zu allen Aspekten der HIV-Erkrankung in den letzten Jahrzehnten durchgeführt und veröffentlicht worden sind (1, 2, 7).
HIV ist ein Retrovirus und gehört zur Gruppe der Lentiviren (15). Infektionen mit diesem Virustyp verlaufen chronisch, zeigen eine lange klinische Latenzphase (Zeit von der Infektion bis zum Ausbruch der Krankheit), eine anhaltende Virämie (Vorhandensein von Viren im Blut) und eine Beteiligung des zentralen Nervensystems. HIV-1 wurde 1983 erstmals beschrieben, HIV-2 drei Jahre später.
Beide Viren sehen zwar im elektronischen-mikroskopischen Bild nahezu identisch aus, unterscheiden sich aber zum Beispiel molekulargenetisch und pathophysiologisch deutlich. Da HIV-2 nur in wenigen Regionen Westafrikas vorkommt und weltweit nur circa 1 Prozent aller HIV-Infektionen ausmacht, konzentriert sich die HIV-Forschung auf HIV-1. Das umfangreiche und detaillierte Wissen, über das wir heute zum Beispiel über die Morphologie, das virale Genom (Erbgut des Virus), den Eintritt von HIV in die Zielzelle, die Wirkungen von HIV auf das Immunsystem und speziell auf die CD4-positiven T-Zellen (Helferzellen), verfügen, kann im Buch „HIV 2016/2017“ ausführlich nachgelesen werden (15).
Die rasche und sichere serologische Diagnose (Diagnose aus Blutbefunden) der HIV-Infektion ermöglicht den Patienten den Zugang zur antiretroviralen Therapie und hilft gleichzeitig, Ansteckungen, zum Beispiel von Sexualpartnern und Neugeborenen oder durch Blut und Blutprodukte zu verhindern.
Das Ergebnis von korrekt durchgeführten HIV-Tests ist eindeutig: Die Probanden sind entweder „HIV-positiv“ oder „HIV-negativ“. Trotz der flächendeckenden Testangebote in Deutschland wird die HIV-Infektion oft erst zu einem späten Zeitpunkt diagnostiziert. In einem Drittel der Fälle besteht laut Robert-Koch-Institut zum Zeitpunkt der Erstdiagnose eine fortgeschrittene HIV-Erkrankung mit einem ausgeprägten Immundefekt oder AIDS (16).
Neben den serologischen Testsystemen stehen auch Verfahren zum Nachweis von HIV-RNA (RNA bedeutet Ribonukleinsäure und bezeichnet einen Bestandteil des Erbmaterials) zu Verfügung. Der quantitative Nachweis von HIV-RNA-Partikeln wird auch „Bestimmung der Viruslast“ genannt und ist heute ein wesentlicher Bestandteil der Überwachung einer HIV-Infektion (16).
1981 wurde die erworbene Immunschwäche AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrome) erstmals als klinisches Krankheitsbild beschrieben. Die ersten Berichte gingen auf die ungewöhnliche Häufung bis dahin seltener Erkrankungen wie Kaposi-Sarkom (KS) und Pneumocystis Pneumonien (PCP) zurück. Bis zu dieser Zeit war das Auftreten dieser Indikatorkrankheiten für einen schweren Immundefekt (Schwäche der Immunabwehr) noch nie bei gesunden jungen Menschen beobachtet worden.
Zunächst wurde die Ursache in spezifischen risikoträchtigen Lebensstilen vermutet, wie sie zum Beispiel in der Gay-Community verbreitet sind. Schließlich konnte 1983 das Humane Immunschwäche-Virus (HIV) als wahrscheinliche Ursache von AIDS identifiziert werden. Im Jahre 2008 erhielt die Forschergruppe um Luc Montagnier für diese Arbeiten den Nobelpreis.
Der natürliche Verlauf der HIV-Infektion
Abb. 1: Der natürliche Verlauf der HIV-Infektion ohne antiretrovirale Therapie.
CD4-Zellen: Helferzellen, HIV-RNA: Viruslast (aus 7., S. 7)
In Abbildung 1 ist der natürliche Verlauf der HIV-Infektion (ohne antiretrovirale Therapie) dargestellt (17). Kurze Zeit nach der Erstinfektion wird bei einigen Patienten ein akutes retrovirales Syndrom beobachtet, das mit Lymphknotenschwellungen, Fieber, Muskelschmerzen und einem vorübergehenden fleckförmigem Hautausschlag einhergehen und 2 bis 4 Wochen anhalten kann. Anschließend erfolgt eine Periode von mehreren Jahren, in denen die meisten Patienten klinisch unauffällig sind.
Danach können Beschwerden und Erkrankungen auftreten, die nach der CDC-Klassifikation der klinischen Kategorie B zugeordnet werden. Dazu gehören Soor-(Pilz)-Infektionen der Mundschleimhaut und Herpes Zoster-Infektionen. Diese Erkrankungen sind zwar nicht AIDS-definierend, aber ursächlich auf die HIV-Infektion zurückzuführen und weisen auf eine Störung der zellulären Abwehr hin.
Im Mittel 8 bis 10 Jahre nach der Erstinfektion treten dann AIDS-definierende Erkrankungen der Kategorie C auf. Es handelt sich dabei um eine Liste von schwerwiegenden Erkrankungen, zu denen neben dem schon erwähnten Kaposi-Syndrom (KS) und der Pneumocystis-Pneumonie (PCP) weitere schwere Infektionen durch Pilze, Viren und Bakterien und verschiedene Krebserkrankungen gehören (17).
Diese führen in unterschiedlich langer Zeit ohne antiretroviale Therapie schließlich zum Tode. Zwischen den ersten AIDS-Komplikationen und dem Tod vergingen in der Ära vor der antiretroviralen Therapie 2 bis 4 Jahre. Ohne Therapie versterben vermutlich mehr als 90 Prozent aller HIV-Patienten an AIDS. Mit der antiretroviralen Therapie lässt sich heute jedoch ein Voranschreiten der Erkrankung bis hin zum Stadium AIDS aufhalten beziehungsweise verhindern.
Die Abbildung 1 zeigt weiter, dass das Fortschreiten der HIV-Erkrankung sich in zwei gegenläufigen Parametern spiegelt, die heute regelmäßig im Blut bestimmt werden können, der HI-Viruslast (Anzahl der Viruspartikel) und der Anzahl der CD4-positiven T-Helferzellen (Zellen der Immunabwehr).
Kurz nach der Primärinfektion kann die Viruslast einen extrem hohen Wert erreichen, den man als initialen Setpoint bezeichnet. Zugleich mit dem Auftreten von Antikörpern sinkt dieser wieder stark ab und bleibt dann relativ lange stabil. Die Höhe des viralen Setpoints bestimmt die Geschwindigkeit des Krankheitsprozesses und Schnelligkeit und Ausmaß des Abfalls der Helferzellen. Diese betragen anfangs um 1000 Zellen pro Mikroliter Blut und können dann im weiteren Krankheitsprozess langsam bis auf sehr niedrige Werte bis nahe Null absinken. Dieser starke Abfall der Helferzellzahl ist ein spezifisches Kennzeichen für die zunehmende Zerstörung der zellulären Immunität und die Voraussetzung für das Auftreten von AIDS-definierenden Erkrankungen.
Die antiretrovirale Therapie- Fehlschläge und Erfolge
Wohl kaum ein Gebiet der Medizin hat in den letzten Jahrzehnten eine ähnlich stürmische Entwicklung genommen wie die antiretrovirale Therapie (18). Nach der Ohnmacht der Anfangszeit und nach vorsichtigen Hoffnungen mit Monotherapien wie zum Beispiel mit AZT (Azidothymidin) und weiteren Nukleosid-Analoga (DDC, DDI und D4T) stürzte spätestens die Concorde-Studie 1994 Patienten und Behandler in eine mehrjährige Resignation. Zwei Studien, die DELTA-Studie aus Europa und die ACTG 175 aus den USA, in denen gezeigt werden konnte, dass die Kombination von zwei Nucleosidanaloga bei der Verhinderung der Virus-Vermehrung wirksamer war als die Einzelsubstanzen, ließen 1996 jedoch aufhorchen.
Der erste therapeutische Durchbruch erfolgte noch im selben Jahr, als eine neue Wirkstoffklasse, die Proteinase-Inhibitoren, in die Therapie eingeführt wurden. Bei der Welt-AIDS-Konferenz 1996 in Vancouver trat das volle Potential der neuen Kombinationstherapie zutage. Es wurden Studien vorgestellt, die zeigten, dass unter Einbeziehung von Präparaten der neuen Wirkstoffklasse die Todes- und AIDS-Raten deutlich gesenkt werden konnten. Diese wurden als sensationell im Vergleich zu allem, was vorher veröffentlicht worden war, empfunden (18).
Anfang 1997 titelte der Spiegel „Sieg über die Seuche?“. Mit dem neuen nicht-nukleosidalen Reverse-Transkriptase-Inhibitor (NNRTI) Nevirapin war eine dritte Wirkstoffklasse eingeführt worden. Man hatte jetzt eine Auswahl bei der Kombinationstherapie, die zunächst von den meisten Patienten gut vertragen wurde, auch wenn die Tablettenanzahl häufig sehr hoch war und 20 Tabletten am Tag und mehr erreichen konnte. Aber es half und die AIDS-Zahlen brachen innerhalb von nur vier Jahren, von 1994 bis 1998, um mehr als das Zehnfache ein, von 30,7 auf 2,5 pro 100 Patientenjahre, wie die europäische SIDA-Studie eindrucksvoll zeigte (18, 19).
Aber dann kam ein Rückschlag, weil sich die alte Mediziner-Weisheit bewahrheitete: Kein Medikament, das wirkt, bleibt ohne Nebenwirkungen. Eine so genannte „Lipodystrophie“ mit Auftreten von unangenehmen Nebenwirkungen wie Büffelnacken, Storchenbeinen, schmalen Gesichtern und einem dicken Bauch mit der Neigung, einen Diabetes zu entwickeln, trat immer häufiger in Erscheinung und wurde vor allem auf die Proteinase-Inhibitoren zurückgeführt.
Zum Glück haben sich die Zeiten dann jedoch wieder geändert. Moderne Therapien sind in den letzten Jahren mit neuen Präparaten und mit einer optimierten Pharmakokinetik viel besser verträglich geworden. So sind auch Single-Tablet-Regimes auf dem Vormarsch und Dreimonats-Spritzen in Sichtweite (18).
Mittlerweile ist Realität geworden, was noch vor wenigen Jahren utopisch schien: eine normale Lebenserwartung trotz HIV-Infektion. Das bedeutet aber auch, dass die Patienten über viele Jahrzehnte mit Medikamenten behandelt werden müssen, was eine enorme Herausforderung an die Langzeitverträglichkeit der Therapie bedeutet (18).
Und wie sieht es mit der Heilung der HIV-Infektion aus? Bis heute bedeutet eine effektive antiretrovirale Therapie nur „bedingte“ Gesundheit, da die Wirkung der Behandlung nur so lange anhält, wie die Medikation weitergeführt wird. Noch immer können wir das latente Reservoir an HI-Viren in den Geweben des Körpers, mit dem das trickreiche HI-Virus überlebt, nicht richtig messen, geschweige denn leeren oder „auswaschen“ (18). Ob das eines Tages möglich sein wird, ist heute nicht abzusehen.
Peter Duesberg über AIDS
Trotz der geschilderten wissenschaftlichen Fakten gibt es die so genannten „AIDS-Dissidenten“, die die Behauptungen vertreten, dass die HIV-Infektion nicht die Ursache von AIDS sei und es keine effektive medikamentöse Behandlung dieser Erkrankung gebe. Einer der wenigen Wissenschaftler von Rang, auf den sich diese Gruppe berufen kann, ist der 1936 in Deutschland geborene US-Amerikaner Peter Duesberg (20). Dieser war seit 1964 an der kalifornischen Universität Berkeley als Professor für Molekulare und Zellbiologie tätig.
Wie Kalichman schreibt, gründet sich Duesberg`s frühes wissenschaftliches Renommee auf die Erforschung der genetischen Basis von Krebs. Als einem der ersten gelang ihm in den 1970er Jahren die Isolierung von Onkogenen, das heißt krebserzeugenden Genen, und von Retroviren, die mit Krebs in Beziehung stehen und Onkogene in die Zellen einschleusen können. Als Anerkennung für diese Forschungen wurde er 1986 in die Nationale Akademie der Wissenschaften der USA berufen (20).
Mitte der 1980er Jahre vollzog er jedoch eine radikale Kehrtwende in seinen wissenschaftlichen Ansichten über die Bedeutung der Retroviren und erklärte, dass diese harmlos seien und keinen Krebs oder andere Krankheiten erzeugen könnten.
Als Robert Gallo, ein ebenfalls renommierter Virologe, der über Retroviren forschte, 1983 fast zeitgleich mit der französischen Arbeitsgruppe um den Virusforscher Luc Montagnier den Erreger von AIDS entdeckte, der später als HIV-1 bezeichnet wurde, kam es zwischen Gallo und Duesberg zu jahrelangen wissenschaftlichen und persönlichen Auseinandersetzungen (20).
Dabei vertrat Duesberg die folgende Hypothese über die Entstehung von AIDS: HIV ist ein harmloses Virus; die Schädigung des Immunsystem, die letztlich zu AIDS führt, kommt durch verschiedene Einwirkungen zustande, zum Beispiel bei homosexuellen Männern durch Missbrauch von Drogen wie Poppers, bei Nicht-Drogennutzern durch den Gebrauch von antiretroviralen Medikamenten wie AZT, bei Hämophilen durch die Transfusion von eiweißhaltigen Blutprodukten und bei armen Afrikanern durch Unterernährung, verschmutztes Wasser und weitere Umwelttoxine, während bei reichen Afrikanern wiederum der Gebrauch von antiretroviralen Medikamenten dafür ursächlich angeschuldigt wurde (20).
Diese Hypothesen wurden von Duesberg in einer Reihe von Veröffentlichungen verbreitet, ohne dass für diese Thesen je überzeugende wissenschaftliche Belege angeführt wurden. Die große Anzahl von wissenschaftlichen Befunden über das HI-Virus, die HIV-Erkrankung und deren Therapie, die oben dargestellt worden sind, wurden und werden bis heute von den AIDS-Dissidenten nicht zur Kenntnis genommen.
So konnte zum wiederholten Male nachgewiesen werden, dass Drogen wie Poppers keine Immunschwäche wie bei AIDS hervorrufen, während HIV das mit Sicherheit tut (20, 21). Auch wird nicht zur Kenntnis genommen, dass der Einsatz von antiretroviralen Medikamenten seit 1996 zu einer ausgeprägten Verminderung der AIDS-Todesfälle bei jungen US-Bürgern im Alter von 25 bis 45 Jahren geführt hat und zu einem Rückgang von HIV-infizierten Babys im Staat New York in der Zeit von 1997 bis 2006 auf ein Zehntel der ursprünglichen Anzahl (22).
Armut, AIDS und Afrika
Auf Afrika, und damit ist speziell Subsahara-Afrika gemeint, wo es die meisten HIV-Infizierten und AIDS-Kranken gibt, muss in diesem Zusammenhang gesondert eingegangen werden (siehe auch 1, 2). Kann die Armut in Afrika für die vielen AIDS-Fälle dort verantwortlich sein, wie es die AIDS-Dissidenten meinen?
Unterernährung kann sicher einen schlechten Gesundheitszustand hervorrufen und unterernährte Menschen können auf Grund von Hunger und Flüssigkeitsmangel sterben. Duesberg kann jedoch nicht erklären, warum AIDS in Subsahara-Afrika so schnell angewachsen ist, und das ganz besonders in Südafrika, einem der Länder mit mittleren Einkommen, wo sich der durchschnittliche Lebensstandard in den letzten 20 Jahren deutlich verbessert hat.
Wirtschaftswissenschaftler der Universität Kapstadt konnten zeigen, dass afrikanische Länder in Bezug auf AIDS eine 18-fach größere Krankheitslast zu tragen haben als andere Länder mit vergleichbarer oder noch stärkerer Armut (20, 23). Wenn man in den 10 ärmsten Länder der Welt den Grad der Armut, gemessen am Prozentsatz der Bevölkerung, die von weniger als 2 Dollar Einkommen am Tag leben muss, in Beziehung setzt zu der Anzahl der an AIDS Gestorbenen, dann ergibt sich kein konsistentes Bild. So ist Bangladesh das ärmste Land der Welt und hat trotzdem nur sehr wenige AIDS-Todesfälle. Wenn Armut, Unterernährung und unsauberes Wasser AIDS verursacht, warum hat Laos so wenig AIDS-Fälle und Südafrika so viele?
Dieser inkonsistente Zusammenhang gilt auch für den Vergleich von afrikanischen Ländern unter einander (20). Länder wie Burkina Faso, Gambia und Mali gehören zu den ärmsten Ländern Afrikas und haben die geringsten AIDS-Raten. Wenn an AIDS-erkrankte Arbeitsmigranten aus den Nachbarländern ihren Wohnsitz nach Südafrika verlegen, dann verschwindet ihre AIDS-Erkrankung nicht, weil sie plötzlich sauberes Wasser und mehr Nahrung erhalten.
Die Länder im südlichen Afrika, die am stärksten unter AIDS leiden, haben einen deutlichen Rückgang der durchschnittlichen Lebenserwartung zu verzeichnen (1; eine entsprechende Abbildung ist dort zu finden). So ist die Lebenserwartung in den ersten beiden postkolonialen Lebensjahrzehnten zunächst angestiegen, begann dann aber in den 1980er und 1990er Jahren wieder zu sinken und lag in den ersten beiden Jahrzehnten nach 2000 auf einem niedrigeren Wert als in den 1950er Jahren, dem letzten Jahrzehnt des Kolonialismus. Wenn Duesberg diese Entwicklung bestreitet, wenn er mit dem trotzdem erfolgten positiven Bevölkerungswachstum in diesen Ländern argumentiert, dann lässt sich dieser scheinbare Widerspruch durch die hohe Geburtenrate leicht erklären.
Ein unvoreingenommener Blick auf die Beziehung zwischen Armut und AIDS zeigt, dass es lächerlich ist, wenn behauptet wird, die Armut in Afrika könnte für sich allein diese Erkrankung hervorrufen. Es gibt keinen Beweis für Duesberg`s Behauptung, dass Unterernährung und kontaminiertes Trinkwasser AIDS hervorrufen. Sogar schwerste Formen der Unterernährung rufen keinen Kollaps des Immunsystems hervor, wie das bei AIDS der Fall ist (22). Die entscheidende Ursache für AIDS auch in Subsahara-Afrika ist die HIV-Infektion, die sich dort wahrscheinlich seit Anfang des letzten Jahrhunderts von Zentralafrika ausgehend ausgebreitet hat.
Die Durban-Erklärung
Bei der Welt-AIDS-Konferenz im südafrikanischen Durban im Jahre 2000 kam es zu einem Eklat. Nachdem der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki bei seiner Begrüßungsansprache Sympathien für die Thesen der AIDS-Dissidenten um Peter Duesberg hatte erkennen lassen, erklärten über 5.000 Wissenschaftler und Ärzte aus über 50 Ländern, unter ihnen ein Dutzend Nobelpreisträger, dass HIV eindeutig die Ursache von AIDS sei. Auch Mbekis Vorgänger, Nelson Mandela, stellte sich in seiner Schlussrede unmissverständlich auf die Seite dieser Wissenschaftler. Hier die wesentlichen Aussagen der Durban-Erklärung (24; Übersetzung durch den Autor):
Der Beweis, dass AIDS durch HIV-1 oder HIV-2 verursacht wird, ist klar, erschöpfend und eindeutig und genügt den höchsten Standards der Wissenschaft. Die vorliegenden Daten erfüllen genau die gleichen Kriterien wie jene, die für andere Viruserkrankungen wie Polio, Masern und Windpocken gelten.
Patienten mit AIDS, unabhängig davon, wo sie leben, sind mit HIV infiziert. Wenn sie nicht behandelt werden, entwickeln die meisten Menschen mit einer HIV-Infektion im Laufe von 5 bis 10 Jahren Zeichen von AIDS. Die HIV-Infektion wird nachgewiesen durch Antikörper, Gen-Sequenzen oder die Isolation des Virus.
Personen, die mit HIV-kontaminiertes Blut oder Blutprodukte erhalten, entwickeln AIDS, während diejenigen, die nicht belastetes oder gescreentes Blut erhalten, das nicht tun. Die meisten Kinder, die AIDS entwickeln, sind von Müttern geboren worden, die HIV-infiziert sind. Je höher die Viruslast der Mutter war, desto größer ist das Risiko für die Kinder, sich zu infizieren. Im Labor infiziert HIV einen bestimmten Typ von weißen Blutzellen (die CD4- Lymphozyten), die bei Personen mit AIDS vermindert sind. Medikamente, die die HIV-Vermehrung im Teströhrchen blockieren, verzögern das Fortschreiten von AIDS. Wo sie verfügbar sind, haben sie die Sterblichkeit von AIDS um 80 Prozent vermindert. Affen, die mit geklonter SIV-DNA (Erbmaterial von Immun-Defizient-Viren von Schimpansen) geimpft wurden, werden infiziert und entwickeln AIDS.
HIV erfüllt die Koch-Postulate
Abschließend soll noch kurz auf die HIV-Erkrankung vor dem Hintergrund der Koch-Postulate eingegangen werden (25). Diese wurden von dem Nobelpreisträger Robert Koch und dem Anatomen Friedrich G. Henle Ende des 19. Jahrhundert aufgestellt. Erfüllt ein Erreger alle vier Forderungen, wird er als Krankheitsursache angesehen.
- Der Erreger muss in allen Krankheitsfällen nachweisbar sein.
- Der Erreger muss sich aus dem erkrankten Organismus isolieren und in Reinkultur züchten lassen.
- Dieser isolierte und in Reinkultur gezüchtete Erreger muss das gleiche Krankheitsbild erzeugen (Tierversuch).
- Dieser isolierte und in Reinkultur gezüchtete Erreger muss bei den durch ihn infizierten Organismen nachweisbar sein (Tierversuch).
Schlussbetrachtungen
Spätestens seit der Erklärung von Durban im Jahre 2000 ist man sich in der medizinische Wissenschaft weltweit darin einig, dass die entscheidende Ursache für die HIV-Erkrankung und AIDS eine Infektion mit dem HI-Virus ist, die mit einer antiretroviralen Behandlung erfolgreich therapiert werden kann. Die Wenigen, die diese Zusammenhänge ablehnen, bezeichnen sich selbst als AIDS-Dissidenten. Ihre Behauptungen werden von dem Sozialpsychologen und Herausgeber der wissenschaftlichen Zeitschrift „AIDS and Behavior“, Seth Kalichman, in seinem oben angeführten Buch (13) als „AIDS-Leugnung“ eingestuft, da diese sich nicht auf Erkenntnisse der modernen HIV/AIDS-Forschung gründen, sondern auf pseudowissenschaftlichen Behauptungen basieren (26) und offenbar nur durch persönliche psychologische Gegebenheiten bei den AIDS-Dissidenten zu erklären sind (27).
Trotzdem bin ich der Meinung, dass der Begriff „AIDS-Leugnung“ beziehungsweise „AIDS-Leugner“ für Angehörige dieser Gruppe nicht angebracht ist, weil nicht alle die Existenz von AIDS leugnen, sondern die Verursachung von AIDS durch das HI-Virus. Außerdem weckt dieser Begriff diskriminierende Assoziationen, die für eine sachliche Debatte nicht förderlich sind. Deshalb bevorzuge ich in meinen Artikeln den Begriff „AIDS-Dissidenten“ (1, 2). Auf die katastrophalen Folgen der Nicht-Anerkennung der Virusgenese von AIDS, die von 1999 bis 2008 in Südafrika offizielle Staatspolitik war, habe ich in meinen oben genannten schon Artikeln hingewiesen (1, 2). 2008 erschien eine wissenschaftliche Untersuchung, in der geschätzt wurde, dass die Ablehnung von antiretroviralen Medikamenten durch die südafrikanische Regierung zum Tod von 330.000- 343.000 Menschen an AIDS und zu 171.000 vermeidbaren HIV-Infektionen, darunter bei vielen Tausenden Neugeborener und Kleinkinder, geführt hat (28).
HIV-Infektionen und AIDS sind aber, wie Kalichman ausführt, sicher auch ein großes psychologisches Problem, insbesondere für die Betroffenen. Wer mit dieser Diagnose konfrontiert wird, will sie häufig nicht wahrhaben und neigt dazu, sie zu verdrängen. Das ist einer der Gründe, warum die Verleugnung von HIV-Infektionen und AIDS ein solides Fundament auch bei von dieser Erkrankung Betroffenen und ihren Angehörigen hat.
Es erscheint mir daher eher Wunschdenken zu sein, wenn die medizinische Wissenschaft meint, das Problem der AIDS-Leugnung lasse sich durch Ignorieren und Aussitzen überwinden. Deshalb würde ich mir wünschen, dass die AIDS-Dissidenten ernst genommen werden und sich engagierte HIV-Ärzte und Wissenschaftler weltweit in sachlicher und aufklärender Weise mit diesem Phänomen auseinander setzen, wie ich das in meinen vorliegenden Artikeln zu tun versucht habe.
Der Untertitel des Buches von Kalichman lautet: Conspiracy Theories, Pseudoscience und Human Tragedy (13), zu deutsch: Verschwörungstheorien, Pseudowissenschaft und menschliche Tragödie.
Dass es sich, wie Kalichman schreibt, bei den Argumenten derjenigen, die die HIV-Genese von AIDS nicht anerkennen wollen, vielfach um Pseudowissenschaft, auch Scheinwissenschaft genannt, handelt, kann ich gut nachvollziehen (26).
Mit der Charakterisierung der AIDS-Leugnung als einer „Verschwörungstheorie“ habe ich jedoch meine Probleme. Dieser Andersdenkende verunglimpfende wohlfeile politische Kampfbegriff hat ja in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen wieder Hochkonjunktur. Er wurde bekanntlich nach der Ermordung von US-Präsident Kennedy vom amerikanischen Geheimdienst CIA gezielt in die Welt gesetzt, um diejenigen zu verleumden, die Zweifel am offiziellen Narrativ des Warren-Reports, der Einzeltäter-Theorie, äußerten. Mit einer solchen Wortwahl begibt man sich daher auf die Ebene der Schmähkritik und der abwertenden Propaganda. Aber möglicherweise waren Kalichman diese Zusammenhänge nicht bekannt, als er sein wichtiges Buch veröffentlichte.
Auch den Begriff „Tragödie“ im Zusammenhang mit HIV/AIDS in Subsahara-Afrika möchte ich in Frage stellen. Wie ich in meinem oben genannten Artikel (1) näher ausgeführt habe, ist HIV/AIDS in Deutschland eher ein medizinisches Randproblem, während diese Erkrankung in Subsahara-Afrika für die dort lebende Bevölkerung die häufigste Todesursache ist und damit eine Katastrophe bedeutet. Diese ist nicht auf eine „Tragödie“ zurückzuführen, sondern ist zu einem großen Teil von Menschen gemacht. Sie ist eine der verheerendsten Auswirkungen des Kolonialismus und des heutigen globalen neoliberalen Kapitalismus. Zu dieser Katastrophe haben auch die AIDS-Dissidenten und die Politik der AIDS-Leugnung in Südafrika von 1999 bis 2008 wesentlich beigetragen. Denn seit mehr als 20 Jahren gibt es eine effektive Behandlung dieser Seuche in den reichen Ländern und auch für Reiche in armen Ländern, aber viele Arme, vor allem in Subsahara-Afrika, müssen weiter an AIDS sterben.
Literaturangaben und Links:
1. Kolenda KD. HIV-Infektionen und AIDS- ein Vergleich zwischen Subsahara- Afrika und Deutschland. Nachdenkseiten vom 12.12.2017: http://www.nachdenkseiten.de/?p=41544
2. Kolenda KD. „Das Sterben der Armen. HIV-Infektionen und AIDS. Ein Vergleich zwischen Subsahara-Afrika und Deutschland“. Rubikon, 19.11.2017: https://www.rubikon.news/artikel/das-sterben-der-armen
3. https://www.rubikon.news/artikel/das-trugerische-aids-erbe-von-rock-hudson
4. https://peds-ansichten.de/2017/12/hiv-macht-aids-ein-diktum-ohne-beweise-1/
5. https://peds-ansichten.de/2018/01/eine-sensibilisierung/
6. https://peds-ansichten.de/2018/01/hiv-macht-aids-ein-diktum-ohne-beweise-2/
7. Hoffmann C, Rockstroh JK. HIV 2016/2017. Medizin Fokus Verlag, Hamburg 2016 www.hiv.buch.de.
8. Kolenda KD, Hoffmann C. Rehabilitation, sozialmedizinische Beurteilung und Beratung bei HIV-infizierten Patienten. Die Rehabilitation 2006; 45: 102-109
9. Carstensen K, Hoffmann C, Horst A, Kolenda KD. The impact of highly active antiviral therapy on sociomedical assessment in HIV-infected patients undergoing rehabilitation measures: a monocentric study of more than 800 patients. Oral presentation V11, 10. Deutsch-Österreicherischer AIDS- Kongress, Wien, June 1.- 4., 2005. Eur J Med Res 2005, 10 (Suppl II): 28
10. Kolenda KD. HIV und Rehabilitation. In: Hoffmann/Jäger (Hrsg.): HIV/AIDS. Wunschwelt - Heilung. Evidenz für Fortschritt oder Stillstand. Druck: Kessler, Boblingen 2006, S. 269- 270
11. Johnsen K, Kolenda KD. Rehabilitation bei HIV-infizierten Patienten. Schlesw Holst Ärztebl 1/2009; 62: 49-55; zugleich Schattenblick (elektronische Zeitschrift) AIDS/739
12. Hoffmann C, Kolenda KD. HIV-Infektion und AIDS. In: Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung. Springer Verlag Berlin-Heidelberg, 7. Auflage 2011, S. 259- 268
13. Kalichman S. Denying AIDS. Conspiracy Theories, Pseudoscience, and Human Tragedy. Springer Science and Business Media, 2009
14. AIDS-Erbe der Kolonialzeit. Dokumentarfilm von Carl Gierstorfer, 52 min, 2014, https://www.youtube.com/watch?v=Zj-waIPrzTE
15. Hoffmann C, Rockstroh JK. Siehe unter 7., S. 23- 41
16. Hoffmann C, Rockstroh JK. Siehe unter 7., S. 15- 22
17. Hoffmann C, Rockstroh JK. Siehe unter 7., S. 2- 14
18. Hoffmann C, Rockstroh JK. Siehe unter 7., S. 58- 60
19. Mocroft A, et al. AIDS across Europe, 1994- 1998: the EuroSIDA-study. Lancet 2000; 356: 291-296
20. Kalichman S. Siehe unter 13., S. 25- 45
21. Chao C, et al. Recreational drug use and T-lymphocyte subpopulations in HIV-uninfected and infected men. Drug and Alcohol Dependence 2008, doi: 10.1016/j.drugalcdep.2007.11.010
22. Kalichman S. Siehe unter 13., S. 78- 82
23. Kalichman S. Siehe unter 13., S. 76- 78
24. Kalichman S. Siehe unter 13., S. 136-138
25. http://members.tripod.com/hiv_aids/koch.htm
26. Kalichman S. Siehe unter 13., S. 57- 76
27. Kalichman S. Siehe unter 13., S. 1- 25
28. Chigwedere P, et al. Estimating the lost benefits of antiretroviral drug use in South-Africa. Journal of Aquired Immune Deficiency Syndrom 2008; 49 (4): 410- 415
Die erste Fassung dieses Artikels wurde am 6.2.2018 in den NachDenkSeiten veröffentlicht.
Klaus-Dieter Kolenda, Jahrgang 1941, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin und Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik und ist seit über 40 Jahren als medizinischer Sachverständiger bei den Sozialgerichten in Schleswig-Holstein tätig. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Artikel und eine Reihe von Fach- und Sachbüchern über die Prävention chronischer Krankheiten verfasst. Zuletzt hat er Artikel über sozialmedizinische, sozialpolitische und friedenspolitische Themen in alternativen Online-Medien wie „Maskenfall“, „Nachdenkseiten“, „Rubikon“ und der „Neuen Rheinischen Zeitung“ veröffentlicht. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de
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