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Literatur
Karl-Heinz Otto: "Meine Kindheit im Osterland"
UNTER BILDUNGS-"ZWANG"
Buchtipp von Harry Popow

„Wer sich ins Privatleben zurückzieht, ist deshalb kein Feigling, aber wer kämpft, ist kein Narr.“ Diesen so richtigen und in die zerstreute und verwirrende Gegenwart transportiert, schrieb Michael Benjamin (1932-2000), universeller Denker und Zeitgenosse, in seinem Werk „Das Vermächtnis“, Seite 67, herausgegeben bei edition ost. Man kann sie nicht zählen, die nach dem Rücklauf der Geschichte seit 1989 zu den verschmähten „Narren“ zählen. Einer von ihnen: Karl-Heinz Otto mit seinem Buch „Meine Kindheit im Osterland“.

Wer sich diesem „Vorwurf“ aussetzt, der muss tiefgehende Gründe haben. Der Autor, bekannt u.a. durch das großartige Werk „IKARUS“, hat es in seinem Leben fertig gebracht, von einem „Proletensohn“, wie er sich selbst sieht, zu einem höchst angesehenen Offizier der NVA und Geheimnisträger ersten Ranges gebracht zu haben. Er, der mit dem Slogan der „beschissne Kriech“ aufgewachsen war, nahm das ihm angebotene Bildungsprivileg der neuen Macht im Osten Deutschlands an, wurde zu einem Bestschüler, freundete sich mit der Waffe des Wortes an und als Offizier der Waffe der höchst geheimen FLA-Raketensysteme. Um nie wieder so einen „beschissnen Kriech“ vom deutschen Boden aus zuzulassen.

Unbedeutende Fußnote in der Weltgeschichte?

Den Anstoß, nochmals gründlich in seiner Kindheit und seinem Werden und Wirken in der DDR zurückzublicken und zu veröffentlichen, gab ihm eine sehr gehässige Prophezeiung von Stefan Heym, von der DDR werde nicht mehr als eine unbedeutende Fußnote in der Weltgeschichte übrig bleiben. (S. 7) Auch lasse er sich von keinem der modernen Kaffeesatzleser vorschreiben, „wie ich gelebt zu haben habe...“ (S. 190) Auf den Seiten 278 und 290 greift er das primitive Geschreibsel von so genannten Historikern und den Versuch heutiger DDR-Erklärer an, zum Beispiel die Jungen Pioniere „als Kinderorganisation der kommunistischen SED zu disqualifizieren“.

Hätte sich der Autor Karl-Heinz Otto diesem „Zwang“ zur höheren Bildung nicht unterworfen, er hätte weder dieses Buch so schreiben können noch wie ein lahmes Schaf den Verheißungen einer angeblich „BLÜHENDEN LANDSCHAFT“ nach der so genannten Wende widerstehen können. Das besondere Gewicht seines Romans liegt in seiner Authentizität und Ehrlichkeit seiner Erinnerungen, die der einstige DDR-Bürger stets mit verallgemeinernden Einsichten und Erkenntnissen verbindet. So entsteht ein in die Geschichte eingefügtes Mosaik einer aus der unteren Schicht hervorgegangenen intellektuellen Persönlichkeit.

Bevor ich aus dieser interessanten Lektüre zwei Erkenntnisstränge herauskristallisiere, die Brechung des Bildungsprivilegs des Bürgertums sowie der nach 1945 unerbittlich und zum Kalten Krieg hinführende Klassenkampf der westlich dominierten imperialistischen Kräfte gegen das andere, das nach Sozialismus strebende Ostdeutschland, zunächst des Autors Kindheitserinnerungen. Und die sind reichlich bestückt mit eigenen, aber auch mit Erlebnissen und Empfindungen seiner Eltern und Verwandten. Als er 1943 eingeschult wurde, die Mutter in ihrem „unverwechselbaren breiten Leipziger Sächsisch“ über den „beschissnen Kriech“ immer öfter zu fluchen begann, da konnte der Knirps Karl-Heinz damit noch nichts anfangen. Ein Jahr später – es war auf dem Schulweg – stürzte sich ein englisches Jagdflugzeug Spitfire, das konnten die Jungs bereits ausmachen, mit Maschinengewehrfeuer auf ihr „heiter zur Schule schlenderndes Grüppchen...“ Das sollte nicht sein einziges „Erlebnis“ sein, wenig später kriegten die Kinder einen Luftkampf zwischen Flugzeugen mit, den prügelnden Hass von Bauern auf den mit einem Fallschirm gelandeten englischen Piloten „bis er zerfetzt und aus allen Körperteilen blutend reglos im Grase liegen blieb“. „Ich litt deshalb mit – bei jedem Hieb, bei jedem Stich...“, so der Autor. (S. 38) Er litt, als er zusehen musste, wie die so genannten Kettenhunde Deserteure als Volksverräter aufhängten, als die Todesnachricht kam, Vater sei im Krieg gefallen. Er litt lauernd im Bombenkeller, er litt als er hörte, die so genannten Kettenhunde hätten Volksverräter gehängt, er schaute neugierig auf die Befreier, zunächst auf die Amerikaner, dann auf die Russen, die auf Plakaten nur als Unmenschen dargestellt wurden und die sich nun als normale, interessante und hilfsbereite Menschen zeigten.

Brechung des Bildungsprivilegs des Bürgertums

Trotz alledem: Er ging weiter in die Schule und lernte gerne. Sollte Violinist werden, wenn es nach Muttern gegangen wäre, dann schwebte dem Knaben Architektur vor in der Aufbruchstimmung des neuen Staates DDR. Er erlebte ein abwechslungsreiches kulturelles Leben bei den Jungen Pionieren und dann bei der FDJ. Auf Seite 303 berichtet der Autor, wie er angehalten wurde, vom Proleten zum Intelligenzler aufzusteigen. Der Direktor der Dorfschule klopfte bei seiner Mutter an und beschwor sie, der Karl-Heinz möge das Gymnasium besuchen, denn er sei der beste Schüler. Begründung: Das Bildungsprivileg der Bourgeoisie müsse gebrochen werden. Die Mutter wehrte ab, nein, er wird Tischler, wie sein in Russland gefallener Vater. Der Direktor wiederholte seine Überzeugungsgänge und hatte endlich Erfolg, als er Karl-Heinz ein Stipendium zusicherte. Zu seinem erfolgreichen Abitur, findet der Autor auf Seite 323 folgende Worte: „Bis heute bin ich dem kleinen – nun in den Geschichtsbüchern lediglich mit einer hämischen Fußnote erwähnten Ländchen DDR – dankbar, dass es mir eine fundierte Bildung und einen glanzvollen Start ins Leben ermöglichte.“

KLassenkampf des Westens gegen das andere Deutschland

Bevor er sich dazu entschied, Offizier der NVA zu werden, hatte der junge Karl-Heinz auch mit Provokationen des Westens zu tun. Der Autor bezeichnet es als das Ende seiner behüteten Kindheit, als der 17. Juni 1953 ihn vom Träumer zum Handelnden gemacht hat. Nur ein herbeigerufener sowjetischer Panzer hatte es verhindert, das sein Ersatzvater Franz unter dem Druck des entfesselten Mobs sein Ende am Galgen gefunden hätte. Es war im Mai 1954, da Karl-Heinz Otto in der Funktion als freiwilliger Volkspolizeihelfer die Aufgabe übernahm, leistungsstarke niederländische Herdbuchkühe der örtlichen LPG „vor Anschlägen des Klassenfeindes“ zu schützen. Doch am nächsten Morgen war die gesamte kostbare Herde tot. Vergiftet. Die Spur der Täter führte nach Westberlin „wo erwiesenermaßen ihre Auftraggeber residierten, die unter dem irreführenden Namen Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit angetreten waren, die junge DDR zu schädigen“. (S. 358) Damit nicht genug. Als Teilnehmer der III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1951 wollte er in Westberlin einen Film ansehen und erlebte, wie „ein paar tausend Westberliner Stummpolizisten mit Schlagstöcken, unterstützt von Wasserwerfern, auf ein paar tausend FDJler einprügelten“. (S. 299) „Damals begriff mein naiver Kinderverstand noch nicht, was sich hinter dem Schlagwort Klassenkampf verbarg. Die hassverzerrten Gesichter dieser Menschen, die wie vom Wahnsinn befallen übereinander herfielen und sich blutige Wunden schlugen, gruben sich allerdings unlöschbar in mein Gedächtnis ein.“ 

Diese und andere Erfahrungen und Erkenntnisse, auch aus dem intensiven politischen Studium als Gymnasiast, bewirkten, dass die Werbeoffiziere der NVA nicht viel Kraft aufwenden mussten, „den männlichen Teil unserer beiden Abiturklassen zu einem dreijährigen Offiziersstudium zu überreden“. Der Autor fährt mit der verbitterten Aussage fort: „Dass Adenauer und Strauß mit ihrem Drohgebaren (´Ausradieren muss man diese Zonenbolschewisten, ausradieren!´ und ´Lieber tot als rot!´) meinen Lebensplan und die Pläne unzähliger Männer meiner Generation vereitelten, gehört zur tiefgreifenden Tragik auch meines Lebens.“ (S. 364/365)

Diese Haltung zu diesem „beschissnen Kriech“ begleitete den Autor Karl-Heinz Otto ein Leben lang. Als Kind voller Angst im Trubel des II. Weltkrieges, in der Nachkriegsperiode und während des Aufbaus eines friedlichen Lebens in der DDR. Nach dem Niedergang des Sozialismus könne man nur hoffen, so der Autor auf Seite 367, „dass die nächsten Träumer die richtigen Segel setzen und unserem einmaligen wundervollen blauen Planeten Erde mit all seinen vielfältigen Kreaturen und allen Menschen ein Leben in Frieden und harmonischem Miteinander sichern.“


Karl-Heinz Otto: „Meine Kindheit im Osterland. Zwischen Mulde und Pleiße. In Grimma und Altenburg. In Zschernitzsch und Pauschwitz. Im Landschulheim Windischleuba“



Edition Märkische Reisebilder. 367 Seiten. Korrektur: Regine Miks, Vertrieb FON: 0331 270 17 87 / Mail: dr. carlotto@t-online.de, Verlagsprogramm: www.carlotto.de, ISBN 978-3-934232-97-6


Bisher veröffentlichte Bücher des Autors Dr. Karl-Heinz Otto / Pseudonym: CarlOtto:

1. Probezeit, Roman, 1985, 1987
2. Die Riesenkuh Agathe, Kunstmärchen, 1995
3. Silberfäden, Erzählungen, 1995
4. Reisen und Speisen in Brandenburg, Reiseführer, 1996
5. Klöster, Schlösser und Burgen in Brandenburg, Reiseführer, 1998
6. Kamerad Parkinson, Roman, 1999
7. Historische Gasthäuser in Brandenburg, Reiseführer, 1999
8. Brandenburg, Reiseführer, 2001
9. Im Schatten der Flämingburg, Kriminalroman, 2003 (unter Pseudonym CarlOtto)
10. Der herbe Duft der Chrysantheme, Kriminalroman, 2007 (unter Pseudonym CarlOtto)
11. Der Windmüller und der Flötenkönig von Sanssouci, Kunstmärchen, 2007
12. Operation Taubenhaus, Kriminalroman, 2012 (unter Pseudonym CarlOtto)
13. Märkische Reisebilder, eine Edition kulturhistorischer Reiseführer zur Berliner und brandenburgisch-preußischen Geschichte (40 Titel)
14. IKARUS – Mein wunderbares richtiges Leben im doch so miesen falschen – Lebensschnipsel eines militanten Pazifisten aus drei Ismen, Autobiografie, 2016
15. Eine Irrenhausromanze und andere unglaubliche wahre irre Geschichten, Roman, 2016
16. Landschulheim Windischleuba – Eine Legende, Anthologie, 2017
17. Meine Kindheit im Osterland … , Autobiografie, 2017

Online-Flyer Nr. 649  vom 28.02.2018

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