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Krieg und Frieden
Leningrad 1942: Musik als Quelle der Hoffnung und Symbol des Überlebenswillens
"Leningrader Symphonie"
Von Rudolf Hänsel

Am 27. Februar sendete Arte-TV eine bemerkenswerte Dokumentation über die nahezu dreijährige Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht Anfang der 1940er-Jahre. Eine Million Zivilisten gingen durch eines der größten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs elendig zu Grunde. Die Aufführung der 7. Symphonie von Dmitrij Schostakowitsch inmitten des unfassbaren Leids sollte den deutschen Soldaten und der Welt nach einem Jahr Belagerung zeigen, dass Leningrad noch lebt. Es war ein Fanal gegen die Barbarei und ein Symbol des Überlebenswillens der geschundenen Zivilbevölkerung. Über seine leidgeprüften Eltern sagte der aus Sankt Petersburg stammende russische Präsident, dass sie trotz des ihnen zugefügten Leids keinen Hass gegen den Feind hegten.

Das Doku-Drama „Leningrad Symphonie. Eine Stadt kämpft um ihr Leben.“


Im Zentrum der Dokumentation von Christian Frey und Carsten Gutschmidt steht die 7. Symphonie des führenden Sowjet-Komponisten Dmitrij Dmitrijewitsch Schostakowitsch. Noch nie war die Entstehungsgeschichte eines großen symphonischen Werkes so schicksalhaft in die tragischen Ereignisses der Weltgeschichte verflochten wie im Falle der „Leningrader“. Während Schostakowitsch an seiner neuen Symphonie schreibt, greift die deutsche Wehrmacht im Sommer 1941 die Sowjetunion an, kreist Leningrad ein und schließt am 8. September den Belagerungsring um die Stadt. Nahezu 900 Tage dauerte die tödlichste Blockade einer Stadt seit Menschengedenken. Die Bewohner der Metropole sollten nach Hitlers Plan langsam und qualvoll krepieren. Da die Luftwaffe die Lebensmittel-Lager vernichtete, waren die Getreidevorräte nach einem Monat aufgebraucht. In ihrer Not aßen die Menschen Katzen und Ratten, Sägemehl, Leim – und Menschenfleisch (1).

Schostakowitsch selbst war diesem furchtbaren Kriegsverbrechen nur wenige Wochen ausgesetzt. Anfang Oktober 1941 wurde er gegen seinen Willen nach Kuibyschew an der Wolga ausgeflogen, wo er seine „Leningrader“ vollendete: „Ich widme meine Siebente unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem unabwendbaren Sieg über den Feind, und Leningrad, meiner Heimatstadt“, schrieb er am 29. März 1942 in der „Prawda“ (2). Die Moskauer Erstaufführung fand am 27. März 1942 unter lebensgefährlichen Umständen und Luftalarm statt. Die erste Aufführung der Symphonie in den Vereinigten Staaten leitete Arturo Toscanini am 19. Juli 1942 in New York.

Die Aufführung der 7. Symphonie als Symbol des Überlebenswillens

Eine Quelle der Hoffnung für die Leningrader in dieser nahezu drei Jahre andauernden Belagerung war das Radio und die Musik von Karl Eliasberg und seines Rundfunkorchesters. Dirigent Eliasberg und sein Orchester mussten als zweite Musik-Garde in der Hölle von Leningrad ausharren, während das angesehene Philharmonie-Orchester nach Novosibirsk ausgeflogen worden war. Doch im Sommer 1942 erhält er den Auftrag seines Lebens, das Unmögliche gegen alle Umstände zu ermöglichen: Stalin und auch Schostakowitsch wollten, dass das symphonische Werk auch im eingekesselten Leningrad erklingt, um der Welt zu zeigen, dass Leningrad noch lebt. Es sollte ein Zeichen der Unbeugsamkeit und ein Fanal gegen die Barbarei sein.

Ein Militärflugzeug durchbrach die Leningrader Luftblockade, um die Orchester-Partitur zu Dirigent Eliasberg zu bringen. Doch sein Orchester zählte nur noch 16 Überlebende und diese konnten sich vor Schwäche kaum auf den Beinen halten. So klapperte Eliasberg die Krankenhäuser nach Musikern ab und das Radio startete einen Aufruf an jeden Leningrader, der ein Instrument spielen kann, dass er sich melden sollte. Für die Proben bekam man als Soldat Fronturlaub und eine Zusatzration. Die unterernährten und erschöpften Musiker probten an sechs Tagen die Woche und erst drei Tage vor der Aufführung spielte das Orchester die Symphonie einmal komplett durch.

Am 9. August 1942 war es dann so weit: Um sicher zu stellen, dass kein feindliches Feuer das Konzert stört, ließ ein General die deutschen Stellungen kurz vor Beginn massiv bombardieren. Kronleuchter tauschten den überfüllten großen Saal des Leningrader Konservatoriums in gleißendes Licht. Viele Besucher weinten vor Ergriffenheit. Trotz des Hochsommers trugen die unterernährten, permanent frierenden Musiker mehrere Lagen Kleidung übereinander, dicke Hosen, Strumpfhosen und Handschuhe mit abgeschnittenen Fingerkuppen.

Um Punkt 18 Uhr strahlte das Radio eine Ansprache des Dirigenten Eliasberg aus, in der er sagte, dass die Darbietung vom Widerstandsgeist, vom Mut und von der Bereitschaft zu kämpfen aller Leningrader zeugen würde und alle Kameraden zuhören sollten. Die sodann live im Radio ausgestrahlte Symphonie wurde per Straßenlautsprecher überall in der Stadt übertragen. Auch die Wehrmachtssoldaten im Niemandsland vor den Toren der Stadt sollen den Klängen gelauscht haben. Die Aufführung war das Symbol eines kurzen Triumphes der Kultur über die Barbarei des Krieges.

Die „Leningrader“ galt als ein patriotisches Manifest, eine Beschwörung des Widerstandsgeistes, ein Fanal gegen den Faschismus. „Und tatsächlich konnte jeder gleich im ersten Satz die deutschen Truppen einmarschieren hören: In der so genannten ‚Invasions-Episode’ wird ein zunächst simpel und harmlos erscheinendes Thema (...) über einem bedrohlichen Rhythmus der Kleinen Trommel nach und nach klanglich so massiert und ins Aggressive gesteigert, dass man sich am Ende in einem Inferno wähnt.“ (3)

Die Eltern des russischen Präsidenten hegten keinen Hass gegen den Feind.

Das konservative Nachrichten-Magazin „Focus“ berichtete am 1. Mai 2015, dass die Eltern des aus Sankt Petersburg stammenden russischen Präsidenten schwer unter dem Zweiten Weltkrieg und unter der Belagerung ihrer Heimatstadt, dem damaligen  Leningrad, gelitten hätten. Wladimir Putins Vater verlor fünf Brüder, die Mutter ihre ganze Familie. Trotzdem hätten die leidgeprüften Eltern keinen Hass gegen die Deutschen, die einstigen Kriegsgegner gehegt (4).

In einem Gastbeitrag für das russische „Pioneer Magazin“, aus dem auch der „Focus“ zitierte, erinnert sich Putin: „Trotz all dieser Trauer, Elend und Tragödie hegten sie keinen Hass für den Feind, was für mich schwer zu verstehen war. Ehrlich gesagt immer noch... Die Mutter war eine sehr freundliche, sanfte Person... Sie sagte: ‚Wie kannst du diese (deutschen) Soldaten hassen? Sie waren gewöhnliche Leute, die auch im Krieg starben... Wie kannst du es ihnen verübeln? Sie sind harte Arbeiter wie wir. Es ist nur, dass sie geschickt wurden zu kämpfen’.“ (5)

Heute sind die Sankt Petersburger wie alle Russen überaus gastfreundliche Nachbarn, die den deutschen Gast herzlich willkommen heißen und ihm ohne Argwohn und Ressentiments begegnen. Diese menschliche Größe der Russen ist nur ein Wesensmerkmal der „rätselhaften russischen Seele“.


Fußnoten:

1. http://www.spiegel.de/einestages/leningrader-sinfonie-von-schostakowitsch-1942-ueberleben-mit-musik-a-1194616.html
2. https://de.wikipedia.org/wiki/7._Sinfonie_(Schostakowitsch)
3. https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/schostakowitsch-leningrader-siebte-symphonie-100.html
4. http://www.focus.de/politik/ausland/er-schreibt-ueber-den-2-wel...rn-die-deutschen-nicht-gehasst-haben_id_4652580.html
5. https://sputniknews.com/russia/201504301021553742/




Dr. Rudolf Hänsel ist Pädagoge und Psychologe. Weitere Informationen unter www.psychologische-menschenkenntnis.de


Top-Foto: aus Filmplakat "Leningrader Sinfonie" (1958)

Online-Flyer Nr. 650  vom 07.03.2018

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