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Berliner Arbeiterfotografie-Symposium „Fotografie in einer Neuen Welt“ (Teil 1)
Der Kampf gegen das Vergessen
Von Roland Gretler
Anläßlich des Todes Ende Januar 2018 des Schweizer Gründers und Leiters des "Bildarchiv & Dokumentation zur Geschichte der Arbeiterbewegung" in Zürich, später umbenannt in "Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte" bringt die NRhZ einen Vortrag von Roland Gretler beim Symposium "Fotografie in einer Neuen Welt" (Berlin 1993) in relativer Nähe zur so genannten deutschen Wende von 1989. Das medienkritische Symposium fand begleitet von einer Ausstellung in den Räumen der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst NGBK in Berlin statt. In mehreren Podien waren Teilnehmende Bildredakteure von "Spiegel", "Stern" und "Freitag", der freie Publizist Ralf Baumgarten, die Fotografen Walter Heilig (Berlin-Ost), Wolfgang Ritter (Berlin-West), David Turnley (USA). Die Gesprächsrunden leitete Rainer Höynck (NGBK) unter Beteiligung des damaligen Vorsitzenden des Bundesverbands Arbeiterfotografie, Rolf D. Eckenroth, und der verantwortlichen Redakteurin der Zeitschrift Arbeiterfotografie, Anneliese Fikentscher.
Pictura laicorum literatura est - Die Bilder sind die Literatur der Laien
Ein Satz aus der berühmten Geschichtsfiktion von Umberto Eco. Das heißt ja implizit auch: die Literatur der Gebildeten sind die Worte. Das gilt natürlich speziell auch für eine Zeitung, die sich selbst seit über 100 Jahren als 'Intelligenzblatt' anpreist. Deshalb wurde Geschriebenes auch schon immer physisch bekämpft. Die Bilder sind die Literatur der Laien; hier sehen wir Diego Rivera inmitten einer Geschichtsallegorie seines Volkes, auf einem öffentlich zugänglichen Fresko von ihm. Auf dem folgenden Bild sehen Sie die von den Behörden angeordnete Vernichtung eines Murales nach der Abwahl der Sandinisten in Nicaragua. Viele Bilder können nicht gemacht werden, weil es verboten ist sie zu machen und verhindert wird. Andere wurden gemacht, aber ihre Publikation wurde verhindert. Bei vielen Bildern, die gemacht wurden, genügt denen, die von ihnen Gebrauch machen, d.h. über sie verfügen, das Bild mit den sachlichen Angaben der fünf großen W - das sind die Antworten auf die Fragen: wann, wo, wer, was und warum? - nicht. Sie verknüpfen mit dem Bild eine Aussage in Worten, die dann vom Betrachter resp. vom Leser, als 'Bildaussage' rezipiert wird. Ein beinahe archetypisch zu nennendes Bild aus dem Vietnam-Krieg 1964. Horst Faas beschriftete es: 'Vater und Kind'. Ein Künstler reduzierte die realistische Fotografie zum Zeichen, zum Symbol. Bilder, auch dokumentarische Bilder zu benutzen, um Tatsachen zu manipulieren, die Wahrheit zu verwischen und der Lüge den Weg zu ebnen, ist kein Privileg der sog. bürgerlichen oder, wenn Sie wollen, kapitalistischen Presse. Die Linke steht in nichts nach, und es passiert auch einer WochenZeitung, dem Schweizer Pendant der TAZ, daß sie aus Bequemlichkeit und Schlendrian, aber auch aus Absicht oder unbewußt selbst macht, was sie eben noch der politisch gegnerischen Presse vorwarf. Das Gegenstück des Bildmotivs 'Vater und Kind' hat Käthe Kollwitz schon 1923 nach dem Ersten Weltkrieg in einer Form geschaffen, welche Worte überflüssig macht. Käthe Kollwitz hat mit diesem Bild getrauert, geklagt und protestiert. Unzählige Menschen haben seither in ganz direkter Weise mit Bildern protestiert in der Hoffnung, den Lauf der Geschichte beeinflussen zu können. Und es besteht kein Zweifel, daß Bilder tatsächlich auf das Kriegsgeschehen rückgewirkt haben. Die Herren der Kriege haben daraus gelernt, und während einer Reihe von Kriegen nach Vietnam,beim Überfall auf Grenada, beim Falkland-Krieg: bei der Bombardierung von Panama und vor allem beim Golf-Krieg wurde die Bildberichterstattung streng an die Kandare genommen, wenn nicht überhaupt verhindert. Erst in jüngster Zeit wieder, bei den laufenden Kriegen im Zeitalter nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, werden die Aktionen der sogenannten Ordnungstruppen wieder von den Bildmedien begleitet. Jetzt stimmt die Welt wieder, die Helden sind wieder da. Und so etwas wie Präsident Johnson noch während des Vietnam-Krieges passiert ist, als er zum Einsatz nach Vietnam abkommandierte GI-'s für Bildreporter und Fernsehen persönlich verabschieden wollte, wird sich bei der heutigen Regie der Berichterstattung nicht mehr ereignen. Das war gewissermaßen die Einleitung zu den folgenden Persönlichen Betrachtungen.
Nicaragua im Oktober 1990: Die Erinnerung der Sieger duldet keine andere Erinnerung. Die Wandgemälde zur Geschichte Lateinamerikas, die während der sandinistischen Revolution auf den Mauern Managuas unter Mitwirkung der Bevölkerung entstanden, werden auf Anordnung der neuen Stadtregierung überpinselt (Bild und Text aus der Schweizer Wochenzeitung WoZ)
Meine Damen und Herren, der vor Ihnen steht, um unter dem Titel GESCHICHTE MACHT BILDER - BILDER MACHEN GESCHICHTE zu Ihnen zu sprechen, ist selbst ein Bildermacher, ein Fotograf, aber einer, der fast aufgehört hat zu fotografieren, weil er einfach keine Zeit dazu hat. Zudem drängt sich mir in neuerer Zeit immer mehr der Gedanke auf, daß es bereits genug Bilder gibt und daß es mindestens ebenso darauf ankommt, Bewußtseinsarbeit zu leisten mit den bereits vorhandenen Bildern anstatt die Menschen permanent mit weiterem Bildmaterial zu überschwemmen, meist nicht mit dem Zweck, sie auf das Wesentliche in der Zeit aufmerksam zu machen, sondern um sie zur Flucht aus der für sie realen Gegenwart zu verleiten. Der Satz: "Kriegsfotografie ist der Gebrauch, den man von ihr macht" - eine Aussage Rainer Fabian's - gilt nicht nur für die Kriegsfotografie, sondern für die dokumentarische, die berichterstattende, ja, für die Fotografie überhaupt. Ich selbst bin, soweit ich mich zurückerinnern kann - und das ist bis in's dritte Lebensjahr zurück - gewissermassen ein Opfer der Bilder, sowohl der visuellen Eindrücke als auch der Bilder, die meine Fantasie aufgrund komplexen Sinneserfahrungen hervorbrachte, derer ich am ehesten mächtig wurde, wenn es mir als Kind gelang, sie zeichnend zu Papier zu bringen. Bevor ich also zum Bildtäter wurde, war ich ihr Opfer. Die Bilder suchten mich als wiederkehrende Albträume heim, als Visionen, die häufig Angst in mir auslösten; Angst, die mich in Bann hielt und so Macht über mein Fühlen und Denken gewann. Es gibt Bilder, die ich ein Leben lang mit mir herumtrage und gegen die ich auch ein Leben lang kämpfe, für die ein Leben nicht ausreicht, um sie verarbeiten zu können und die mir von der Geschichte in immer neuen Variationen vorgehalten werden.
Bildunterschrift aus der Schweizer Wochenzeitung ‚das konzept‘, Vorläuferin der Schweizer Wochenzeitung WoZ, vom September 1979: „Dieses Bild des japanischen Photographen Sawada erschien zum erstenmal im Jahr 1966... Es zeigt eine vietnamesische Familie auf der Flucht vor einem amerikanischen Luftangriff. Vor einigen Wochen wurde dieses Bild nochmals in der Pariser Emigrantezeitung ‚Que Me‘ veröffentlicht. Diesmal trug es die Unterzeile ‚Freiheit oder Kommunismus‘.“
Bildunterschrift aus der WoZ, Ausgabe 4, 1984: „Boat People“. So wurde aus der Familie, die den amerikanischen Napalmangriffen zu entkommen sucht, eine Gruppe von Boatpeople, die vor dem kommunistischen Regime flieht.
Ich wurde noch vor dem Zweiten Weltkrieg geboren, und ich erinnere mich, wie mein Vater - damals Soldat der Mutter am Mittagstisch in großer Erregung berichtete, daß im Mündungsgebiet des Alten Rheines am Bodensee illegal über die Schweizer Grenze herein- kommende Flüchtlinge - es waren Juden - vom Schweizer Militär und Grenzschutz zurückgetrieben würden, daß sogar auf sie geschossen würde. Und ganz am Ende des Krieges, als ich schon zur Schule ging, brachte der Schulvorsteher eines Tages ein Judenkind ost-preussisch-polnischer Herkunft mit Namen Susmann, mehr wie ein Skelett als wie ein Mensch aussehend, mit riesigen dunkeln Augen und kahlgeschorenem Kopf, in die Klasse, - und Lehrer Kalberer veranstaltete zu seiner Einführung ein Verhör, wobei er ihm Wort für Wort abnötigte. Und das Gehörte hat sich in meinem Kopf auch mit dem verbunden, was ich von meinem Vater gehört hatte, und das Bild von aufgetürmten Leichen und von Öfen - in meiner Vorstellung sahen die Öfen aus wie der in unserer Stube -, in denen Susmann's Familienangehörige verbrannt worden waren, schaute mich schon auf dem Nachhauseweg an aus allen Treppenstufen und Mauern, an denen ich vorbeimußte.
Das waren meine Voraussetzungen. Und jetzt, wo ich über meinen Umgang mit Bildern sprechen soll, kann ich nicht anders als soweit zurückgehen bis zu diesem Bild, das sich übrigens seit mehreren Jahren real in meinem Archiv befindet, fast genau so, wie es mir von Susmann's zitternden Worten damals ins Gedächtnis eingraviert wurde.
Bildunterschrift aus einem Time-Life-Buch ‚Die klassischen Themen‘ von 1970: ‚Horst Faas: Vater und Kind, Vietnam 1964 - In einer der Bildserien, die ihm den Pulitzer-Preis für Reportagephotographie einbrachten, zeigt Horst Faas die bittere Sinnlosigkeit des Vietnamkrieges. Ein Bauer, den Körper seines Kindes haltend, tritt einem Einsatzkommando der vietnamesischen Armee entgegen.
Bildunterschrift aus dem New York Herald Tribune vom 20.3.1964: „HABT IHR EINE ERKLÄRUNG? Ein vietnamesischer Bauer hält sein totes Kind vorbeiziehenden Regierungssoldaten entgegen. Das Kind wurde getötet, als Air-Force-Flugzeuge einen Napalm-Angriff auf Dorf flogen, in welchem der Vietkong Zuflucht gesucht hatte.“ (ähnlicher Bildausschnitt wie zum nachfolgend untertitelten Foto)
Bildunterschrift in der Neuen Zürcher Zeitung: 'Sein totes Kind auf den Armen tragend, bittet ein vietnamesischer Bauer eine Panzerbesatzung um Hilfe.'
Die Fotos, die Sie hier sehen, gehören zum historischen Nachlaß der antifaschistischen Hilfsorganisation Centrale Sanitaire Suisse, die während des Spanischen Bürgerkrieges gegründet worden war. Zusammen mit zehntausenden weiteren Fotos, darunter auch dem historischen Nachlaß des 1929 gegründeten Arbeiter-Foto-Bundes Zürich, ungezählten sogenannten Amateurfotos, aber auch Grafiken und Bilddokumenten im weitesten Sinne bilden sie die materielle Substanz meiner Institution: PANOPTIKUM ZUR SOZIALGESCHICHTE genannt, früher 'Bildarchiv & Dokumentation zur Geschichte der Arbeiterbewegung'. Und inmitten dieses riesigen Erbes, dieser gewaltigen Hypothek an vergangenen Zukunftshoffnungen, Dokumenten gelebten Lebens und die Gegenwart ein- und überholender Gedächtnisbilder gilt es, den Anspruch einzulösen, daß die Fotografie der Gebrauch ist, den man von ihr macht. Das heißt der Wahrheit Rechnung tragen, daß alles seinen Ort und seine Zeit hat, aber auch alles mit allem verbunden ist, und daß es demnach darum geht, die Bilder der Erinnerung in ihre Zusammenhänge zu stellen, in die individualgeschichtlichen, die sozialgeschichtlichen, in die Geschichte der Gemeinschaften und in die große Geschichte der Völker und der Menschheit. Und umgekehrt, sie auch aus diesen Perspektiven zu verstehen versuchen. In andern Worten: Indem wir die Fotografien vergangenen Lebens nicht nur eifrig sammeln und was vorerst nicht mehr als Trödel ist aufhäufen und horten, um es allenfalls einem beliebigen Gebrauch resp. Mißbrauch zuzuhalten, sondern für jedes Foto seinen Ort und seine Zeit wieder finden, machen wir aus Abfall Humus in Umkehrung des englischen Spruches: 'Dirt is matter on the wrong place.' Denn die Bilder der Erinnerung sind sowohl Fragen als auch Antworten; indem sie das Vergangene vergegenwärtigen, stellen sie sich dem Schwinden der Zeit entgegen und retten das Leben, das gelebte, weiter in der Generationenfolge vor der Gewalt der Geschichte und nehmen dem physischen Tod seine Endgültigkeit.
Der Kampf von Menschen gegen Macht ist der Kampf von Erinnerung gegen das Vergessen (Milan Kundera)
Die reale, d.h. die lebendige Erinnerung an das was war, macht es möglich uns vorzustellen, was hätte sein können, zu begreifen was ist und was sein können wird, Ohne Erinnerung, d.h. wenn wir das Vergangene verdrängen oder es uns gestohlen wird, können wir weder die Trauerarbeit über geschändetes Glück und zerstörte Hoffnung leisten noch können wir leben mit der Leere, mit dem Totalverlust, als Verlassene, vom Schicksal aus der "unendlichen Reihe" Herausgerissene. Was bleiben würde, wäre das Elend der Unfähigkeit zu trauern und damit auch die Unmöglichkeit, erneut Hoffnung zu schöpfen, denn die Erinnerung ist eine Quelle der Hoffnung: Sie nährt die Kraft zur Veränderung, damit nichts bleiben muß wie es ist und das Leben weitergehen kann. Denn es ist so, wie der sowjetische Schriftsteller Juri Trifonow sagte: "Erinnern und Leben sind untrennbar verbunden, das Eine läßt sich nicht ohne das Andere zerstören."
Aus ‚Jugendwoche – Magazin der Jungen‘, Zürich, November 1972:
Wem die Manipulation mittels Legende nicht genügt, kann sich das Motiv zeichnen lassen. Dann werden die Soldaten dann sogar zu Rettern.
Umschlag eines Buches des Militärtheoretikers, Oberstdivisionär der Schweizer Armee und Direktor der PR-Agentur Rudolf Farner, Gustav Däniker: Das Bild zeigt einen amerikanischen Soldaten, der ein vietnamesisches Kind ‚rettet‘, als ob es den USA in Vietnam darum gegangen wäre, Kinder zu retten.
Und Luis Bunuel, der Meister der Kunst des Bilder- Assoziierens, der uns in seinen Filmen spüren ließ, daß die Zeit nicht linear abläuft, sondern mehrere Dimensionen hat, stellte gegen Ende seines Lebens fest: "Man muß erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren und sei es nur stückweise, um sich darüber klar zu werden, daß das Gedächtnis unser ganzes Leben ist... Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts."
Mutter mit Kind – Käthe Kollwitz, 1922/23, aus der Folge „Der Krieg“
Mutter mit Kind – Aus ‚Life International vom 10.1.1966 aus dem Artikel ‚The Blunt Reality of War in Vietnam‘ (oben/1) und anderen Publikationen aus dem Vietnamkrieg
Nichts aber kommt der menschlichen Erinnerung näher als die Fotografie, wenn diese auch, wie John Berger sagt, meist einfacher und in ihrer Reichweite beschränkter ist als die Erinnerung. Beide, die Fotografie und das Erinnerte, so Berger, bewahren Augenblicke und bieten ihre eigene Form der Gleichzeitigkeit an, in der alle ihre Bilder nebeneinander bestehen können. Beide stimulieren das Untereinanderverbundensein der Ereignisse und werden davon stimuliert. Beide suchen Augenblicke der Offenbarung, denn nur solche Augenblicke bewahrheiten die ihnen eigene Fähigkeit, dem Strom der Zeit zu widerstehen.
So sind denn die Fotos zum wichtigsten Mittel geworden, die Erinnerung und damit unsere Geschichte zurückzugewinnen. Sie bringen uns immer wieder zurück zu den konkreten Zuständen und stellen sich den Versuchen der Sozialwissenschafter und Ideologen in die Quere, geschichtliche Zustände mit abstrakten Formulierungen darzustellen unter gewolltem oder ungewolltem Verlust ihrer menschlichen Substanz.
‚Bilderbuchlandung ohne Gegner – Hilfsaktion der USA für die hungernde Bevölkerung Somalias problemlos angelaufen‘ – das ist die Überschrift des Artikels im Zürcher ‚Tagesanzeiger‘ vom 10.12.92, dem das abgebildete Foto als Illustration dient
Aus einem in den USA erschienenen Comic der 60er Jahre
DIE FOTOGRAFIE IST ALSO DER GEBRAUCH, DEN MAN VON IHR MACHT, wie wir gesagt haben. Ein Bildarchiv wie GRETLER's PANOPTIKUM ist nicht nur ein idealistisches Projekt, sondern aus wirtschaftlicher Selbsterhaltungsnotwendigkeit einesteils ein Dienstleistungsbetrieb, anderseits mein persönlicher Studienplatz. Auf die Mechanismen des real existierenden Bildermarktes und der medialen Bildkommunikation werde ich noch zu sprechen kommen müssen, - lassen Sie mich zuerst noch zusätzlich etwas über Sinn und Wert der Arbeit des Fotografen, der zum Archivar wurde, erzählen. In den ca. 20 Jahren, während derer ich in meine gegenwärtige Arbeit hineingewachsen bin, erlebte ich bis heute immer wieder eine gewisse, wenn auch zurückhaltend geäußerte Enttäuschung darüber, daß ich mich mehr mit fremden Bildern befasse als an den Ereignissen teilnehmend selbst aktuelle Fotos zu produzieren. Es hat mich deshalb gefreut, von der ARBEITERFOTOGRAFIE zu diesem Symposium eingeladen worden zu sein, weil ich daraus eine gewisse Wertschätzung meiner Tätigkeit herauslesen sowohl persönlich genommen als auch grundsätzlich. Das heißt, hier hat jemand begriffen, daß das, was ich zu leisten bemüht bin gar nicht so anspruchslos und auch nicht bescheiden ist, daß es sich weder auf eine technisch-administrative Funktion reduzieren läßt noch hauptsächlich von geschäftlichen Interessen gesteuert ist. Das Gefühl einer gewissen Einsamkeit und auch des Mißverstandenwerdens innerhalb unserer real existierenden Arbeiterbewegung wird immer mehr von der Erfahrung abgelöst, daß ich mit zur informellen Internationale der Rückeroberer des kollektiven Gedächtnisses gehöre, und daß wir schon zahlreich sind und verbunden in einem interdisziplinären, das von Südamerika über Israel bis in die Ex-Sowjetunion reicht.
Kurz bevor Jorge Luis Borges 80jährig in Genf starb, äußerte er in einem Interview: "Ich glaube, daß die Leute dauernd denkwürdige Sätze sagen und es nicht bemerken. Und vielleicht ist es die Aufgabe des Künstlers, diese Sätze zu sammeln und aufzuheben." Der Autor sei, so Borges, "ein Chronist und Schreiber vieler Meister, und vielleicht ist es wirklich am wichtigsten, der Verzeichner und nicht der Erzeuger eines Satzes zu sein."
(Quelle Arbeiterfotografie Zeitschrift 76, 2. Quartal 1995 / wird in der nächsten Ausgabe fortsetzt)
siehe auch hier NRhZ-Ausgabe 650
Nachruf auf Roland Gretler
Im Panoptikum der vergangenen Zukunftshoffnungen
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24643
Online-Flyer Nr. 650 vom 07.03.2018
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Medien
Berliner Arbeiterfotografie-Symposium „Fotografie in einer Neuen Welt“ (Teil 1)
Der Kampf gegen das Vergessen
Von Roland Gretler
Anläßlich des Todes Ende Januar 2018 des Schweizer Gründers und Leiters des "Bildarchiv & Dokumentation zur Geschichte der Arbeiterbewegung" in Zürich, später umbenannt in "Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte" bringt die NRhZ einen Vortrag von Roland Gretler beim Symposium "Fotografie in einer Neuen Welt" (Berlin 1993) in relativer Nähe zur so genannten deutschen Wende von 1989. Das medienkritische Symposium fand begleitet von einer Ausstellung in den Räumen der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst NGBK in Berlin statt. In mehreren Podien waren Teilnehmende Bildredakteure von "Spiegel", "Stern" und "Freitag", der freie Publizist Ralf Baumgarten, die Fotografen Walter Heilig (Berlin-Ost), Wolfgang Ritter (Berlin-West), David Turnley (USA). Die Gesprächsrunden leitete Rainer Höynck (NGBK) unter Beteiligung des damaligen Vorsitzenden des Bundesverbands Arbeiterfotografie, Rolf D. Eckenroth, und der verantwortlichen Redakteurin der Zeitschrift Arbeiterfotografie, Anneliese Fikentscher.
Pictura laicorum literatura est - Die Bilder sind die Literatur der Laien
Ein Satz aus der berühmten Geschichtsfiktion von Umberto Eco. Das heißt ja implizit auch: die Literatur der Gebildeten sind die Worte. Das gilt natürlich speziell auch für eine Zeitung, die sich selbst seit über 100 Jahren als 'Intelligenzblatt' anpreist. Deshalb wurde Geschriebenes auch schon immer physisch bekämpft. Die Bilder sind die Literatur der Laien; hier sehen wir Diego Rivera inmitten einer Geschichtsallegorie seines Volkes, auf einem öffentlich zugänglichen Fresko von ihm. Auf dem folgenden Bild sehen Sie die von den Behörden angeordnete Vernichtung eines Murales nach der Abwahl der Sandinisten in Nicaragua. Viele Bilder können nicht gemacht werden, weil es verboten ist sie zu machen und verhindert wird. Andere wurden gemacht, aber ihre Publikation wurde verhindert. Bei vielen Bildern, die gemacht wurden, genügt denen, die von ihnen Gebrauch machen, d.h. über sie verfügen, das Bild mit den sachlichen Angaben der fünf großen W - das sind die Antworten auf die Fragen: wann, wo, wer, was und warum? - nicht. Sie verknüpfen mit dem Bild eine Aussage in Worten, die dann vom Betrachter resp. vom Leser, als 'Bildaussage' rezipiert wird. Ein beinahe archetypisch zu nennendes Bild aus dem Vietnam-Krieg 1964. Horst Faas beschriftete es: 'Vater und Kind'. Ein Künstler reduzierte die realistische Fotografie zum Zeichen, zum Symbol. Bilder, auch dokumentarische Bilder zu benutzen, um Tatsachen zu manipulieren, die Wahrheit zu verwischen und der Lüge den Weg zu ebnen, ist kein Privileg der sog. bürgerlichen oder, wenn Sie wollen, kapitalistischen Presse. Die Linke steht in nichts nach, und es passiert auch einer WochenZeitung, dem Schweizer Pendant der TAZ, daß sie aus Bequemlichkeit und Schlendrian, aber auch aus Absicht oder unbewußt selbst macht, was sie eben noch der politisch gegnerischen Presse vorwarf. Das Gegenstück des Bildmotivs 'Vater und Kind' hat Käthe Kollwitz schon 1923 nach dem Ersten Weltkrieg in einer Form geschaffen, welche Worte überflüssig macht. Käthe Kollwitz hat mit diesem Bild getrauert, geklagt und protestiert. Unzählige Menschen haben seither in ganz direkter Weise mit Bildern protestiert in der Hoffnung, den Lauf der Geschichte beeinflussen zu können. Und es besteht kein Zweifel, daß Bilder tatsächlich auf das Kriegsgeschehen rückgewirkt haben. Die Herren der Kriege haben daraus gelernt, und während einer Reihe von Kriegen nach Vietnam,beim Überfall auf Grenada, beim Falkland-Krieg: bei der Bombardierung von Panama und vor allem beim Golf-Krieg wurde die Bildberichterstattung streng an die Kandare genommen, wenn nicht überhaupt verhindert. Erst in jüngster Zeit wieder, bei den laufenden Kriegen im Zeitalter nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, werden die Aktionen der sogenannten Ordnungstruppen wieder von den Bildmedien begleitet. Jetzt stimmt die Welt wieder, die Helden sind wieder da. Und so etwas wie Präsident Johnson noch während des Vietnam-Krieges passiert ist, als er zum Einsatz nach Vietnam abkommandierte GI-'s für Bildreporter und Fernsehen persönlich verabschieden wollte, wird sich bei der heutigen Regie der Berichterstattung nicht mehr ereignen. Das war gewissermaßen die Einleitung zu den folgenden Persönlichen Betrachtungen.
Nicaragua im Oktober 1990: Die Erinnerung der Sieger duldet keine andere Erinnerung. Die Wandgemälde zur Geschichte Lateinamerikas, die während der sandinistischen Revolution auf den Mauern Managuas unter Mitwirkung der Bevölkerung entstanden, werden auf Anordnung der neuen Stadtregierung überpinselt (Bild und Text aus der Schweizer Wochenzeitung WoZ)
Meine Damen und Herren, der vor Ihnen steht, um unter dem Titel GESCHICHTE MACHT BILDER - BILDER MACHEN GESCHICHTE zu Ihnen zu sprechen, ist selbst ein Bildermacher, ein Fotograf, aber einer, der fast aufgehört hat zu fotografieren, weil er einfach keine Zeit dazu hat. Zudem drängt sich mir in neuerer Zeit immer mehr der Gedanke auf, daß es bereits genug Bilder gibt und daß es mindestens ebenso darauf ankommt, Bewußtseinsarbeit zu leisten mit den bereits vorhandenen Bildern anstatt die Menschen permanent mit weiterem Bildmaterial zu überschwemmen, meist nicht mit dem Zweck, sie auf das Wesentliche in der Zeit aufmerksam zu machen, sondern um sie zur Flucht aus der für sie realen Gegenwart zu verleiten. Der Satz: "Kriegsfotografie ist der Gebrauch, den man von ihr macht" - eine Aussage Rainer Fabian's - gilt nicht nur für die Kriegsfotografie, sondern für die dokumentarische, die berichterstattende, ja, für die Fotografie überhaupt. Ich selbst bin, soweit ich mich zurückerinnern kann - und das ist bis in's dritte Lebensjahr zurück - gewissermassen ein Opfer der Bilder, sowohl der visuellen Eindrücke als auch der Bilder, die meine Fantasie aufgrund komplexen Sinneserfahrungen hervorbrachte, derer ich am ehesten mächtig wurde, wenn es mir als Kind gelang, sie zeichnend zu Papier zu bringen. Bevor ich also zum Bildtäter wurde, war ich ihr Opfer. Die Bilder suchten mich als wiederkehrende Albträume heim, als Visionen, die häufig Angst in mir auslösten; Angst, die mich in Bann hielt und so Macht über mein Fühlen und Denken gewann. Es gibt Bilder, die ich ein Leben lang mit mir herumtrage und gegen die ich auch ein Leben lang kämpfe, für die ein Leben nicht ausreicht, um sie verarbeiten zu können und die mir von der Geschichte in immer neuen Variationen vorgehalten werden.
Bildunterschrift aus der Schweizer Wochenzeitung ‚das konzept‘, Vorläuferin der Schweizer Wochenzeitung WoZ, vom September 1979: „Dieses Bild des japanischen Photographen Sawada erschien zum erstenmal im Jahr 1966... Es zeigt eine vietnamesische Familie auf der Flucht vor einem amerikanischen Luftangriff. Vor einigen Wochen wurde dieses Bild nochmals in der Pariser Emigrantezeitung ‚Que Me‘ veröffentlicht. Diesmal trug es die Unterzeile ‚Freiheit oder Kommunismus‘.“
Bildunterschrift aus der WoZ, Ausgabe 4, 1984: „Boat People“. So wurde aus der Familie, die den amerikanischen Napalmangriffen zu entkommen sucht, eine Gruppe von Boatpeople, die vor dem kommunistischen Regime flieht.
Ich wurde noch vor dem Zweiten Weltkrieg geboren, und ich erinnere mich, wie mein Vater - damals Soldat der Mutter am Mittagstisch in großer Erregung berichtete, daß im Mündungsgebiet des Alten Rheines am Bodensee illegal über die Schweizer Grenze herein- kommende Flüchtlinge - es waren Juden - vom Schweizer Militär und Grenzschutz zurückgetrieben würden, daß sogar auf sie geschossen würde. Und ganz am Ende des Krieges, als ich schon zur Schule ging, brachte der Schulvorsteher eines Tages ein Judenkind ost-preussisch-polnischer Herkunft mit Namen Susmann, mehr wie ein Skelett als wie ein Mensch aussehend, mit riesigen dunkeln Augen und kahlgeschorenem Kopf, in die Klasse, - und Lehrer Kalberer veranstaltete zu seiner Einführung ein Verhör, wobei er ihm Wort für Wort abnötigte. Und das Gehörte hat sich in meinem Kopf auch mit dem verbunden, was ich von meinem Vater gehört hatte, und das Bild von aufgetürmten Leichen und von Öfen - in meiner Vorstellung sahen die Öfen aus wie der in unserer Stube -, in denen Susmann's Familienangehörige verbrannt worden waren, schaute mich schon auf dem Nachhauseweg an aus allen Treppenstufen und Mauern, an denen ich vorbeimußte.
Das waren meine Voraussetzungen. Und jetzt, wo ich über meinen Umgang mit Bildern sprechen soll, kann ich nicht anders als soweit zurückgehen bis zu diesem Bild, das sich übrigens seit mehreren Jahren real in meinem Archiv befindet, fast genau so, wie es mir von Susmann's zitternden Worten damals ins Gedächtnis eingraviert wurde.
Bildunterschrift aus einem Time-Life-Buch ‚Die klassischen Themen‘ von 1970: ‚Horst Faas: Vater und Kind, Vietnam 1964 - In einer der Bildserien, die ihm den Pulitzer-Preis für Reportagephotographie einbrachten, zeigt Horst Faas die bittere Sinnlosigkeit des Vietnamkrieges. Ein Bauer, den Körper seines Kindes haltend, tritt einem Einsatzkommando der vietnamesischen Armee entgegen.
Bildunterschrift aus dem New York Herald Tribune vom 20.3.1964: „HABT IHR EINE ERKLÄRUNG? Ein vietnamesischer Bauer hält sein totes Kind vorbeiziehenden Regierungssoldaten entgegen. Das Kind wurde getötet, als Air-Force-Flugzeuge einen Napalm-Angriff auf Dorf flogen, in welchem der Vietkong Zuflucht gesucht hatte.“ (ähnlicher Bildausschnitt wie zum nachfolgend untertitelten Foto)
Bildunterschrift in der Neuen Zürcher Zeitung: 'Sein totes Kind auf den Armen tragend, bittet ein vietnamesischer Bauer eine Panzerbesatzung um Hilfe.'
Die Fotos, die Sie hier sehen, gehören zum historischen Nachlaß der antifaschistischen Hilfsorganisation Centrale Sanitaire Suisse, die während des Spanischen Bürgerkrieges gegründet worden war. Zusammen mit zehntausenden weiteren Fotos, darunter auch dem historischen Nachlaß des 1929 gegründeten Arbeiter-Foto-Bundes Zürich, ungezählten sogenannten Amateurfotos, aber auch Grafiken und Bilddokumenten im weitesten Sinne bilden sie die materielle Substanz meiner Institution: PANOPTIKUM ZUR SOZIALGESCHICHTE genannt, früher 'Bildarchiv & Dokumentation zur Geschichte der Arbeiterbewegung'. Und inmitten dieses riesigen Erbes, dieser gewaltigen Hypothek an vergangenen Zukunftshoffnungen, Dokumenten gelebten Lebens und die Gegenwart ein- und überholender Gedächtnisbilder gilt es, den Anspruch einzulösen, daß die Fotografie der Gebrauch ist, den man von ihr macht. Das heißt der Wahrheit Rechnung tragen, daß alles seinen Ort und seine Zeit hat, aber auch alles mit allem verbunden ist, und daß es demnach darum geht, die Bilder der Erinnerung in ihre Zusammenhänge zu stellen, in die individualgeschichtlichen, die sozialgeschichtlichen, in die Geschichte der Gemeinschaften und in die große Geschichte der Völker und der Menschheit. Und umgekehrt, sie auch aus diesen Perspektiven zu verstehen versuchen. In andern Worten: Indem wir die Fotografien vergangenen Lebens nicht nur eifrig sammeln und was vorerst nicht mehr als Trödel ist aufhäufen und horten, um es allenfalls einem beliebigen Gebrauch resp. Mißbrauch zuzuhalten, sondern für jedes Foto seinen Ort und seine Zeit wieder finden, machen wir aus Abfall Humus in Umkehrung des englischen Spruches: 'Dirt is matter on the wrong place.' Denn die Bilder der Erinnerung sind sowohl Fragen als auch Antworten; indem sie das Vergangene vergegenwärtigen, stellen sie sich dem Schwinden der Zeit entgegen und retten das Leben, das gelebte, weiter in der Generationenfolge vor der Gewalt der Geschichte und nehmen dem physischen Tod seine Endgültigkeit.
Der Kampf von Menschen gegen Macht ist der Kampf von Erinnerung gegen das Vergessen (Milan Kundera)
Die reale, d.h. die lebendige Erinnerung an das was war, macht es möglich uns vorzustellen, was hätte sein können, zu begreifen was ist und was sein können wird, Ohne Erinnerung, d.h. wenn wir das Vergangene verdrängen oder es uns gestohlen wird, können wir weder die Trauerarbeit über geschändetes Glück und zerstörte Hoffnung leisten noch können wir leben mit der Leere, mit dem Totalverlust, als Verlassene, vom Schicksal aus der "unendlichen Reihe" Herausgerissene. Was bleiben würde, wäre das Elend der Unfähigkeit zu trauern und damit auch die Unmöglichkeit, erneut Hoffnung zu schöpfen, denn die Erinnerung ist eine Quelle der Hoffnung: Sie nährt die Kraft zur Veränderung, damit nichts bleiben muß wie es ist und das Leben weitergehen kann. Denn es ist so, wie der sowjetische Schriftsteller Juri Trifonow sagte: "Erinnern und Leben sind untrennbar verbunden, das Eine läßt sich nicht ohne das Andere zerstören."
Aus ‚Jugendwoche – Magazin der Jungen‘, Zürich, November 1972:
Wem die Manipulation mittels Legende nicht genügt, kann sich das Motiv zeichnen lassen. Dann werden die Soldaten dann sogar zu Rettern.
Umschlag eines Buches des Militärtheoretikers, Oberstdivisionär der Schweizer Armee und Direktor der PR-Agentur Rudolf Farner, Gustav Däniker: Das Bild zeigt einen amerikanischen Soldaten, der ein vietnamesisches Kind ‚rettet‘, als ob es den USA in Vietnam darum gegangen wäre, Kinder zu retten.
Und Luis Bunuel, der Meister der Kunst des Bilder- Assoziierens, der uns in seinen Filmen spüren ließ, daß die Zeit nicht linear abläuft, sondern mehrere Dimensionen hat, stellte gegen Ende seines Lebens fest: "Man muß erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren und sei es nur stückweise, um sich darüber klar zu werden, daß das Gedächtnis unser ganzes Leben ist... Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts."
Mutter mit Kind – Käthe Kollwitz, 1922/23, aus der Folge „Der Krieg“
Mutter mit Kind – Aus ‚Life International vom 10.1.1966 aus dem Artikel ‚The Blunt Reality of War in Vietnam‘ (oben/1) und anderen Publikationen aus dem Vietnamkrieg
Nichts aber kommt der menschlichen Erinnerung näher als die Fotografie, wenn diese auch, wie John Berger sagt, meist einfacher und in ihrer Reichweite beschränkter ist als die Erinnerung. Beide, die Fotografie und das Erinnerte, so Berger, bewahren Augenblicke und bieten ihre eigene Form der Gleichzeitigkeit an, in der alle ihre Bilder nebeneinander bestehen können. Beide stimulieren das Untereinanderverbundensein der Ereignisse und werden davon stimuliert. Beide suchen Augenblicke der Offenbarung, denn nur solche Augenblicke bewahrheiten die ihnen eigene Fähigkeit, dem Strom der Zeit zu widerstehen.
So sind denn die Fotos zum wichtigsten Mittel geworden, die Erinnerung und damit unsere Geschichte zurückzugewinnen. Sie bringen uns immer wieder zurück zu den konkreten Zuständen und stellen sich den Versuchen der Sozialwissenschafter und Ideologen in die Quere, geschichtliche Zustände mit abstrakten Formulierungen darzustellen unter gewolltem oder ungewolltem Verlust ihrer menschlichen Substanz.
‚Bilderbuchlandung ohne Gegner – Hilfsaktion der USA für die hungernde Bevölkerung Somalias problemlos angelaufen‘ – das ist die Überschrift des Artikels im Zürcher ‚Tagesanzeiger‘ vom 10.12.92, dem das abgebildete Foto als Illustration dient
Aus einem in den USA erschienenen Comic der 60er Jahre
DIE FOTOGRAFIE IST ALSO DER GEBRAUCH, DEN MAN VON IHR MACHT, wie wir gesagt haben. Ein Bildarchiv wie GRETLER's PANOPTIKUM ist nicht nur ein idealistisches Projekt, sondern aus wirtschaftlicher Selbsterhaltungsnotwendigkeit einesteils ein Dienstleistungsbetrieb, anderseits mein persönlicher Studienplatz. Auf die Mechanismen des real existierenden Bildermarktes und der medialen Bildkommunikation werde ich noch zu sprechen kommen müssen, - lassen Sie mich zuerst noch zusätzlich etwas über Sinn und Wert der Arbeit des Fotografen, der zum Archivar wurde, erzählen. In den ca. 20 Jahren, während derer ich in meine gegenwärtige Arbeit hineingewachsen bin, erlebte ich bis heute immer wieder eine gewisse, wenn auch zurückhaltend geäußerte Enttäuschung darüber, daß ich mich mehr mit fremden Bildern befasse als an den Ereignissen teilnehmend selbst aktuelle Fotos zu produzieren. Es hat mich deshalb gefreut, von der ARBEITERFOTOGRAFIE zu diesem Symposium eingeladen worden zu sein, weil ich daraus eine gewisse Wertschätzung meiner Tätigkeit herauslesen sowohl persönlich genommen als auch grundsätzlich. Das heißt, hier hat jemand begriffen, daß das, was ich zu leisten bemüht bin gar nicht so anspruchslos und auch nicht bescheiden ist, daß es sich weder auf eine technisch-administrative Funktion reduzieren läßt noch hauptsächlich von geschäftlichen Interessen gesteuert ist. Das Gefühl einer gewissen Einsamkeit und auch des Mißverstandenwerdens innerhalb unserer real existierenden Arbeiterbewegung wird immer mehr von der Erfahrung abgelöst, daß ich mit zur informellen Internationale der Rückeroberer des kollektiven Gedächtnisses gehöre, und daß wir schon zahlreich sind und verbunden in einem interdisziplinären, das von Südamerika über Israel bis in die Ex-Sowjetunion reicht.
Kurz bevor Jorge Luis Borges 80jährig in Genf starb, äußerte er in einem Interview: "Ich glaube, daß die Leute dauernd denkwürdige Sätze sagen und es nicht bemerken. Und vielleicht ist es die Aufgabe des Künstlers, diese Sätze zu sammeln und aufzuheben." Der Autor sei, so Borges, "ein Chronist und Schreiber vieler Meister, und vielleicht ist es wirklich am wichtigsten, der Verzeichner und nicht der Erzeuger eines Satzes zu sein."
(Quelle Arbeiterfotografie Zeitschrift 76, 2. Quartal 1995 / wird in der nächsten Ausgabe fortsetzt)
siehe auch hier NRhZ-Ausgabe 650
Nachruf auf Roland Gretler
Im Panoptikum der vergangenen Zukunftshoffnungen
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24643
Online-Flyer Nr. 650 vom 07.03.2018
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