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Arbeit und Soziales
Neuer Ansatz für die Obdachlosenarbeit in Lissabon
Wohnung zuerst
Von Harald Schauff
Was brauchen Wohnungslose am dringendsten? Eine Wohnung. Genau diese bekommen sie durch ‘Housing First’. Seit einigen Jahren revolutioniert ein neuer Ansatz die Obdachlosenarbeit in Lissabon. Er beruht auf der simplen Idee, Obdachlose mit dem für sie nötigsten auszustatten: Einer Wohnung. Sie bildet die Voraussetzung, alle anderen Probleme zu lösen, nicht umgekehrt. Nur so können Menschen wie der 53jährige Carlos, der 25 Jahren auf den Straßen der portugiesischen Hauptstadt lebte, wieder Fuß fassen. Seit einem Jahr lebt er in einer Wohnung, mitten in der Hauptstadt. Einfache Dinge wie die Tür hinter sich schließen und Duschen machen das Leben für ihn wieder lebenswert. Eine eigene Wohnung sei ‘doch die normalste Sache der Welt’, findet Carlos (1).
Auch Jaime schlief lange auf der Straße. Er machte einen Bogen um Notunterkünfte, weil sie ihm ‘zu dreckig’ waren und dort viel gestohlen werde. Wie Carlos erhielt auch er über das Projekt Housing First eine kleine Wohnung. Endlich hat er seinen ‘eigenen Raum mit eigenen Schlüsseln’ und kann dort zu Ruhe kommen.
Die herkömmliche Praxis in der Obdachlosenhilfe sieht vor, dass sich Wohnungslose die eigene Wohnung erst einmal verdienen müssen, in dem sie in Notunterkünften und Übergangsheimen ihre ‘Wohnfähigkeit’ unter Beweis stellen. Der Bremer Sozialforscher Volker Busch-Geertsema sieht in dieser im Hilfesystem weit verbreiteten Vorstellung einen Grund, warum viele Langzeitobdachlose wieder auf der Straße landen. Ihnen gelingt der stufenweise Aufstieg nicht. Housing First will diesen Teufelskreis abstellen. Bekannt machte die Idee ein Projekt in New York Anfang der 90er. Dieses verzeichnete einen beachtlichen Erfolg: 80 Prozent der Obdachlosen befanden sich nach zwei Jahren immer noch in ihren Wohnungen. Immerhin mehr als doppelt so viele wie im traditionellen System.
Dennoch findet Housing First bislang kaum Verbreitung. Zwar gibt es Projekte in allen Ländern West-Europas, doch sind dies lediglich Ausnahmen. Einzig Finnland und Dänemark haben das Konzept in ihre nationalen Strategien zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit eingefügt. Kaum verbreitet ist Housing First dagegen in Deutschland. Der Schwerpunkt liegt hierzulande auf dem Ausbau von Notunterkünften und verschiedenen Formen des Probewohnens. Das Problem der Wohnungslosigkeit wird so eher verwaltet als nachhaltig bekämpft.
In Lissabon finanzierte die EU bereits zwischen 2011 u. 2013 ein Pilotprojekt zu Housing First: Sieben Obdachlose wurde in einem Problemviertel mit einer neuen Bleibe versorgt. Heute sind die Wohnungen über die gesamte Stadt verteilt. Dies fördert die soziale Integration und schützt vor Stigmatisierungen. Mittlerweile erhielten vierzig Männer und fünf Frauen Wohnungen. Fast 90 Prozent von ihnen leben noch dort. Schätzungen zufolge gibt es etwa 800 Wohnungslose in Lissabon. Knapp die Hälfte von ihnen lebt auf der Straße.
Projekt-Teilnehmer erhalten Unterstützung von Sozialarbeitern und Psychologen. Diese können aus ihrer Erfahrung bestätigen: Ohne Rückzugsort findet der Mensch keinen Halt im Leben und kann sich nicht organisieren. Ein wöchentlicher Besuch bei Klienten ist fester Bestandteil von Housing First, zumindest bei Obdachlosen mit speziellen Problemen. Dabei wird über deren Perspektiven gesprochen. Auch Kontakte zu Einrichtungen mit günstigem Essen oder medizinischer Versorgung werden vermittelt. Die meisten Teilnehmer erhalten 180 Euro vom Staat, wovon sie ein Drittel für die Wohnung entrichten müssen. Das sind die einzigen Anforderungen. Wichtig ist: Wer eine Wohnung braucht, soll diese bekommen.
Housing First kostet den Staat unter dem Strich weniger als Notunterkünfte, da Betroffene von dort aus wieder auf der Straße landen. Wie viele andere europäische Großstädte hat allerdings auch Lissabon ein gravierendes Problem: Wohnungen sind immer schwerer zu bekommen. Wachsender Tourismus und Immobilieninvestoren sorgen für steigende Preise. Sozialforscher Busch-Geertsema findet jedoch, dass die Wohnungsnot Housing First nicht im Wege steht. Für ihn ist es eine Frage des politischen Willens. Er verweist auf New York, wo das Projekt seinen Anfang nahm. Dort ist der Wohnungsmarkt stark angespannt. Für Deutschland empfiehlt der Sozialforscher Wohnungsneubau, einen höheren Anteil an Sozialwohnungen und Housing First. Dabei sollen soziale Wohnungsagenturen Wohnungen anmieten, um Privatvermietern Risiken abzunehmen.
Housing First wirkt: In Lissabon ist die Zahl der Obdachlosen etwas gesunken. Immerhin gegen den europäischen Trend. Trotz der wirtschaftlich schwierigen Lage Portugals. Hauptgrund für die Wohnungslosigkeit ist die wachsende Armut. Wenigstens besteht politisch der Wille, das Problem anzugehen. Nach der erfolgreichen Umsetzung in der Hauptstadt soll Housing First auf andere Regionen Portugals ausgedehnt werden. Gute Nachrichten auch aus Berlin: Dort will der rot-rot-grüne Senat diesen Herbst ein entsprechendes Projekt starten. Der Stein kommt allmählich ins Rollen.
Fußnote:
1 Siehe dazu auch Frankfurter Rundschau vom 11.7.2018
Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe September 2018, erschienen.
Online-Flyer Nr. 673 vom 12.09.2018
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Arbeit und Soziales
Neuer Ansatz für die Obdachlosenarbeit in Lissabon
Wohnung zuerst
Von Harald Schauff
Was brauchen Wohnungslose am dringendsten? Eine Wohnung. Genau diese bekommen sie durch ‘Housing First’. Seit einigen Jahren revolutioniert ein neuer Ansatz die Obdachlosenarbeit in Lissabon. Er beruht auf der simplen Idee, Obdachlose mit dem für sie nötigsten auszustatten: Einer Wohnung. Sie bildet die Voraussetzung, alle anderen Probleme zu lösen, nicht umgekehrt. Nur so können Menschen wie der 53jährige Carlos, der 25 Jahren auf den Straßen der portugiesischen Hauptstadt lebte, wieder Fuß fassen. Seit einem Jahr lebt er in einer Wohnung, mitten in der Hauptstadt. Einfache Dinge wie die Tür hinter sich schließen und Duschen machen das Leben für ihn wieder lebenswert. Eine eigene Wohnung sei ‘doch die normalste Sache der Welt’, findet Carlos (1).
Auch Jaime schlief lange auf der Straße. Er machte einen Bogen um Notunterkünfte, weil sie ihm ‘zu dreckig’ waren und dort viel gestohlen werde. Wie Carlos erhielt auch er über das Projekt Housing First eine kleine Wohnung. Endlich hat er seinen ‘eigenen Raum mit eigenen Schlüsseln’ und kann dort zu Ruhe kommen.
Die herkömmliche Praxis in der Obdachlosenhilfe sieht vor, dass sich Wohnungslose die eigene Wohnung erst einmal verdienen müssen, in dem sie in Notunterkünften und Übergangsheimen ihre ‘Wohnfähigkeit’ unter Beweis stellen. Der Bremer Sozialforscher Volker Busch-Geertsema sieht in dieser im Hilfesystem weit verbreiteten Vorstellung einen Grund, warum viele Langzeitobdachlose wieder auf der Straße landen. Ihnen gelingt der stufenweise Aufstieg nicht. Housing First will diesen Teufelskreis abstellen. Bekannt machte die Idee ein Projekt in New York Anfang der 90er. Dieses verzeichnete einen beachtlichen Erfolg: 80 Prozent der Obdachlosen befanden sich nach zwei Jahren immer noch in ihren Wohnungen. Immerhin mehr als doppelt so viele wie im traditionellen System.
Dennoch findet Housing First bislang kaum Verbreitung. Zwar gibt es Projekte in allen Ländern West-Europas, doch sind dies lediglich Ausnahmen. Einzig Finnland und Dänemark haben das Konzept in ihre nationalen Strategien zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit eingefügt. Kaum verbreitet ist Housing First dagegen in Deutschland. Der Schwerpunkt liegt hierzulande auf dem Ausbau von Notunterkünften und verschiedenen Formen des Probewohnens. Das Problem der Wohnungslosigkeit wird so eher verwaltet als nachhaltig bekämpft.
In Lissabon finanzierte die EU bereits zwischen 2011 u. 2013 ein Pilotprojekt zu Housing First: Sieben Obdachlose wurde in einem Problemviertel mit einer neuen Bleibe versorgt. Heute sind die Wohnungen über die gesamte Stadt verteilt. Dies fördert die soziale Integration und schützt vor Stigmatisierungen. Mittlerweile erhielten vierzig Männer und fünf Frauen Wohnungen. Fast 90 Prozent von ihnen leben noch dort. Schätzungen zufolge gibt es etwa 800 Wohnungslose in Lissabon. Knapp die Hälfte von ihnen lebt auf der Straße.
Projekt-Teilnehmer erhalten Unterstützung von Sozialarbeitern und Psychologen. Diese können aus ihrer Erfahrung bestätigen: Ohne Rückzugsort findet der Mensch keinen Halt im Leben und kann sich nicht organisieren. Ein wöchentlicher Besuch bei Klienten ist fester Bestandteil von Housing First, zumindest bei Obdachlosen mit speziellen Problemen. Dabei wird über deren Perspektiven gesprochen. Auch Kontakte zu Einrichtungen mit günstigem Essen oder medizinischer Versorgung werden vermittelt. Die meisten Teilnehmer erhalten 180 Euro vom Staat, wovon sie ein Drittel für die Wohnung entrichten müssen. Das sind die einzigen Anforderungen. Wichtig ist: Wer eine Wohnung braucht, soll diese bekommen.
Housing First kostet den Staat unter dem Strich weniger als Notunterkünfte, da Betroffene von dort aus wieder auf der Straße landen. Wie viele andere europäische Großstädte hat allerdings auch Lissabon ein gravierendes Problem: Wohnungen sind immer schwerer zu bekommen. Wachsender Tourismus und Immobilieninvestoren sorgen für steigende Preise. Sozialforscher Busch-Geertsema findet jedoch, dass die Wohnungsnot Housing First nicht im Wege steht. Für ihn ist es eine Frage des politischen Willens. Er verweist auf New York, wo das Projekt seinen Anfang nahm. Dort ist der Wohnungsmarkt stark angespannt. Für Deutschland empfiehlt der Sozialforscher Wohnungsneubau, einen höheren Anteil an Sozialwohnungen und Housing First. Dabei sollen soziale Wohnungsagenturen Wohnungen anmieten, um Privatvermietern Risiken abzunehmen.
Housing First wirkt: In Lissabon ist die Zahl der Obdachlosen etwas gesunken. Immerhin gegen den europäischen Trend. Trotz der wirtschaftlich schwierigen Lage Portugals. Hauptgrund für die Wohnungslosigkeit ist die wachsende Armut. Wenigstens besteht politisch der Wille, das Problem anzugehen. Nach der erfolgreichen Umsetzung in der Hauptstadt soll Housing First auf andere Regionen Portugals ausgedehnt werden. Gute Nachrichten auch aus Berlin: Dort will der rot-rot-grüne Senat diesen Herbst ein entsprechendes Projekt starten. Der Stein kommt allmählich ins Rollen.
Fußnote:
1 Siehe dazu auch Frankfurter Rundschau vom 11.7.2018
Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe September 2018, erschienen.
Online-Flyer Nr. 673 vom 12.09.2018
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