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Literatur
Historische Dokumente von 1944 und 1945
Die Hitlerjugend in Danzig (2)
Von Gerhard Jeske

Der gebürtige Danziger, Gerhard Jeske, beschreibt in seinem Buch nicht nur seine persönlichen Erlebnisse als Jungscharführer in der Hitlerjugend. Er gibt auch Einblick in die historischen Begebenheiten der damaligen Hitlerjugend zum Ende des zweiten Weltkrieges in Danzig. Nur wenige Zeitzeugen haben es geschafft, sich objektiv mit der eigenen Vergangenheit und der damit verbundenen deutschen Geschichte auseinanderzusetzen. Dieses Buch ist ein einzigartiger Zeuge deutscher Geschichte, wie man sie selten in gebundener Form wiederfindet. Die NRhZ bringt - nach Vorwort und einem kurzen Text in der vergangenen Woche - einen weiteren Textauszug.


Besuch beim polnischen Schuster

Im KLV Lager Adolfsdorf im Kreis Wirsitz, war auch mein Freund Hans Olschewski von der polnischen Minderheit dabei. Der besuchte dort, mit drei oder vier Jungens, in der HJ Uniform, den polnischen Schuster im Dorf. Den hatten die Nazis nicht deportiert, denn auch den angesiedelten Bauern aus Bessarabien mussten die Schuhe besohlt werden. Zu diesem Schuster und seiner Familie gingen, meistens nach dem Abendessen die Jungens von der polnischen Minderheit, was ich bald erfahren sollte.

Eines Abends nahm mich Hans Olschewski mit, um mich der Familie vorzustellen. Warum? Dass erzähle ich jetzt: Ich war ein kleiner zäher, nicht unbegabter Junge, schön anzusehen, mit einem zarten Milchgesicht. Der Gefolgschaftsführer im KLV-Lager schikanierte mich. Er fand jeden Tag einen Grund, um mich und einige andere Jungen nach dem Abendessen auf sein Zimmer zu bestellen. Hier mussten wir zur Strafe jede Menge Kniebeugen, Liegestütze und in der Hocke den Entengang machen, manchmal mit einer halbvollen Waschschüssel in den vorgestreckten Händen. Ein Junge nach dem anderen fing an zu keuchen, bis er sagte: „Gefolgschaftsführer, ich kann nicht mehr.“ Der nannte ihn einen Schwächling und ließ ihn gehen. Ich machte diese Strafgymnastik weiter und gab nie auf, bis es ihm zu viel wurde und er mich rausschmiss.

Vor Weinachten durfte ich mit einem Kameraden nach Danzig fahren, um Spielzeug, dass wir selbst gebastelt hatten, für Kriegswaisen in der KLV-Lager Leitstelle auf der Fröbelwiese abzugeben.

Es war schon gegen 20 Uhr als wir in Danzig ankamen. Als ich mich in der Baracke auf der Fröbelwiese meldete, und der HJ-Führer den Namen unseres Lagers hörte, lief er zu einem Zimmer, riss die Tür auf und schrie hinein: „Da sind zwei aus „Adolfsdorf!“ Sofort erschienen einige HJ-Unterführer, um sich die frechen Lümmels anzusehen. Die waren aber erstaunt, als sie nur zwei kleine Luntrusse vor sich sahen. Na, wir mussten eine Stunde warten und dann gab uns ein Kamerad unsere Koffer zurück, die waren vollgefüllt mit uns unbekannten Sachen, und verdammt schwer. Wir schleppten die zwei Koffer zur Straßenbahnhaltestelle und fuhren bis zum Hauptbahnhof. Dort stiegen wir aus, schleppten die Koffer zur Gepäckannahme und gaben sie als Wartegut auf. Dann fuhren wir nach Hause. Mein Kamerad mit der Lore 4 bis Ende Langgarten, dort wohnte er, und ich mit der Linie 5 bis zur Endstation Ecke Hühnerberg – Thornscher Weg. Von dort musste ich noch fünfzehn Minuten durch die Dunkelheit nach Walddorf gehen. Meine Mutter war überrascht als ich die Wohnung betrat. Aber wie sah es dort aus? Das elektrische Licht leuchtete nur mit schwachem Strom. Mein kleiner Bruder röchelte mir mit einer Lungenentzündung aus dem Bett entgegen. Damals kam man damit nicht ins Krankenhaus. Ein kleines Tannenbäumchen stand auf der Nähmaschine. Der älteste Bruder leistete nächtlichen Luftschutzdienst auf einem Speicher. Der Vater war auch nicht zu Hause. Das wirkte sehr miserabel auf mich. Schnell hatte meine Mutter Brot und geräucherten Pomuchel (Dorsch) aufgetischt, dabei erzählte ich ihr einiges aus dem Lagerleben und warum wir nicht den Konfirmandenunterricht auf dem Rittergut derer von Witzleben besuchen möchten. Ich erzählte ihr, dass wir an diesem Abend alles erledigt hätten, und deshalb morgen noch in Danzig bleiben könnten Die Familie Olschewski würde ich am nächsten Nachmittag besuchen.

Am Vormittag des anderen Tages sah die Umgebung freundlicher aus. Im Garten lag heller Schnee, gegen das westliche Himmelsblau schickte die Sonne ihre goldenen Strahlen durch die Äste der Obstbäume. Ich verließ unser Haus und spazierte bis zum Spielplatz. Stille ringsherum. Kein Hund bellte, die waren, um Lebensmittel zu sparen, längst liquidiert worden. Weit und breit kein Nachbar zu sehen. Walddorf wirkte menschenleer, wie ausgestorben. Nach dem Mittagessen machte ich mich fertig, um Frau Olschewski und ihre Tochter aufzusuchen. Nun erfuhr ich von meiner Mutter, dass der Vater von Hans im KZ. Umgekommen war und dass seine Schwester und Mutter auf dem Bodenzimmer eines Speichers in der Hopfengasse leben mussten. Sie sollten dort Tag und Nacht Feuerwache halten. Abends wurde die Tür unten abgeschlossen, niemand konnte sie deshalb besuchen.

Ich hatte die schwarze HJ-Winteruniform angezogen und meine Mutter fragte erstaunt, ob ich so angezogen dorthin gehen wolle. „Warum nicht“, meinte ich, „wenn ein Zivilist die beiden besucht, könnte das verdächtig aussehen.“

In einem kleinen Zimmer mit winziger Küche hausten die Mutter und Schwester von Hans auf dem Speicherboden. Die Schwester, eine ehemalige Abiturientin, beherrschte vier Sprachen. Beide waren abgemagert, denn sie erhielten nicht die vollen Lebensmittelmarken. Ich nahm nach unserer Unterhaltung ein Buch mit Zauberkunststückchen mit. Angeblich wollte Hans Olschewski uns daraus etwas vorführen. Das hat er nie getan, denn das Buch war sicherlich für andere bestimmt. Zum Beispiel, konnte man daraus lernen, wie man sich aus einer Fessel befreien konnte. Ich habe es mir im Zug genau angesehen.

Am anderen Tag verabschiedete ich mich vom Rest meiner Familie und fuhr zum Hauptbahnhof. Wir hatten uns um 11.30 Uhr verabredet. Nachdem wir die Koffer ausgelöst hatten, reihte ich mich in die Schlange am Fahrkartenschalter ein. Als ich am Schalterfenster stand, fragte mich die Beamtin nach der Reiseerlaubnis. Ich war baff. Sie erklärte mir, dass ab 24 Uhr Fahrkarten nur mit einer Reiseerlaubnis ausgegeben werden, deshalb durfte sie mir keine Fahrkarten verkaufen. Ich schaltete sofort einen Schnellgang im Gehirn ein. Lief über die Straße in die Elisabethgasse zur Polizeiwache und erklärte dem Polizisten meine Lage. Der schrieb einen Antrag für uns aus, genehmigte die Abfahrt und damit versehen peste ich zurück und erhielt für uns beide die Fahrkarten. Der Zug nach Bromberg sollte, wenn ich es richtig erinnere um 12.05 Uhr abfahren. Wir hatten fünf Minuten Zeit, um den richtigen Bahnsteig zu erreichen. Das klappte auf die Sekunde genau. Kaum hatten wir die Koffer durch die Tür gewuchtet, pfiff der Beamte die Abfahrt an. Wir waren vorerst beruhigt. Nach zweimaligem Umsteigen erreichten wir gegen 19.00 Uhr Adolfsdorf. Jetzt begann das Kofferschleppen über den Bahndamm zur Lagerschule. Der eine Henkel vom Koffer war abgerissen, meinen Schulterriemen hakte ich in die Metallöse ein und zog den Koffer, wie einen Schlitten über den Schnee hinter mir her.

Die zwei Überraschungen folgten.

Wie erstaunt waren wir, als die Koffer geöffnet waren. Sie enthielten eine Menge Kriegsbücher, die niemand lesen wollte, ein kleines Repetiergewehr. Und ein Radio, das wir nicht gebrauchen konnten, weil wir keinen elektrischen Anschluss hatten. In unserem Zimmer brannte nur noch eine Petroleumlampe mit halbem Zylinder.

Am Nächsten Morgen landete ich vor dem Frühstück meine große Überraschung und es sollte mein erster, gefährlicher politischer Witz werden, den ich erfand. Ich hatte eine Landkarte von Russland mitgebracht, dazu kleine Nadeln mit roten Fähnchen. Die Karte heftete ich an die rechte Seite der Wand vor der Tür, die zum Frühstücksraum führte. Dann steckte ich die roten Fähnchen in den Frontverlauf ein, der sich im Mittelabschnitt auf der Linie Kiew - Shitomir abzeichnete. Nach einer primitiven Weihnachtsfeier, wurden die letzten Briefe verteilt. Einige Jungen ergriff das Heimweh und sie heulten los. Ich interessierte mich für die Zeitung aus Danzig, die auch eingetroffen war und rückte die Fähnchen bis zur Markierung der Stadt Shitomir vor. Die Stadt war von der deutschen Armee im November zurückerobert worden. Aber wie es aussah, wogten um die Stadt schwere Kämpfe. Anfang Januar, in der nächsten Zeitung, las ich, dass Shitomir, im Verlaufe einer Frontbegradigung aufgegeben worden war. Nun gibt es ein Wortspiel. Im Plattdeutschen heißt ein Spruch „Schiets du mir, so ich dir“ also - scheißt du mich an, so ich dich auch. Und Schiet, auf Deutsch und Schitomir in Russisch, klingen sehr ähnlich. Ich steckte morgens die Fähnchen um. Hinter mir standen der Gefolgschaftsführer und einige Pimpfe, die am Frontverlauf sehr interessiert waren. Darunter waren Jungen von der polnischen Minderheit, wie ich es einige Tage später erfahren sollte. Der Gefolgschaftsführer fragte mich: „Na, wie sieht die Lage aus?“ Ich zog ein Fähnchen heraus und stecke es um und sagte: „Shitomir, so ich dir!“ Ruckartig wendete der Gefolgschaftsführer sich ab und ging in den Frühstücksraum. Der hatte das Wortspiel begriffen, denn er kam aus einer Stadt in Westfalen, wo man auch Niederdeutsch verstand. Am nächsten Tag war die Karte entfernt worden und ich noch mehr in Ungnade gefallen.

Jetzt wollte der Gefolgschaftsführer mir eins auswischen. Beim Mittagessen verlangte er absolute Ruhe. Plötzlich sprach ein Junge ein oder zwei Worte.

„Wer hat da gesprochen?“, fragte der Gefolgschaftsführer mit harter Stimme. Niemand meldete sich. Er wiederholte seine Frage. Wieder meldete sich kein Junge. Nun schrie der Gefolgschaftsführer los: „Jeske du warst es! Was hast du gesagt?“ Ich schwieg. Er wiederholte die Frage und dann kam der Hammer, er wollte mich einer Dienstverweigerung überführen. Also sagte er: „Ich gebe dir den dienstlichen Befehl: Was hat du gesagt?“ Nichts sagen, hieß einen Befehl verweigern. Ich musste etwas antworten und sagte: „Leck mich am Arsch.“

Stille war, einen Floh hätte man husten hören können. Nach einer Atempause: „Du solltest mal deine Personalakte sehen. Aus dir wird nichts mehr werden.“ Nun konnte ich nur noch hoffen, dass wir so schnell wie möglich den Krieg verlieren müssen.

Ein oder zwei Tage später lud mich Hans Olschewski ein, ihn abends zu begleiten. Nach dem Abendessen gingen wir über das Schneefeld zum Dorfrand. Unvermittelt sagte Hans, dass sein Vater an einem Hirntumor verstorben war. Ich wusste Bescheid, das war sicherlich ein Schlag über den Schädel oder eine Pistolenkugel gewesen, sagte aber nichts. Vor einer Kate blieben wir stehen. Er öffnete die Tür und schob mich hinein. Mattes gelbliches Licht umfing uns vermischt mit Dampfschwaden, die aus der Tür in die Kälte schwebten. Ich befand mich in der Wohnküche. In der Mitte des Raumes stand ein drei- bis vier- jähriges Mädchen in der Wanne, die Mutter seifte den nackten Körper ein. An der rechten Seite stand der aufgeheizte Herd. Die Oma bereitete das Abendessen vor. Links an meiner Seite standen drei oder vier Jungens, angezogen mit der Hitlerjugend-Winteruniform. Das waren sie also, die Bowkes von der illegalen polnischen Minderheit. In der linken Ecke des Raumes saß der polnische Schuster an seinem Arbeitstisch. Er schaute mich prüfend an, legte den Hammer aus der Hand und sprach dann leise mit Hans Olschewski. Was er erzählte weiß ich nicht, darüber schwieg Hans sich aus. Vielleicht hatte er geprüft, ob ich für eine illegale Arbeit nützlich sein könnte. Jedenfalls nahm Hans mich danach nicht mehr mit. Hier, bei den einfachen Mitmenschen, suchten die polnisch-katholischen Jugendlichen etwas Familienersatz. Hier erlebten sie das, was die Hitlerjugend ihnen verweigerte und auch nicht ersetzen konnte.

Nach einigen Minuten drehte sich Hans zu mir um, nickte mit dem Kopf und wir verließen die Familie. Aus der gemütlichen feuchte Wärme in die sternenklare Winternacht zu treten schockte uns, und ließ uns die Kälte bis auf die Rippen fühlen. Schnell zog ich die Ohrenklappen herunter, und steckte die Hände in die Hosentaschen. Schweigend schlurften wir über den Schnee der alten Schule entgegen, die mir eher wie ein Straflager vorkam.


Gerhard Jeske: Die Hitlerjugend in Danzig - Taschenkalender 1945


   
Edition Lumen 2018, 240 Seiten, deutsch und polnisch, ISBN 978-3-943518-38-2, 12,95 Euro


Über den Autor

Gerhard Jeske, geboren 1929 in Danzig, lebt heute in Hamburg. Theologe von der Ausbildung, Fotograf vom Beruf, Grafiker, Publizist und politischer Schriftsteller.

Die Erinnerungen seiner Jugend in Danzig sind die spezifische Krönung seiner publizistischen Tätigkeit. Sie haben einen besonderen historischen Wert und sind Form seiner literarischen Erzählungen, die das tägliche Leben in der Freien Stadt Danzig wiedergeben – vor allem der Arbeiterfamilien in der Zeit des unruhigen Friedens und des tragischen Krieges.

Als Fotograf hatte er aktiv im gesellschaftlichen Leben teilgenommen und sich auf Enthüllungen und Bekämpfung von Nazismus eingelassen. Seit den siebziger Jahren arbeitete er mit Menschen aus Danzig zusammen, die für eine deutsch-polnische Annäherung tätig waren. Als Fotograf hatte er unter anderen mit Hans Georg Siegler (1920 – 1997), Autor diverser Werke über Geschichte und Kultur von Danzig und Oliva, zusammengearbeitet. In seinen Album-Büchern „Danzig erleben. Ein Kulturhistorischer Reisebegleiter durch Danzig” (Düsseldorf 1985) und „Von Danzig aus. Reisewege in Westpreussen, Pommern und Ostpreussen heute” (Düsseldorf 1987), die ein Reisebegleiter für Danzig Umgebung und Kaschuben sind, so wie im Buch „Danzig. Chronik eines Jahrtausends” (Düsseldorf 1990), finden wir so wertvolle Texte und Bilder von Gerhard Jeske. Dem Droste Verlag hatte er Bilder auch für andere Werke geliefert.

Während seiner vielen Reisen nach Polen - nach Danzig, den Kaschuben und auf die Danziger Niederung - hatte er Architekturdenkmäler und das tägliches Leben der Einwohner dokumentiert. Er arbeitete mit der Kunstakademie in Danzig und dem Freilichtmuseum Wdzydze zusammen, wo er Ergebnisse seiner Reisen in diese Region. in Fotoausstellungen präsentiert hatte. Er machte Aufzeichnungen von Zeitzeugen wie dem “alten Danziger” Gerard Knoff oder Pelagia Zmuda-Trzebiatowska aus Czarna Dabrowa, wo während des Krieges der Pfarrer-Oberst Józef Wrycz versteckt wurde und hielt die Aussagen in Interviews fest.


Weitere Bücher des Autors

Engel mit Trompete – Danziger Moritaten bis 1945 (Biografie)
Taschenbuch, 308 Seiten, ISBN 978-3943518-01-6, 14,95 Euro

Skizzen aus dem Innenleben – Grafiken und Lyrik
Taschenbuch, 152 Seiten, ISBN 978-3943518-11-5, 16,80 Euro

Erzählungen und Kommentare – Von Danzig nach Hamburg
Taschenbuch, 236 Seiten, ISBN 978-3943518177, 13,95 Euro

Danziger Architektur – Bildband I – Was von Danzig übrig blieb
Sonderformat, 260 Seiten, ISBN 978-3943518276, 39,95 Euro

Danziger Architektur – Bildband II – Was von Danzig übrig blieb
Sonderformat, 236 Seiten, ISBN 978-3943518283, 39,95 Euro


Siehe auch:

Textauszug 1
Vorwort
Nachtrag zum Vorwort
Die Wölflinge: Vorstufe der Hitlerjugend
NRhZ 693 vom 20.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25663

Online-Flyer Nr. 694  vom 27.02.2019

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