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Kurzerzählung
Hilde doch nicht
Von Ute Bales
Es war nur eine Ahnung, etwas Dumpfes, das in unseren Köpfen spazieren ging. Eine Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich weiß nicht mehr, wann Hilde in unsere Schule kam. Die Eltern waren Zugezogene. Sie sprachen Hochdeutsch und kleideten sich anders als die Leute im Dorf. Der Vater, groß, mit dunklen, lockigen Haaren, hatte ein Amt in unserer Kirche, erteilte Religionsunterricht, las Predigten vor, half die Kommunion auszuteilen und war nebenher als Sportlehrer eingesetzt. Die Mutter war eine graue, unscheinbare Frau, etwas gedrückt, mit scheuem Blick und ihrem Mann schon von der Haltung her unterlegen. Sie wohnten mit fünf Kindern in einem kahlen Neubau auf einem Hügel, der durch einen Bach, eine Straße und eine Bahnlinie vom Dorf abgetrennt war.
Es gab nur wenige Häuser dort und zwei Straßen. Die eine führte steil hinauf, vorbei an einem Waldstück mit einer holländischen Feriensiedlung und dem Auberg mit seinen fünf Felsen, die wie Finger in den Himmel ragten. Dahinter lag die Stadt. Die andere Straße verlief flacher und war eine Sackgasse. Im letzten Haus wohnte Hilde.
Wir Kinder waren selten dort. Auf dem Hügel gab es wenig, was uns reizte. Im Sinn geblieben sind mir Wogen schwarzer Schwalben, die lauter tschilpten als die im Dorf und tiefe Schleifen flogen, wenn wir uns mit unseren Fahrrädern näherten.
Auch bei Hilde war ich selten, aber ich weiß noch, dass sie einen Hund hatten, der in einen Zwinger gesperrt war und knurrte, wenn jemand sich näherte. Die Räume waren irgendwie unfertig. Teppiche, Tapeten und Vorhänge fehlten. Im Zimmer der Mädchen stand ein Klavier. Es stand mitten im Raum, in dem die Kinder herumtollen und Wände bemalen durften. Mehr als die bemalten Wände beeindruckte mich das Klavier. Obwohl ich mich nicht erinnern kann, Hilde jemals spielen gehört zu haben, so bin ich doch nahezu sicher, dass alle Kinder Musikunterricht bekamen. Bücher gab es auch, und hinter dem Haus stand eine Tischtennisplatte, grün, mit einem Netz in der Mitte und hölzernen Schlägern mit rotem Plastikbelag.
Die Leute lebten abgeschieden. Anders als meine Eltern mieden sie die Feste im Dorf, den Karneval und das Schützenfest. Nur in die Kirche kamen sie, waren katholisch, so wie wir, aber strenger und nüchterner.
Hilde ging in meine Klasse, saß neben Ully und trug gestrickte Hosen unter dem ewig gleichen Trägerkleid, was damals schon merkwürdig aussah. Ihre glatten, fast schwarzen Haare waren an den Kopf gebürstet und zum Zopf gebunden. Das Gesicht war blass und still, auch die Hände. Auffällig waren die blauen Augen, die man bei den dunklen Haaren nicht erwartete. Wenn ich mich nicht täusche, trug sie eine Brille. Sie hatte einen großen Bruder, Michael. Er ging in die Klasse über uns. Michael ähnelte dem Vater. Tonangebend wusste er alles besser.
Ich kann nicht mehr sagen, ob es in den ersten Schuljahren war, dass ich das Haus am Hügel betreten hatte oder später, als wir zusammen aufs Gymnasium gingen, denn auch in den ersten Jahren des Gymnasiums sehe ich Hilde nur schwach und ohne Konturen.
Damals war ich mit Ully befreundet und Hilde spielte keine Rolle. Wir hatten mit uns genug. Oft saßen wir nach der Schule auf einer Mauer, die dort stand, wo unsere Wege sich trennten, erzählten uns Geheimnisse, verglichen uns mit anderen, zerpflückten Gerüchte, die im Dorf herumgingen, entwarfen Pläne für die Zukunft. Auf keinen Fall wollten wir im Dorf bleiben. Stattdessen schwärmten wir von Italien, wo es uns hinzog, denn viel zu kalt war die Eifel. Während unsere Mütter das Mittagessen kochten und oft genug auf uns warteten, trödelten wir herum, träumten uns in die Luft, drehten Pirouetten mit Worten oder den Griff eines Kaugummiautomaten, der vor einem Lebensmittelladen an die Wand geschraubt war.
Als wir älter wurden, saßen wir nicht mehr auf der Mauer. Die Stadt war zu Fuß zu erreichen und es zog uns auf den Platz am Brunnen, wo wir belanglos schwätzend saßen und vorbeigehende Leute musterten, bis es kalt und dunkel wurde. Fast jeden Tag drehten wir eine Runde durchs Wicküler, eine verräucherte Kneipe am Bahnhof. Je nachdem, wer gerade da war, blieben wir. Das kam oft vor, denn die halbe Schule verkehrte hier. Der Wirt war es gewohnt, dass wir nicht immer etwas bestellten, denn dafür fehlte das Geld. Er war es auch gewöhnt, dass wir uns Zigaretten drehten, die wie Joints aussahen und es manchmal auch waren.
Im Wicküler lernten wir eine Menge Leute kennen, schlossen Freundschaften. Irgendwann war auch Hilde dabei. Sie hörte eher zu als dass sie sprach. Sprach sie aber, so tat sie es ruhig und treffsicher und wir merkten, dass ihre Beschäftigung mit Büchern ernsthaft und intensiv war. Die Schule zermürbte sie, das Vokabelnlernen, das Pauken, wie sie es nannte. Vor allem aber regte sie sich über ihren Vater auf, der sie ständig zum Hüten der Geschwister heranzog. Dass sie sich kaum bewegen könne, sagte sie und erzählte uns, dass ihr Vater sie am einzigen freien Nachmittag zu Sportstunden verpflichtet hätte. Wir gaben Ratschläge, rieten ihr, sich durchzusetzen, boten an, die Kleinen einfach zu unseren Treffen mitzubringen, was Hilde nur mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Seufzen kommentierte.
Damals begann unsere Freundschaft mit Hilde, die sich um ein Vielfaches verstärkte, als Hilde sich verliebte und das, was um uns geschah, uns herausforderte.
Etwas, das wir als Protest verstanden, überzog das Land. Häuser wurden durchsucht und Autos durchwühlt. In jedem öffentlichen Gebäude, auf der Post, vor der Sparkasse - überall klebten Fahndungsplakate. Die Namen der Gesuchten klangen nach Revolution: Baader, Meinhof, Raspe, Ensslin. Unsere Eltern waren sich einig. Dass die Sicherheit des Landes in Gefahr sei.
Wir hingegen hatten Verständnis für den Hass der Roten Fraktion auf die Nazis und den Dreck und den Filz in unserer Gesellschaft, auf den Kapitalismus und auf die Politik der USA. Dieses Verständnis nährte sich aus allem, was uns klein machte und Widerstand weckte: Ungerechtigkeiten, Verbote und Vorschriften, die wir nicht verstanden und überflüssig fanden. Wir hörten, dass Gudrun Ensslin die Tochter eines schwäbischen Pfarrers war und fanden Parallelen zu Hilde. Wir lasen den Spiegel, diskutierten, ob Gewalt das richtige Mittel für Veränderungen sei oder ob wir uns eher zu den Pazifisten zählen sollten. Es gefiel uns, dass die Gruppe so wütend war, so klug, so politisch, so frei, so anders.
In dieser Zeit also verliebte sich Hilde in Helmut. Die beiden passten zueinander, ähnelten sich in ihrer sanften Art. Helmut hatte lange blonde Locken, die Hilde inspirierten, ebenfalls die Haare offen zu tragen. Mit Helmut konnte man bestens über die Weltlage diskutieren. Er wollte später etwas Soziales studieren, worin wir ihn bestärkten, denn er war einfühlsam und klug und konnte es gut mit Kindern.
Ich weiß nicht mehr, wo die beiden sich trafen, aber ich ahne, dass es geheime Treffen waren, die irgendwann durch Hildes petzenden Bruder herauskamen und zur Folge hatten, dass Hilde über jeden Schritt, den sie tat, Rechenschaft ablegen musste.
Natürlich traf sie sich weiterhin mit Helmut. Die Sache gewann an Tragik und Hildes Liebe wuchs.
Dann kam das Wochenende, an dem Hildes Eltern mit Michael verreisten. Sie erzählte es beiläufig, auf dem Schulhof, und sofort begannen wir Pläne für den Abend zu schmieden, kamen aber zu keinem Ergebnis, da sich Hilde nicht von Zuhause fort wagte.
Es war ein Winterabend, fast mild. Ein Schneepflug hatte die Straße geräumt und den Schnee bis dicht an die Häuser geschoben. Wahrscheinlich überrumpelten wir Hilde, als wir in der Dunkelheit mit der gesamten Clique bei ihr auftauchten, denn wir waren mindestens acht. Sie stand da, strich sich das Haar mit den Händen zurecht und fuhr sich mit dem Finger unter den Augen entlang, als sie Helmut erblickte. Ich sehe die beiden noch vor mir, wie sie sich umarmten und küssten. Wir hatten Bierflaschen dabei, Tabak und Schallplatten, vielleicht auch eine Flasche Persiko. Das Zeug war modern damals.
Hilde war unsicher, ließ uns aber herein. Wir stellten fest, dass sie nicht allein war, sondern zwei der kleineren Geschwister uns neugierig beäugten, zutraulich wurden, uns schließlich umringten und Spielzeug heranschleppten. Natürlich wollten wir sie ins Bett schicken, was sich als schwierig erwies. Helmut schnappte sich ein Buch, verzog sich mit den Kindern auf eine Couch. Bald begannen die Kleinen ihre Augen zu reiben und verschwanden ohne Widerworte.
Wir saßen auf dem Boden vor dem Klavier, hätten gerne Räucherstäbchen abbrennen lassen, aber Hilde wehrte sich. Stattdessen zündeten wir Kerzen an, legten Platten auf, hörten Bob Dylan, die Stones, auch Genesis, tanzten Klammerblues zu `Je t' aime´, knutschten herum, redeten über die DDR und über einen Sprengstoffanschlag auf ein militärisches Tanklager in Gießen, mutmaßten, dass es ein amerikanisches gewesen war und dass es die Amis in Bitburg sicher auch bald treffen würde. Gerne hätten wir geraucht, aber sobald jemand Tabak auspackte, hob Hilde abwehrend die Hände.
Wir liefen auf Wolken, als wir das Haus in der Nacht verließen. Jemand kam auf die Idee, die Bierflaschen im Schnee verschwinden zu lassen, was natürlich dumm war, denn als Hildes Eltern anderentags auftauchten, plapperten nicht nur die Kleinen seltsames Zeug, auch die Flaschen wurden zu Verrätern.
Der Vater tobte, warf Hilde vor, seine Abwesenheit ausgenutzt zu haben und verhängte Hausarrest. Hilde durfte nicht mehr zu Schulveranstaltungen, geschweige denn zu Hantas mobiler Disko, die alle zwei Wochen in einem der Dörfer für Stimmung sorgte.
Sie saß zu Hause bei den Kleinen. Zur Schule wurde sie gebracht und abgeholt. Der Vater kannte den Stundenplan. Wenn er keine Zeit hatte, kam Michael. Nur in den Pausen hatten wir Hilde für uns. Dann tauchte auch Helmut manchmal auf, um sie zu sehen. Aber das war selten, denn Helmut musste arbeiten. Wir reichten Briefe weiter. Von Helmut an Hilde, von Hilde an Helmut. Manchmal heulte Hilde, aber nur wegen Helmut. Was den Vater betraf, so verhielt sie sich seltsam. Sie verteidigte ihn, fand Gründe für sein Tun, glaubte, dass er es gut meine und sie schützen wolle. Wir konnten es nicht fassen.
Es wurde Frühjahr. Hildes Arrest dauerte an. Der Ginster blühte, der Hügel war voller Flecken von rosafarbenem Klee und gelbem Löwenzahn. Die Luft wurde mild und warm. Hilde wurde dünner und blasser. Wir versorgten sie mit Büchern und Schallplatten, in denen wir Briefe von Helmut versteckten.
Unsere Wut auf Hildes Eltern wuchs. Ich bat meinen Vater etwas zu tun. Mein Vater wollte nichts hören. „Da mischen wir uns nicht ein“, sagte er, und dabei blieb es. Bei Ully war es genauso.
Vielleicht hatten wir das Wort Befreiung den Forderungen der RAF abgelauscht, vielleicht waren wir selbst darauf gekommen. Denn Befreiung nannten wir es. Wir wollten Hilde befreien, besser gesagt, wir mussten es tun. Befreien aus diesem Käfig und ihr die Freiheit bringen.
Wir rüsteten uns, banden uns ein buntes Tuch über das rechte Knie, hörten Stones so laut es ging.
Der Dienstagnachmittag schien uns geeignet, denn da hatten wir keine Schule.
Es war ein heißer Tag. Der Hügel war wie leer gefegt. Nur ein Mann jätete in einem Garten Unkraut zwischen jungen Pflanzen. Er sah nicht auf, als wir vorbeigingen. Auch an den Fenstern bewegte sich nichts, was im Nachhinein gut war, denn ich hatte mir mit einer Paketschnur eine Pappe um den Hals gehängt: „Ich bin für RAF!“ Die Pappe stärkte.
Hildes Zimmer lag Parterre, direkt neben dem Eingang. Wir fürchteten den Hund. Dennoch – an dieses Fenster wollten wir klopfen und Hilde herauszerren. Schnell musste es gehen, der Vater war zu Hause. Sein VW Bus parkte im Hof.
Wir hatten keine Idee, was danach geschehen sollte. Vage hatten wir über ein Versteck gesprochen, einen Schuppen, in den wir sie bringen wollten. Wichtig war nur die Befreiung.
Je näher wir dem Haus kamen, desto kürzer wurden die Schritte. Wir sahen uns nicht an. Ich ging mit geballten Fäusten, hatte Hildes Zimmerfenster vor Augen und stellte mir vor, wie glücklich sie bald sein würde.
Wir kamen nicht bis zur Tür. Hildes Vater stand plötzlich im Weg, baute sich vor uns auf, drohte damit, den rasend gewordenen Hund aus dem Zwinger zu lassen, machte Anstalten, uns zu packen. Der Hügel schwankte, auch das Haus, wir rannten, rannten, rannten, Hundegebell im Rücken. Die Pappe flog hoch und schlug mir gegen ein Auge. Ich riss sie mir vom Hals und warf sie auf den Weg.
Wir erwarteten Schlimmstes, malten uns aus, wie Hildes Vater unsere Eltern aufsuchen würde, fürchteten, in ein Heim gesteckt zu werden. Aber nichts passierte. Tagelang schlichen wir herum. Hilde sagte nichts, verhielt sich wie immer, bis wir herausfanden, dass sie von alldem gar nichts mitbekommen, ihr Vater nichts erwähnt hatte.
Wir waren enttäuscht, weil wir versagt hatten, schwiegen über das, was passiert war.
Es war im Juni, als Hilde aus heiterem Himmel die Sache mit Helmut beendete. Sie hatte ihm einen letzten Brief geschrieben und Helmut war untröstlich.
Dann waren wir dran.
Nur einen Tag später erklärte sie uns, dass sie fortziehen würden, Richtung Köln. Dass sie das Haus verkaufen würden, dass der Vater eine neue Stelle gefunden hätte, dass alles dort besser sei und anders, dass sie sich freue, von uns wegzukommen, denn wir seien schuld an ihrer Lage.
Wir waren wie vor den Kopf gestoßen, bewarfen sie mit Fragen, versuchten, uns zu verteidigen. Hilde wiederholte, was sie schon gesagt hatte. Dabei hatte ihr Gesicht einen unbewegten Ausdruck, wie im Schlaf. Sie sagte noch, dass es für alle besser sei, auch für uns, ließ uns zurück mit fragenden Gesichtern und Schuldgefühlen. Damals glaubten wir tatsächlich, dass alles unsere Schuld war.
Zu einem Abschied kam es nicht. Hilde verschwand von einem Tag auf den anderen. Zuerst waren wir wütend. Dann fehlte sie uns. Vor allem Ully litt. Wir suchten nach Erklärungen, fahndeten nach Hildes Adresse. Auch die Schule fanden wir heraus. Zuerst schrieben wir ihr Briefe. Einmal nur kam eine Antwort. Dass niemand mehr schreiben soll, stand auf dem Papier, darunter Hildes typisches, schnörkeliges H., das uns vertraut war.
Wir beschlossen, Hilde in ihrer Schule aufzusuchen, hingen über Straßenkarten, schätzten die Strecke auf 80 km und zählten unser Geld. Eine Bahnkarte war zu teuer. Wir entschieden uns zu trampen.
Den Eltern erzählte ich etwas von einer Schulveranstaltung, die bis zum Abend dauern würde. In meinem Fall war das einfach. Bei Ully gestaltete sich die Sache schwieriger, aber schließlich standen wir am verabredeten Tag an der Straße und hielten die Daumen hoch. Alles lief glatt. Schon vor der großen Pause waren wir dort, suchten das Gymnasium, fragten uns durch die Gänge, fanden Hildes Klasse, standen davor, als die Glocke losging, die Tür aufgerissen wurde und Schüler herausdrängten. Ich zupfte an den Fingernägeln.
Es waren nur Sekunden. Wir sahen sie sofort. Sie stand da und packte etwas in eine Mappe. Ully jubelte. „Hilde!“ Hilde hob den Kopf, erschrak, taumelte zurück, und dann geschah Unfassbares: Sie verkroch sich unter einer Bank und schrie: „Haut ab! Lasst mich! Haut doch ab!“ Wir erstarrten. Mit Einigem hatten wir gerechnet, aber damit nicht. Andere Schüler wurden aufmerksam, glotzten uns an. Wir gingen auf Hilde zu. „Aber Hilde!“ Hilde hatte alle Farbe verloren. „Lasst mich! Verschwindet!“ Sie kam unter der Bank hervor, raffte eilig ein paar Sachen vom Tisch und rannte an uns vorbei aus der Klasse.
Als sie so unvermutet wegrannte und ich sie von hinten sah, konnte ich, an was auch immer, erkennen, dass sie weinte.
Wir wollten hinterher, aber ein Lehrer versperrte uns den Weg, fragte, was wir in der Schule zu suchen hätten und was wir von Hilde wollten. „Nichts! Nichts!“ Wir faselten herum, drängten weiter, der Mann ließ uns gehen, aber der Moment war lang genug gewesen, dass wir Hilde im Getümmel der Pause aus den Augen verloren. Wir sahen auf den Toiletten nach, in der Bücherei, suchten die Flure ab. Nichts.
An diesem Tag sahen wir Hilde zum letzten Mal.
Enttäuscht saßen wir auf einer Bank am Bahnhof. Wir hatten Durst, zählten unser Geld. Es reichte nicht für Getränke. Plötzlich stand Michael vor uns. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt und sprühten Hass. „Was wollt ihr hier? Lasst Hilde in Ruhe! Sie will nichts von euch, ist froh, dass sie weg ist!“ Wir sprangen auf, rannten. Michael blieb uns auf den Fersen. Er hatte einen Fotoapparat umgehängt und versuchte, Fotos von uns zu machen. Wir rannten in Richtung Stadt.
Irgendwann lehnte ich japsend an einer Wand, die Lungen stachen, das Herz raste. Ich hatte Ully verloren. Aus Angst vor Michael flüchtete ich in einen Blumenladen. Eine Frau, die Sträuße band, sah, dass etwas nicht stimmte, beruhigte mich und gab mir zu trinken.
Der Nachmittag verlor schon an Farbe, als ich Ully auf dem Bahnhof wiederfand. Wir waren beide wie erschlagen. Hilde hatte uns doppelt verraten, denn sie musste Michael von unserem Auftauchen erzählt haben. Von einer Telefonzelle aus riefen wir Ullys Freund an, Ralf, der ein Auto hatte und sofort bereit war, uns zu holen. Er fuhr einen grünen R4 und erst als er in Bahnhofsnähe um die Ecke bog und auf uns zusteuerte, konnten wir wieder atmen.
Wir nannten ihn unseren Retter, auch Jahre später. Er brachte uns nach Hause. Niemand fragte, wo wir gewesen waren. Auch das Schuleschwänzen hatte keine Konsequenzen.
Nur das, was passiert war, schmerzte.
Viele Jahre später, ich lebte längst nicht mehr im Dorf und hatte aufgehört, nach einer Antwort zu suchen, ließen mich hingeworfene Worte eines Bekannten aufhorchen. Er war wie ich zum Schützenfest in unser Dorf gekommen, und wir standen an der mit bunten Lampions geschmückten Theke der Bitburger Brauerei. Gestützt auf den Tresen, eine Zigarette in der Hand, redete er von früher. Ich hatte wenig Lust über alte Zeiten zu reden, bremste ihn aber nicht, als er plötzlich von Hildes Vater anfing, von dessen Sportgruppe und dem Engagement für blutjunge Mädchen. Dabei konnte er ein Grinsen nicht verhehlen. Ich weiß noch, dass ich den Kopf schüttelte. „Ach, lass doch." Er aber kam in Fahrt, erzählte, was ich nicht wusste. Dass nämlich Hildes Vater damals ein Mädchen angefasst habe und dass sie Hals über Kopf weggezogen seien, ja, hätten wegziehen müssen, als die Sache drohte, ans Licht zu kommen. Er sah, wie ich zusammenzuckte. Dass niemand gewagt hätte, etwas zu sagen, fügte er hinzu, denn immerhin seien es doch angesehene Leute gewesen.
Die Worte stachen. Ich sah Hilde vor mir: so blass, so dünn. Meine Gedanken sprangen. Spät am Abend rief ich Ully an, zu der ich über die Jahre Kontakt gehalten hatte. Was ich berichtete, war wie ein Mosaikstein einer Geschichte, die immer noch kein Ende hatte. Wir zögerten mit unseren Worten. Was wir dachten, war schwer auszusprechen. Nein, Hilde doch nicht. Bestimmt nicht. Nein, das hätten wir doch gemerkt. Hilde doch nicht.
Ute Bales ist 1961 in Borler/Eifel geboren und in Gerolstein/Eifel aufgewachsen. Sie studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Kunst in Giessen und Freiburg/ Breisgau, wo sie als Dozentin an einer privaten Wirtschaftsakademie arbeitet. Schwerpunkte ihrer schriftstellerischen Arbeit sind Romane, in denen Menschen, Geschichte und Landschaft der Eifel und des Rheinlands untrennbar verbunden sind. Diese Komponenten bilden gleichsam das Charakteristische ihres Erzählstils. Für Ute Bales liegt es auf der Hand, dass derjenige, der die eigene Geschichte zu verstehen versucht, sich selbst näher kommt. Sie hält es für wichtig, einen Sinn zu entwickeln für das Abseitige, das Ungewöhnliche und daran zu erinnern, wie arm Eifel und Rheinland waren, wie vernachlässigt, wie die Leute über Generationen belogen und ausgebeutet wurden, wie abhängig sie waren von ihren Äckern, wie chancenlos. Bekannt wurde Ute Bales besonders durch ihren Roman „Kamillenblumen“, der, in der Eifel spielend, das karge Leben einer Hausiererin in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts erzählt. In ihrem Debütroman „Der Boden dunkel“ (erscheint 2018 neu unter dem Titel „Amerika ist weit“) schildert Ute Bales die ungewöhnliche, wie verhängnisvolle Geschichte des Träumers Klaus Henkes vor dem Hintergrund eines Eifeldorfes im Kylltal nach dem Einrücken der US-amerikanischen Truppen zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Dem Roman „Peter Zirbes“ liegt die Geschichte des ersten Eifeldichters und gleichzeitig wandernden Porzellanhändlers Peter Zirbes zugrunde. Für diesen Roman erhielt Ute Bales 2010 den Sonderpreis im Wettbewerb Buch des Jahres Rheinland-Pfalz. „Unter dem großen Himmel“ (Untertitel: „Pitt Kreuzberg – Geschichte eines Unbeirrbaren“) zeichnet die Biografie des Malers Pitt Kreuzberg aus Ahrweiler nach, der sich unbeirrbar und leidenschaftlich der Kunst verschrieb. Der Roman „Großes Ey“ beschreibt das Leben und Wirken der legendären Düsseldorfer Galeristin Johanna Ey. Hintergrund des Anfang 2016 erschienenen Romans „Die Welt zerschlagen“ ist die Lebensgeschichte der Kölner DADA-Künstlerin Angelika Hoerle. 2018 erschien ihr Roman "Bitten der Vögel im Winter" über die NS-Rassenhygienikerin Eva Justin, die mitverantwortlich war für die Deportation tausender Sinti und Roma.
Online-Flyer Nr. 695 vom 06.03.2019
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Kurzerzählung
Hilde doch nicht
Von Ute Bales
Es war nur eine Ahnung, etwas Dumpfes, das in unseren Köpfen spazieren ging. Eine Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich weiß nicht mehr, wann Hilde in unsere Schule kam. Die Eltern waren Zugezogene. Sie sprachen Hochdeutsch und kleideten sich anders als die Leute im Dorf. Der Vater, groß, mit dunklen, lockigen Haaren, hatte ein Amt in unserer Kirche, erteilte Religionsunterricht, las Predigten vor, half die Kommunion auszuteilen und war nebenher als Sportlehrer eingesetzt. Die Mutter war eine graue, unscheinbare Frau, etwas gedrückt, mit scheuem Blick und ihrem Mann schon von der Haltung her unterlegen. Sie wohnten mit fünf Kindern in einem kahlen Neubau auf einem Hügel, der durch einen Bach, eine Straße und eine Bahnlinie vom Dorf abgetrennt war.
Es gab nur wenige Häuser dort und zwei Straßen. Die eine führte steil hinauf, vorbei an einem Waldstück mit einer holländischen Feriensiedlung und dem Auberg mit seinen fünf Felsen, die wie Finger in den Himmel ragten. Dahinter lag die Stadt. Die andere Straße verlief flacher und war eine Sackgasse. Im letzten Haus wohnte Hilde.
Wir Kinder waren selten dort. Auf dem Hügel gab es wenig, was uns reizte. Im Sinn geblieben sind mir Wogen schwarzer Schwalben, die lauter tschilpten als die im Dorf und tiefe Schleifen flogen, wenn wir uns mit unseren Fahrrädern näherten.
Auch bei Hilde war ich selten, aber ich weiß noch, dass sie einen Hund hatten, der in einen Zwinger gesperrt war und knurrte, wenn jemand sich näherte. Die Räume waren irgendwie unfertig. Teppiche, Tapeten und Vorhänge fehlten. Im Zimmer der Mädchen stand ein Klavier. Es stand mitten im Raum, in dem die Kinder herumtollen und Wände bemalen durften. Mehr als die bemalten Wände beeindruckte mich das Klavier. Obwohl ich mich nicht erinnern kann, Hilde jemals spielen gehört zu haben, so bin ich doch nahezu sicher, dass alle Kinder Musikunterricht bekamen. Bücher gab es auch, und hinter dem Haus stand eine Tischtennisplatte, grün, mit einem Netz in der Mitte und hölzernen Schlägern mit rotem Plastikbelag.
Die Leute lebten abgeschieden. Anders als meine Eltern mieden sie die Feste im Dorf, den Karneval und das Schützenfest. Nur in die Kirche kamen sie, waren katholisch, so wie wir, aber strenger und nüchterner.
Hilde ging in meine Klasse, saß neben Ully und trug gestrickte Hosen unter dem ewig gleichen Trägerkleid, was damals schon merkwürdig aussah. Ihre glatten, fast schwarzen Haare waren an den Kopf gebürstet und zum Zopf gebunden. Das Gesicht war blass und still, auch die Hände. Auffällig waren die blauen Augen, die man bei den dunklen Haaren nicht erwartete. Wenn ich mich nicht täusche, trug sie eine Brille. Sie hatte einen großen Bruder, Michael. Er ging in die Klasse über uns. Michael ähnelte dem Vater. Tonangebend wusste er alles besser.
Ich kann nicht mehr sagen, ob es in den ersten Schuljahren war, dass ich das Haus am Hügel betreten hatte oder später, als wir zusammen aufs Gymnasium gingen, denn auch in den ersten Jahren des Gymnasiums sehe ich Hilde nur schwach und ohne Konturen.
Damals war ich mit Ully befreundet und Hilde spielte keine Rolle. Wir hatten mit uns genug. Oft saßen wir nach der Schule auf einer Mauer, die dort stand, wo unsere Wege sich trennten, erzählten uns Geheimnisse, verglichen uns mit anderen, zerpflückten Gerüchte, die im Dorf herumgingen, entwarfen Pläne für die Zukunft. Auf keinen Fall wollten wir im Dorf bleiben. Stattdessen schwärmten wir von Italien, wo es uns hinzog, denn viel zu kalt war die Eifel. Während unsere Mütter das Mittagessen kochten und oft genug auf uns warteten, trödelten wir herum, träumten uns in die Luft, drehten Pirouetten mit Worten oder den Griff eines Kaugummiautomaten, der vor einem Lebensmittelladen an die Wand geschraubt war.
Als wir älter wurden, saßen wir nicht mehr auf der Mauer. Die Stadt war zu Fuß zu erreichen und es zog uns auf den Platz am Brunnen, wo wir belanglos schwätzend saßen und vorbeigehende Leute musterten, bis es kalt und dunkel wurde. Fast jeden Tag drehten wir eine Runde durchs Wicküler, eine verräucherte Kneipe am Bahnhof. Je nachdem, wer gerade da war, blieben wir. Das kam oft vor, denn die halbe Schule verkehrte hier. Der Wirt war es gewohnt, dass wir nicht immer etwas bestellten, denn dafür fehlte das Geld. Er war es auch gewöhnt, dass wir uns Zigaretten drehten, die wie Joints aussahen und es manchmal auch waren.
Im Wicküler lernten wir eine Menge Leute kennen, schlossen Freundschaften. Irgendwann war auch Hilde dabei. Sie hörte eher zu als dass sie sprach. Sprach sie aber, so tat sie es ruhig und treffsicher und wir merkten, dass ihre Beschäftigung mit Büchern ernsthaft und intensiv war. Die Schule zermürbte sie, das Vokabelnlernen, das Pauken, wie sie es nannte. Vor allem aber regte sie sich über ihren Vater auf, der sie ständig zum Hüten der Geschwister heranzog. Dass sie sich kaum bewegen könne, sagte sie und erzählte uns, dass ihr Vater sie am einzigen freien Nachmittag zu Sportstunden verpflichtet hätte. Wir gaben Ratschläge, rieten ihr, sich durchzusetzen, boten an, die Kleinen einfach zu unseren Treffen mitzubringen, was Hilde nur mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Seufzen kommentierte.
Damals begann unsere Freundschaft mit Hilde, die sich um ein Vielfaches verstärkte, als Hilde sich verliebte und das, was um uns geschah, uns herausforderte.
Etwas, das wir als Protest verstanden, überzog das Land. Häuser wurden durchsucht und Autos durchwühlt. In jedem öffentlichen Gebäude, auf der Post, vor der Sparkasse - überall klebten Fahndungsplakate. Die Namen der Gesuchten klangen nach Revolution: Baader, Meinhof, Raspe, Ensslin. Unsere Eltern waren sich einig. Dass die Sicherheit des Landes in Gefahr sei.
Wir hingegen hatten Verständnis für den Hass der Roten Fraktion auf die Nazis und den Dreck und den Filz in unserer Gesellschaft, auf den Kapitalismus und auf die Politik der USA. Dieses Verständnis nährte sich aus allem, was uns klein machte und Widerstand weckte: Ungerechtigkeiten, Verbote und Vorschriften, die wir nicht verstanden und überflüssig fanden. Wir hörten, dass Gudrun Ensslin die Tochter eines schwäbischen Pfarrers war und fanden Parallelen zu Hilde. Wir lasen den Spiegel, diskutierten, ob Gewalt das richtige Mittel für Veränderungen sei oder ob wir uns eher zu den Pazifisten zählen sollten. Es gefiel uns, dass die Gruppe so wütend war, so klug, so politisch, so frei, so anders.
In dieser Zeit also verliebte sich Hilde in Helmut. Die beiden passten zueinander, ähnelten sich in ihrer sanften Art. Helmut hatte lange blonde Locken, die Hilde inspirierten, ebenfalls die Haare offen zu tragen. Mit Helmut konnte man bestens über die Weltlage diskutieren. Er wollte später etwas Soziales studieren, worin wir ihn bestärkten, denn er war einfühlsam und klug und konnte es gut mit Kindern.
Ich weiß nicht mehr, wo die beiden sich trafen, aber ich ahne, dass es geheime Treffen waren, die irgendwann durch Hildes petzenden Bruder herauskamen und zur Folge hatten, dass Hilde über jeden Schritt, den sie tat, Rechenschaft ablegen musste.
Natürlich traf sie sich weiterhin mit Helmut. Die Sache gewann an Tragik und Hildes Liebe wuchs.
Dann kam das Wochenende, an dem Hildes Eltern mit Michael verreisten. Sie erzählte es beiläufig, auf dem Schulhof, und sofort begannen wir Pläne für den Abend zu schmieden, kamen aber zu keinem Ergebnis, da sich Hilde nicht von Zuhause fort wagte.
Es war ein Winterabend, fast mild. Ein Schneepflug hatte die Straße geräumt und den Schnee bis dicht an die Häuser geschoben. Wahrscheinlich überrumpelten wir Hilde, als wir in der Dunkelheit mit der gesamten Clique bei ihr auftauchten, denn wir waren mindestens acht. Sie stand da, strich sich das Haar mit den Händen zurecht und fuhr sich mit dem Finger unter den Augen entlang, als sie Helmut erblickte. Ich sehe die beiden noch vor mir, wie sie sich umarmten und küssten. Wir hatten Bierflaschen dabei, Tabak und Schallplatten, vielleicht auch eine Flasche Persiko. Das Zeug war modern damals.
Hilde war unsicher, ließ uns aber herein. Wir stellten fest, dass sie nicht allein war, sondern zwei der kleineren Geschwister uns neugierig beäugten, zutraulich wurden, uns schließlich umringten und Spielzeug heranschleppten. Natürlich wollten wir sie ins Bett schicken, was sich als schwierig erwies. Helmut schnappte sich ein Buch, verzog sich mit den Kindern auf eine Couch. Bald begannen die Kleinen ihre Augen zu reiben und verschwanden ohne Widerworte.
Wir saßen auf dem Boden vor dem Klavier, hätten gerne Räucherstäbchen abbrennen lassen, aber Hilde wehrte sich. Stattdessen zündeten wir Kerzen an, legten Platten auf, hörten Bob Dylan, die Stones, auch Genesis, tanzten Klammerblues zu `Je t' aime´, knutschten herum, redeten über die DDR und über einen Sprengstoffanschlag auf ein militärisches Tanklager in Gießen, mutmaßten, dass es ein amerikanisches gewesen war und dass es die Amis in Bitburg sicher auch bald treffen würde. Gerne hätten wir geraucht, aber sobald jemand Tabak auspackte, hob Hilde abwehrend die Hände.
Wir liefen auf Wolken, als wir das Haus in der Nacht verließen. Jemand kam auf die Idee, die Bierflaschen im Schnee verschwinden zu lassen, was natürlich dumm war, denn als Hildes Eltern anderentags auftauchten, plapperten nicht nur die Kleinen seltsames Zeug, auch die Flaschen wurden zu Verrätern.
Der Vater tobte, warf Hilde vor, seine Abwesenheit ausgenutzt zu haben und verhängte Hausarrest. Hilde durfte nicht mehr zu Schulveranstaltungen, geschweige denn zu Hantas mobiler Disko, die alle zwei Wochen in einem der Dörfer für Stimmung sorgte.
Sie saß zu Hause bei den Kleinen. Zur Schule wurde sie gebracht und abgeholt. Der Vater kannte den Stundenplan. Wenn er keine Zeit hatte, kam Michael. Nur in den Pausen hatten wir Hilde für uns. Dann tauchte auch Helmut manchmal auf, um sie zu sehen. Aber das war selten, denn Helmut musste arbeiten. Wir reichten Briefe weiter. Von Helmut an Hilde, von Hilde an Helmut. Manchmal heulte Hilde, aber nur wegen Helmut. Was den Vater betraf, so verhielt sie sich seltsam. Sie verteidigte ihn, fand Gründe für sein Tun, glaubte, dass er es gut meine und sie schützen wolle. Wir konnten es nicht fassen.
Es wurde Frühjahr. Hildes Arrest dauerte an. Der Ginster blühte, der Hügel war voller Flecken von rosafarbenem Klee und gelbem Löwenzahn. Die Luft wurde mild und warm. Hilde wurde dünner und blasser. Wir versorgten sie mit Büchern und Schallplatten, in denen wir Briefe von Helmut versteckten.
Unsere Wut auf Hildes Eltern wuchs. Ich bat meinen Vater etwas zu tun. Mein Vater wollte nichts hören. „Da mischen wir uns nicht ein“, sagte er, und dabei blieb es. Bei Ully war es genauso.
Vielleicht hatten wir das Wort Befreiung den Forderungen der RAF abgelauscht, vielleicht waren wir selbst darauf gekommen. Denn Befreiung nannten wir es. Wir wollten Hilde befreien, besser gesagt, wir mussten es tun. Befreien aus diesem Käfig und ihr die Freiheit bringen.
Wir rüsteten uns, banden uns ein buntes Tuch über das rechte Knie, hörten Stones so laut es ging.
Der Dienstagnachmittag schien uns geeignet, denn da hatten wir keine Schule.
Es war ein heißer Tag. Der Hügel war wie leer gefegt. Nur ein Mann jätete in einem Garten Unkraut zwischen jungen Pflanzen. Er sah nicht auf, als wir vorbeigingen. Auch an den Fenstern bewegte sich nichts, was im Nachhinein gut war, denn ich hatte mir mit einer Paketschnur eine Pappe um den Hals gehängt: „Ich bin für RAF!“ Die Pappe stärkte.
Hildes Zimmer lag Parterre, direkt neben dem Eingang. Wir fürchteten den Hund. Dennoch – an dieses Fenster wollten wir klopfen und Hilde herauszerren. Schnell musste es gehen, der Vater war zu Hause. Sein VW Bus parkte im Hof.
Wir hatten keine Idee, was danach geschehen sollte. Vage hatten wir über ein Versteck gesprochen, einen Schuppen, in den wir sie bringen wollten. Wichtig war nur die Befreiung.
Je näher wir dem Haus kamen, desto kürzer wurden die Schritte. Wir sahen uns nicht an. Ich ging mit geballten Fäusten, hatte Hildes Zimmerfenster vor Augen und stellte mir vor, wie glücklich sie bald sein würde.
Wir kamen nicht bis zur Tür. Hildes Vater stand plötzlich im Weg, baute sich vor uns auf, drohte damit, den rasend gewordenen Hund aus dem Zwinger zu lassen, machte Anstalten, uns zu packen. Der Hügel schwankte, auch das Haus, wir rannten, rannten, rannten, Hundegebell im Rücken. Die Pappe flog hoch und schlug mir gegen ein Auge. Ich riss sie mir vom Hals und warf sie auf den Weg.
Wir erwarteten Schlimmstes, malten uns aus, wie Hildes Vater unsere Eltern aufsuchen würde, fürchteten, in ein Heim gesteckt zu werden. Aber nichts passierte. Tagelang schlichen wir herum. Hilde sagte nichts, verhielt sich wie immer, bis wir herausfanden, dass sie von alldem gar nichts mitbekommen, ihr Vater nichts erwähnt hatte.
Wir waren enttäuscht, weil wir versagt hatten, schwiegen über das, was passiert war.
Es war im Juni, als Hilde aus heiterem Himmel die Sache mit Helmut beendete. Sie hatte ihm einen letzten Brief geschrieben und Helmut war untröstlich.
Dann waren wir dran.
Nur einen Tag später erklärte sie uns, dass sie fortziehen würden, Richtung Köln. Dass sie das Haus verkaufen würden, dass der Vater eine neue Stelle gefunden hätte, dass alles dort besser sei und anders, dass sie sich freue, von uns wegzukommen, denn wir seien schuld an ihrer Lage.
Wir waren wie vor den Kopf gestoßen, bewarfen sie mit Fragen, versuchten, uns zu verteidigen. Hilde wiederholte, was sie schon gesagt hatte. Dabei hatte ihr Gesicht einen unbewegten Ausdruck, wie im Schlaf. Sie sagte noch, dass es für alle besser sei, auch für uns, ließ uns zurück mit fragenden Gesichtern und Schuldgefühlen. Damals glaubten wir tatsächlich, dass alles unsere Schuld war.
Zu einem Abschied kam es nicht. Hilde verschwand von einem Tag auf den anderen. Zuerst waren wir wütend. Dann fehlte sie uns. Vor allem Ully litt. Wir suchten nach Erklärungen, fahndeten nach Hildes Adresse. Auch die Schule fanden wir heraus. Zuerst schrieben wir ihr Briefe. Einmal nur kam eine Antwort. Dass niemand mehr schreiben soll, stand auf dem Papier, darunter Hildes typisches, schnörkeliges H., das uns vertraut war.
Wir beschlossen, Hilde in ihrer Schule aufzusuchen, hingen über Straßenkarten, schätzten die Strecke auf 80 km und zählten unser Geld. Eine Bahnkarte war zu teuer. Wir entschieden uns zu trampen.
Den Eltern erzählte ich etwas von einer Schulveranstaltung, die bis zum Abend dauern würde. In meinem Fall war das einfach. Bei Ully gestaltete sich die Sache schwieriger, aber schließlich standen wir am verabredeten Tag an der Straße und hielten die Daumen hoch. Alles lief glatt. Schon vor der großen Pause waren wir dort, suchten das Gymnasium, fragten uns durch die Gänge, fanden Hildes Klasse, standen davor, als die Glocke losging, die Tür aufgerissen wurde und Schüler herausdrängten. Ich zupfte an den Fingernägeln.
Es waren nur Sekunden. Wir sahen sie sofort. Sie stand da und packte etwas in eine Mappe. Ully jubelte. „Hilde!“ Hilde hob den Kopf, erschrak, taumelte zurück, und dann geschah Unfassbares: Sie verkroch sich unter einer Bank und schrie: „Haut ab! Lasst mich! Haut doch ab!“ Wir erstarrten. Mit Einigem hatten wir gerechnet, aber damit nicht. Andere Schüler wurden aufmerksam, glotzten uns an. Wir gingen auf Hilde zu. „Aber Hilde!“ Hilde hatte alle Farbe verloren. „Lasst mich! Verschwindet!“ Sie kam unter der Bank hervor, raffte eilig ein paar Sachen vom Tisch und rannte an uns vorbei aus der Klasse.
Als sie so unvermutet wegrannte und ich sie von hinten sah, konnte ich, an was auch immer, erkennen, dass sie weinte.
Wir wollten hinterher, aber ein Lehrer versperrte uns den Weg, fragte, was wir in der Schule zu suchen hätten und was wir von Hilde wollten. „Nichts! Nichts!“ Wir faselten herum, drängten weiter, der Mann ließ uns gehen, aber der Moment war lang genug gewesen, dass wir Hilde im Getümmel der Pause aus den Augen verloren. Wir sahen auf den Toiletten nach, in der Bücherei, suchten die Flure ab. Nichts.
An diesem Tag sahen wir Hilde zum letzten Mal.
Enttäuscht saßen wir auf einer Bank am Bahnhof. Wir hatten Durst, zählten unser Geld. Es reichte nicht für Getränke. Plötzlich stand Michael vor uns. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt und sprühten Hass. „Was wollt ihr hier? Lasst Hilde in Ruhe! Sie will nichts von euch, ist froh, dass sie weg ist!“ Wir sprangen auf, rannten. Michael blieb uns auf den Fersen. Er hatte einen Fotoapparat umgehängt und versuchte, Fotos von uns zu machen. Wir rannten in Richtung Stadt.
Irgendwann lehnte ich japsend an einer Wand, die Lungen stachen, das Herz raste. Ich hatte Ully verloren. Aus Angst vor Michael flüchtete ich in einen Blumenladen. Eine Frau, die Sträuße band, sah, dass etwas nicht stimmte, beruhigte mich und gab mir zu trinken.
Der Nachmittag verlor schon an Farbe, als ich Ully auf dem Bahnhof wiederfand. Wir waren beide wie erschlagen. Hilde hatte uns doppelt verraten, denn sie musste Michael von unserem Auftauchen erzählt haben. Von einer Telefonzelle aus riefen wir Ullys Freund an, Ralf, der ein Auto hatte und sofort bereit war, uns zu holen. Er fuhr einen grünen R4 und erst als er in Bahnhofsnähe um die Ecke bog und auf uns zusteuerte, konnten wir wieder atmen.
Wir nannten ihn unseren Retter, auch Jahre später. Er brachte uns nach Hause. Niemand fragte, wo wir gewesen waren. Auch das Schuleschwänzen hatte keine Konsequenzen.
Nur das, was passiert war, schmerzte.
Viele Jahre später, ich lebte längst nicht mehr im Dorf und hatte aufgehört, nach einer Antwort zu suchen, ließen mich hingeworfene Worte eines Bekannten aufhorchen. Er war wie ich zum Schützenfest in unser Dorf gekommen, und wir standen an der mit bunten Lampions geschmückten Theke der Bitburger Brauerei. Gestützt auf den Tresen, eine Zigarette in der Hand, redete er von früher. Ich hatte wenig Lust über alte Zeiten zu reden, bremste ihn aber nicht, als er plötzlich von Hildes Vater anfing, von dessen Sportgruppe und dem Engagement für blutjunge Mädchen. Dabei konnte er ein Grinsen nicht verhehlen. Ich weiß noch, dass ich den Kopf schüttelte. „Ach, lass doch." Er aber kam in Fahrt, erzählte, was ich nicht wusste. Dass nämlich Hildes Vater damals ein Mädchen angefasst habe und dass sie Hals über Kopf weggezogen seien, ja, hätten wegziehen müssen, als die Sache drohte, ans Licht zu kommen. Er sah, wie ich zusammenzuckte. Dass niemand gewagt hätte, etwas zu sagen, fügte er hinzu, denn immerhin seien es doch angesehene Leute gewesen.
Die Worte stachen. Ich sah Hilde vor mir: so blass, so dünn. Meine Gedanken sprangen. Spät am Abend rief ich Ully an, zu der ich über die Jahre Kontakt gehalten hatte. Was ich berichtete, war wie ein Mosaikstein einer Geschichte, die immer noch kein Ende hatte. Wir zögerten mit unseren Worten. Was wir dachten, war schwer auszusprechen. Nein, Hilde doch nicht. Bestimmt nicht. Nein, das hätten wir doch gemerkt. Hilde doch nicht.
Ute Bales ist 1961 in Borler/Eifel geboren und in Gerolstein/Eifel aufgewachsen. Sie studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Kunst in Giessen und Freiburg/ Breisgau, wo sie als Dozentin an einer privaten Wirtschaftsakademie arbeitet. Schwerpunkte ihrer schriftstellerischen Arbeit sind Romane, in denen Menschen, Geschichte und Landschaft der Eifel und des Rheinlands untrennbar verbunden sind. Diese Komponenten bilden gleichsam das Charakteristische ihres Erzählstils. Für Ute Bales liegt es auf der Hand, dass derjenige, der die eigene Geschichte zu verstehen versucht, sich selbst näher kommt. Sie hält es für wichtig, einen Sinn zu entwickeln für das Abseitige, das Ungewöhnliche und daran zu erinnern, wie arm Eifel und Rheinland waren, wie vernachlässigt, wie die Leute über Generationen belogen und ausgebeutet wurden, wie abhängig sie waren von ihren Äckern, wie chancenlos. Bekannt wurde Ute Bales besonders durch ihren Roman „Kamillenblumen“, der, in der Eifel spielend, das karge Leben einer Hausiererin in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts erzählt. In ihrem Debütroman „Der Boden dunkel“ (erscheint 2018 neu unter dem Titel „Amerika ist weit“) schildert Ute Bales die ungewöhnliche, wie verhängnisvolle Geschichte des Träumers Klaus Henkes vor dem Hintergrund eines Eifeldorfes im Kylltal nach dem Einrücken der US-amerikanischen Truppen zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Dem Roman „Peter Zirbes“ liegt die Geschichte des ersten Eifeldichters und gleichzeitig wandernden Porzellanhändlers Peter Zirbes zugrunde. Für diesen Roman erhielt Ute Bales 2010 den Sonderpreis im Wettbewerb Buch des Jahres Rheinland-Pfalz. „Unter dem großen Himmel“ (Untertitel: „Pitt Kreuzberg – Geschichte eines Unbeirrbaren“) zeichnet die Biografie des Malers Pitt Kreuzberg aus Ahrweiler nach, der sich unbeirrbar und leidenschaftlich der Kunst verschrieb. Der Roman „Großes Ey“ beschreibt das Leben und Wirken der legendären Düsseldorfer Galeristin Johanna Ey. Hintergrund des Anfang 2016 erschienenen Romans „Die Welt zerschlagen“ ist die Lebensgeschichte der Kölner DADA-Künstlerin Angelika Hoerle. 2018 erschien ihr Roman "Bitten der Vögel im Winter" über die NS-Rassenhygienikerin Eva Justin, die mitverantwortlich war für die Deportation tausender Sinti und Roma.
Online-Flyer Nr. 695 vom 06.03.2019
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