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Literatur
Egbert Scheunemann: „Vom Anfang und vom Ende. Erzählungen, Kurzgeschichten, Dialoge“
Böse Schatten
Buchtipp von Harry Popow
Wer von einem versauten Leben oder gar von Selbstmord schreibt, so zu lesen im Klappentext des Buches von Egbert Scheunemann „Vom Anfang und vom Ende“, dem bleibt nur zu raten, ein Ticket für die neue Boing 737 Max zu kaufen. Spaß beiseite. Auch ihm, dem Politikwissenschaftler, Naturphilosophen und Buchautor, ist es – dem letzten Kapitel mit der Überschrift „Vom Ende – ein faustischer Pakt“ zu entnehmen – nicht wirklich ernst mit einem Sprung in die Tiefe. Es ist nur ein Traum.
Bereits zu seinem ersten Buch mit Kurzgeschichten „Trilogie des Scheiterns“, das ich von ihm rezensieren durfte, lud ich ihn gedanklich zu einem Gespräch in eine Gaststätte ein. Dort bescheinigte ich ihm einen gewissen Galgenhumor, viel Witz und ein unbändiges Bedürfnis nach Leben. Und nun, nach dem Lesen seines neuesten Werkes, sehe ich ihn in Gedanken auf einer Bühne. Und was passiert? Das Publikum applaudiert in Abständen, guckt interessiert aus der Wäsche, fühlt sich offenbar angesprochen und geht anschließend still nach Hause, ungeachtet dessen, dass sich interessanterweise besonders Gelbwesten mit starkem Beifall hervortaten.
Der Rezensent suchte vor allem einen inneren Zugang zu den elf Erzählungen und Dialogen zu finden. Beim nochmaligen gründlichen Lesen sprangen ihm zwei Begriffe förmlich ins Auge und ins Gedächtnis: Schöpfergeist und Schatten. Und das nicht nur in der einleitenden Erzählung über den im Matsch spielenden kleinen Jungen. Dieser formte aus Schlamm Häuser und Kanäle – er wollte etwas schöpfen, später Bauarbeiter werden, Häuser bauen für Flüchtlinge und ganze Städte –, als plötzlich hinter ihm ein Schatten auftauchte und ihm einen heftigen Tritt in den Rücken verpasste. Der kleine Junge fiel vornüber in die Pfütze und begrub seine Schöpfung unter sich. Der kleine Junge – offenbar das Sinnbild des Beginns des Nachdenkens im Leben des späteren Autors – schrie dem Schatten voller unbändiger Wut, aber machtlos hinterher. Er, der kleine Junge, konnte noch nicht wissen, „dass die Flucht seiner Familie, die Ursachen der Flucht – ein furchtbarer Krieg und die schlimmen Folgen –“ seine Familie „mehr und mehr zerstören würden“ (S. 11). Als aus dem kleinen Junge ein junger Mann wurde, wollte er alles besser machen in seinem Leben: „Er wollte die Ursachen untersuchen, die seine Familie zerstört hatten, die historischen, politischen, ökonomischen und sozialen Prozesse studieren und verstehen, die zu so viel Gewalt und Leid geführt hatten und noch immer führen.“ (S. 14)
Der einst in der Erinnerung schnell größer werdende Schatten hinter dem kleinen Jungen lässt dem in die Jahre gekommenen Mann in der – letzten – Geschichte über den faustischen Pakt keine Ruhe. Noch einmal stößt er ihm, dem nun alten Mann, in den Rücken, wieder mit feixendem Gelächter. Dieser fällt und begräbt sein gesamtes Leben unter sich – seine Schöpfung. Sinnbildlicher kann sich der Autor über ein vermeintlich sinnloses Dasein nicht äußern.
Diesen Zusammenhang zwischen schöpferisch leben wollen und die Gefahren von gefährlichen und bösartigen Schatten bedenkend, sind die weiteren, teils ernsten, teils witzigen Einzelbeiträge gut zu verstehen. So das Bemühen von Egbert Scheunemann, in einem Dialog, einem Disput zwischen anonymisierten Dialogpartnern „A“ und „B“ das Universum, Gott oder auch den Urknall zu thematisieren und die Existenz von Gott als Schwachsinn zu charakterisieren. Hochinteressant sind die Gedanken über den Sinn des Lebens, über die Entfaltung der Persönlichkeit, über den systembedingten Zwangskonsum, über den Autowahnsinn, über die Idee von Marx, die Erwerbstätigkeit und sinnlosen Konsum, also das Reich der Notwendigkeit, zu reduzieren zugunsten des Reiches der Freiheit und freier individueller Entwicklungsmöglichkeiten. Scheunemanns Attacke gegen das kapitalistische System verschärft sich, wenn er im Dialog – wieder zwischen „A“ und „B“ – ab Seite 61 über Geschmack und Wahrheit philosophiert. Mit der Globalisierung zeichne sich eine Weltgesellschaft ab, eine Universalisierung von Geschmäckern. Die Menschheit stecke noch in ihrer Jugendphase, sie sei noch nicht richtig mündig, sie laufe Gefahr, eine „finale Degenerationsphase“ zu erreichen.
Doch der Autor Egbert Scheunemann lässt sich nicht unterkriegen. Er kehrt auf den Boden der Realitäten im gewöhnlichen Alltag zurück, auf die kleinen Unwägbarkeiten, Nachlässigkeiten und Versäumnisse, die jeden Menschen mehr oder weniger stets begleiten. Da berichtet er von einem beinahe Zusammenstoß mit einem Radfahrer, von einer fahrlässigen Überquerung einer Straße mit Todesfolge, vom Tod eines krebskranken engen Freundes sowie von einer zunächst unerfüllten Liebe zu einer Kellnerin mit Namen Eléni. Fazit: Das Große bedenkend steckt auch im Kleinen das ganz Große, das sehr Menschliche.
Höchst aktuell ist der Brief des Autors an einen ehemaligen Freund. Er wirft ihm vor, einst gemeinsam anerkannte Werte über Bord zu werfen, sie mit Füßen zu treten, die Ehrlichkeit des Autors als geistige Provokation zu betiteln, verbale Aggressionen gegen die Vernunft zu fabrizieren, hässlichen Motiven wie Geldgier nachzuhängen. Er mahnt, Freundschaften seien doch keine Konkurrenzverhältnisse. Zweifellos ein Problem der mental oft auseinanderdriftenden Gesellschaft im Kapitalismus, in dem der illusorische Ruf nach mehr menschlichem Zusammenhalt in der Regel wie eine Luftblase platzt.
In der letzten Geschichte mit der Überschrift „Vom Ende – ein faustischer Pakt“ spricht der Autor Egbert Scheunemann Klartext, sozusagen ein Resümee seines Traumes von einer besseren Welt: „Der alte Mann hatte viele Bücher und Hunderte von Artikeln geschrieben, in denen er die Ursachen dieser Kriege und Konflikte unter Menschen und auch des großen Krieges der Menschheit gegen die Natur analysierte und darstellte und Wege aufzeigte in Richtung einer humaneren, sozialeren, gerechteren Welt, die im Frieden mit der Natur lebt. Aber er musste seit langer Zeit erleben, wie fast alles immer schlimmer wurde.“ (S. 98) Sprach- und hilflos würde er, der alte Mann, nun dastehen und fast aufgeben im Kampf gegen den Moloch aus Profitsucht, Kaltherzigkeit, selbst gewählter Unmündigkeit und Knechtschaft. Er wisse, ein einzelner Mensch könne nicht viel bewirken, aber er fühle sich nicht allein, denn sehr viele protestierten gegen den galoppierenden Irrsinn und die wachsende Unmenschlichkeit.
Das schmale Büchlein Egbert Scheunemanns mit seinen 104 Seiten ist ein Knaller mit viel, mit sehr viel Tiefsinn. Es ermuntert den Leser, mehr noch, es provoziert ihn, noch stärker in politischen Zusammenhängen zu denken. Noch klarer nach Ursachen zu fragen, der zunehmenden Verdummung durch die Politik und die hörigen Medien Paroli zu bieten. Der Autor stellt sehr hohe Ansprüche an sein Denken und Tun. Er kann mit Recht auch auf sehr interessierte Leser hoffen. Sein Buch – es könnte auch mit „Zwischen Anfang und Ende“ betitelt werden – endet mit einem Satz aus dem Talmud: „‚Wer auch nur ein Menschenleben rettet, der rettet die ganze Welt.‘ Und sei es sein eigenes Leben. Vor den bösen Schatten dieser Welt. Und vor sich selbst.“
Egbert Scheunemann: „Vom Anfang und vom Ende. Erzählungen, Kurzgeschichten, Dialoge“
Taschenbuch, 104 Seiten, Verlag: Books on Demand, Auflage: 1 (4. März 2019), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3748157932, ISBN-13: 978-3748157939, 9,80 Euro
Online-Flyer Nr. 699 vom 03.04.2019
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Literatur
Egbert Scheunemann: „Vom Anfang und vom Ende. Erzählungen, Kurzgeschichten, Dialoge“
Böse Schatten
Buchtipp von Harry Popow
Wer von einem versauten Leben oder gar von Selbstmord schreibt, so zu lesen im Klappentext des Buches von Egbert Scheunemann „Vom Anfang und vom Ende“, dem bleibt nur zu raten, ein Ticket für die neue Boing 737 Max zu kaufen. Spaß beiseite. Auch ihm, dem Politikwissenschaftler, Naturphilosophen und Buchautor, ist es – dem letzten Kapitel mit der Überschrift „Vom Ende – ein faustischer Pakt“ zu entnehmen – nicht wirklich ernst mit einem Sprung in die Tiefe. Es ist nur ein Traum.
Bereits zu seinem ersten Buch mit Kurzgeschichten „Trilogie des Scheiterns“, das ich von ihm rezensieren durfte, lud ich ihn gedanklich zu einem Gespräch in eine Gaststätte ein. Dort bescheinigte ich ihm einen gewissen Galgenhumor, viel Witz und ein unbändiges Bedürfnis nach Leben. Und nun, nach dem Lesen seines neuesten Werkes, sehe ich ihn in Gedanken auf einer Bühne. Und was passiert? Das Publikum applaudiert in Abständen, guckt interessiert aus der Wäsche, fühlt sich offenbar angesprochen und geht anschließend still nach Hause, ungeachtet dessen, dass sich interessanterweise besonders Gelbwesten mit starkem Beifall hervortaten.
Der Rezensent suchte vor allem einen inneren Zugang zu den elf Erzählungen und Dialogen zu finden. Beim nochmaligen gründlichen Lesen sprangen ihm zwei Begriffe förmlich ins Auge und ins Gedächtnis: Schöpfergeist und Schatten. Und das nicht nur in der einleitenden Erzählung über den im Matsch spielenden kleinen Jungen. Dieser formte aus Schlamm Häuser und Kanäle – er wollte etwas schöpfen, später Bauarbeiter werden, Häuser bauen für Flüchtlinge und ganze Städte –, als plötzlich hinter ihm ein Schatten auftauchte und ihm einen heftigen Tritt in den Rücken verpasste. Der kleine Junge fiel vornüber in die Pfütze und begrub seine Schöpfung unter sich. Der kleine Junge – offenbar das Sinnbild des Beginns des Nachdenkens im Leben des späteren Autors – schrie dem Schatten voller unbändiger Wut, aber machtlos hinterher. Er, der kleine Junge, konnte noch nicht wissen, „dass die Flucht seiner Familie, die Ursachen der Flucht – ein furchtbarer Krieg und die schlimmen Folgen –“ seine Familie „mehr und mehr zerstören würden“ (S. 11). Als aus dem kleinen Junge ein junger Mann wurde, wollte er alles besser machen in seinem Leben: „Er wollte die Ursachen untersuchen, die seine Familie zerstört hatten, die historischen, politischen, ökonomischen und sozialen Prozesse studieren und verstehen, die zu so viel Gewalt und Leid geführt hatten und noch immer führen.“ (S. 14)
Der einst in der Erinnerung schnell größer werdende Schatten hinter dem kleinen Jungen lässt dem in die Jahre gekommenen Mann in der – letzten – Geschichte über den faustischen Pakt keine Ruhe. Noch einmal stößt er ihm, dem nun alten Mann, in den Rücken, wieder mit feixendem Gelächter. Dieser fällt und begräbt sein gesamtes Leben unter sich – seine Schöpfung. Sinnbildlicher kann sich der Autor über ein vermeintlich sinnloses Dasein nicht äußern.
Diesen Zusammenhang zwischen schöpferisch leben wollen und die Gefahren von gefährlichen und bösartigen Schatten bedenkend, sind die weiteren, teils ernsten, teils witzigen Einzelbeiträge gut zu verstehen. So das Bemühen von Egbert Scheunemann, in einem Dialog, einem Disput zwischen anonymisierten Dialogpartnern „A“ und „B“ das Universum, Gott oder auch den Urknall zu thematisieren und die Existenz von Gott als Schwachsinn zu charakterisieren. Hochinteressant sind die Gedanken über den Sinn des Lebens, über die Entfaltung der Persönlichkeit, über den systembedingten Zwangskonsum, über den Autowahnsinn, über die Idee von Marx, die Erwerbstätigkeit und sinnlosen Konsum, also das Reich der Notwendigkeit, zu reduzieren zugunsten des Reiches der Freiheit und freier individueller Entwicklungsmöglichkeiten. Scheunemanns Attacke gegen das kapitalistische System verschärft sich, wenn er im Dialog – wieder zwischen „A“ und „B“ – ab Seite 61 über Geschmack und Wahrheit philosophiert. Mit der Globalisierung zeichne sich eine Weltgesellschaft ab, eine Universalisierung von Geschmäckern. Die Menschheit stecke noch in ihrer Jugendphase, sie sei noch nicht richtig mündig, sie laufe Gefahr, eine „finale Degenerationsphase“ zu erreichen.
Doch der Autor Egbert Scheunemann lässt sich nicht unterkriegen. Er kehrt auf den Boden der Realitäten im gewöhnlichen Alltag zurück, auf die kleinen Unwägbarkeiten, Nachlässigkeiten und Versäumnisse, die jeden Menschen mehr oder weniger stets begleiten. Da berichtet er von einem beinahe Zusammenstoß mit einem Radfahrer, von einer fahrlässigen Überquerung einer Straße mit Todesfolge, vom Tod eines krebskranken engen Freundes sowie von einer zunächst unerfüllten Liebe zu einer Kellnerin mit Namen Eléni. Fazit: Das Große bedenkend steckt auch im Kleinen das ganz Große, das sehr Menschliche.
Höchst aktuell ist der Brief des Autors an einen ehemaligen Freund. Er wirft ihm vor, einst gemeinsam anerkannte Werte über Bord zu werfen, sie mit Füßen zu treten, die Ehrlichkeit des Autors als geistige Provokation zu betiteln, verbale Aggressionen gegen die Vernunft zu fabrizieren, hässlichen Motiven wie Geldgier nachzuhängen. Er mahnt, Freundschaften seien doch keine Konkurrenzverhältnisse. Zweifellos ein Problem der mental oft auseinanderdriftenden Gesellschaft im Kapitalismus, in dem der illusorische Ruf nach mehr menschlichem Zusammenhalt in der Regel wie eine Luftblase platzt.
In der letzten Geschichte mit der Überschrift „Vom Ende – ein faustischer Pakt“ spricht der Autor Egbert Scheunemann Klartext, sozusagen ein Resümee seines Traumes von einer besseren Welt: „Der alte Mann hatte viele Bücher und Hunderte von Artikeln geschrieben, in denen er die Ursachen dieser Kriege und Konflikte unter Menschen und auch des großen Krieges der Menschheit gegen die Natur analysierte und darstellte und Wege aufzeigte in Richtung einer humaneren, sozialeren, gerechteren Welt, die im Frieden mit der Natur lebt. Aber er musste seit langer Zeit erleben, wie fast alles immer schlimmer wurde.“ (S. 98) Sprach- und hilflos würde er, der alte Mann, nun dastehen und fast aufgeben im Kampf gegen den Moloch aus Profitsucht, Kaltherzigkeit, selbst gewählter Unmündigkeit und Knechtschaft. Er wisse, ein einzelner Mensch könne nicht viel bewirken, aber er fühle sich nicht allein, denn sehr viele protestierten gegen den galoppierenden Irrsinn und die wachsende Unmenschlichkeit.
Das schmale Büchlein Egbert Scheunemanns mit seinen 104 Seiten ist ein Knaller mit viel, mit sehr viel Tiefsinn. Es ermuntert den Leser, mehr noch, es provoziert ihn, noch stärker in politischen Zusammenhängen zu denken. Noch klarer nach Ursachen zu fragen, der zunehmenden Verdummung durch die Politik und die hörigen Medien Paroli zu bieten. Der Autor stellt sehr hohe Ansprüche an sein Denken und Tun. Er kann mit Recht auch auf sehr interessierte Leser hoffen. Sein Buch – es könnte auch mit „Zwischen Anfang und Ende“ betitelt werden – endet mit einem Satz aus dem Talmud: „‚Wer auch nur ein Menschenleben rettet, der rettet die ganze Welt.‘ Und sei es sein eigenes Leben. Vor den bösen Schatten dieser Welt. Und vor sich selbst.“
Egbert Scheunemann: „Vom Anfang und vom Ende. Erzählungen, Kurzgeschichten, Dialoge“
Taschenbuch, 104 Seiten, Verlag: Books on Demand, Auflage: 1 (4. März 2019), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3748157932, ISBN-13: 978-3748157939, 9,80 Euro
Online-Flyer Nr. 699 vom 03.04.2019
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