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Literatur
Zum Roman "Bitten der Vögel im Winter" von Ute Bales
Keinerlei Hoffnung, dass sich das alles nicht wiederholen könnte
Rezension von Klaus Hansen
„Robert Ritter und Eva Justin waren zentrale Vorbereiter und Mittäter der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik an den so genannten Zigeunern. Ihre Rassengutachten waren Todesurteile…“ So beginnt der Epilog des Romans auf Seite 392. Das vorliegende Buch ist ein Dokumentar-Roman, der zwischen 1936 und 1945 spielt, hauptsächlich in Berlin. Die Namen der Protagonisten sind Klarnamen. Das Buch bewegt sich auf einem gut recherchierten historischen Terrain. Detailfreude und Sprachmacht der Autorin sorgen für eindrückliche Bilder aus einem verheerenden Krieg und einem trostlosen Lagerleben.
Personal
Der Mediziner und Rassenhygieniker Dr. Robert Ritter ist Vorgesetzter der jungen Krankenschwester (und später promovierten „Bastardbiologin“) Eva Justin, die an seiner Seite zur Geliebten und kaltblütigen Rassenfanatikerin wird. Justin verfasst an die zehntausend Gutachten, die zur Zwangssterilisation und Tötung von Sinti und Roma führen.
Liebesleid
Die ledige und um einiges jüngere Eva ist dem verheirateten Robert verfallen. Die Geschichte eines ungleichen Liebespaars grundiert und durchzieht den Roman. Das „Fräulein Justin“, das Eva für „Herrn Dr. Ritter“ tagsüber und im Dienst ist, wird nach Feierabend zum Ziel seiner Triebabfuhr. Sie glaubt an Liebe, er nutzt sie als Sexualobjekt und Naherholungsgebiet.
Faschismus
Der Roman ist aus der rassistischen Sicht und Gedankenwelt der Täterin Eva Justin geschrieben. Die Autorin unternimmt nichts, um Mitgefühl für die Täterin zu wecken. Aber sie unternimmt auch nichts, um deren Taten mit erhobenem Zeigefinger zu verurteilen. Die große Leistung des Romans besteht darin, die grausamen Details der alltäglichen „Rassenpflege“ schonungslos zu schildern und darüber hinaus zu zeigen, wie das moralisch Böse und Falsche zum Guten und geboten Richtigen werden konnte, ohne dass sich die ausübenden Personen großartig verändern mussten: Sie waren Kinder der Kaiserzeit, autoritär erzogen, der Obrigkeit untertan und also prädestinierte Vollzugsorgane, die dem kategorischen Imperativ des Führerprinzips entgegen kamen: Handle stets so, dass der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.
Bildung schützt vor nichts
Der humanistisch gebildete Dr. Ritter, inzwischen Direktor des Kriminalbiologischen Instituts der Sicherheitspolizei, beruft sich auf Kant, Voltaire und andere Philosophen von Weltgeltung, wenn er die Überlegenheit der weißen Rasse behauptet, deren Reinerhaltung seine Arbeit dient. „Fräulein Justin“ beruft sich auf Vorbilder wie Marie Curie und Florence Nightingale. Selbstlos wie diese und in der Arbeit am gemeinsamen Werk aufgehend, so möchte sie sein. Im Falle Justin besteht das gemeinsame Werk darin, Deutschland von Untermenschen zu befreien und zur Entstehung einer Elite-Rasse weißer Arier beizutragen.
Kälte hilft
Kälte und Mitleidlosigkeit sowohl gegenüber dem großen „Gesindel“ („Juden, Zigeuner, Neger“) als auch dem kleinen „Gesindel“ („Kriminelle, Alkoholiker, Huren“) werden zum moralischen Gebot und zur persönlichen Stärke. So hat es Heinrich Himmler in seiner berüchtigten „Posener Rede“ von 1943 gefordert. Justin und Ritter handelten danach bereits lange vorher. Eines Himmler hätte es in ihrem Fall nicht bedurft. Was wir heute Barbarei, Zivilisationsbruch und Menschheitsverbrechen nennen, war für die Täter zum Zeitpunkt ihres Wirkens gemeinwohlorientierter Altruismus. Man war vom Gefühl beseelt, Teil von etwas menschheitsgeschichtlich Großem zu sein, für das sich jedes persönliche Opfer lohnte. Folglich arbeitete Justin bis zum Umfallen und gönnte sich, anders als ihre nicht ganz so besessenen Institutskollegen, keine Ablenkung.
Schwestern im Geiste
Eva Justin ist eine geistige Schwester von Melitta Maschmann, der BDM-Führerin, die Rechenschaft über ihr Leben als fanatische Nationalsozialistin im Buch „Fazit“ (1963) abgelegt hat. Wie „Fazit“ ist auch „Bitten der Vögel im Winter“ eine aufschlussreiche Studie der politischen Verführbarkeit jugendlichen Diensteifers. Eine der Quellen für den populistischen Erfolg des Nationalsozialismus überhaupt dürfte die geschickte Nutzbarmachung adoleszenten Übereifers gewesen sein.
Dienstbare Wissenschaft
Das Buch ist auch ein wissenschaftskritischer Roman. Schonungslos wird gezeigt, wie eine Rassenbiologie mit den Mitteln der empirischen Forschung die Ausrottung der Zigeuner quasi-wissenschaftlich begründet und legitimiert. Der „unverbesserliche Zigeuner als Volksschädling“ ist eine Erfindung und Fiktion dieser „Wissenschaft“, die allerdings zu höchst realen Vernichtungsmaßnahmen geführt hat. Das am Ende der 1920er-Jahre von William Isaac Thomas formulierte „Thomas-Theorem“ („Wenn Menschen Situationen als real definieren, so sind sie real in ihren Konsequenzen“) erfährt in dem Roman seine grausame Bestätigung. Mochten die Zigeunerkinder in den Internierungslagern gegenüber Frau Justin, die sie mit zum Teil abenteuerlichen Instrumenten („Nasentiefenmesser“) untersuchte, noch so freundlich, zuvorkommend und hilfsbereit gewesen sein, es wurde ihnen als rassetypische „Hinterhältigkeit“ und „Verschlagenheit“ ausgelegt. Sie waren für alle Zeit abgestempelt und dem Tode geweiht. Der KZ-Arzt Josef Mengele hat sie Versuchstieren gleichgesetzt und „meine Meerschweinchen“ genannt.
Wende-Roman
Der Dokumentar-Roman von Ute Bales ist am Ende auch ein Wende-Buch. Kaum dass der Krieg vorbei und die totale Kapitulation besiegelt, werden aus Rassenfanatikern mitfühlende Zigeunerfreunde, die Schlimmeres verhindert haben. Forscher berufen sich darauf, nur Wissenschaftler gewesen zu sein und keine Politiker, Befehlsempfänger und keine Gesetzgeber. Die Behörden im Nachkriegsdeutschland folgen den fadenscheinigen Ausflüchten. Robert Ritter wird als „Mitläufer“ entnazifiziert, Eva Justin als „nicht belastet“ eingestuft. Beide finden 1947 im Sozialdienst der Stadt Frankfurt am Main neue Arbeit. Beide sterben früh; der eine mit 50, die andere mit 57 Jahren.
Titel
Der Titel des Romans gibt Rätsel auf. „Bitten der Vögel im Winter“. Man fühlt sich an das Kindergedicht von Bert Brecht erinnert: „Die Vögel warten im Winter vor dem Fenster“. Da geht es um fröhliche Sangesgenossen, die uns den Sommer über erfreuen, aber im Winter in große Not geraten und darum auf unsere Hilfe angewiesen sind. Sind „Vögel“ eine Metapher für „Zigeuner“? Und stellt uns die Not der Vögel im Winter auf die Probe der Mitgeschöpflichkeit? Im vorliegenden Roman bestehen wir Menschen diese Probe gegenüber unseresgleichen nicht.
Fazit
Ein Roman über zwei Kinder ihrer Zeit, zu Untertanen erzogen und geschlagen mit der Verblendung, gottgleiche Herren über Leben und Tod zu sein. Ein Blick in die Seelen derer, die Daniel Jonah Goldhagen „Hitlers willige Vollstrecker“ genannt hat. Das Buch hinterlässt einen aufgewühlten und zugleich wachsamen Leser, weil es keinerlei Hoffnung macht, dass sich das alles nicht wiederholen könnte.
Ute Bales: Bitten der Vögel im Winter
Roman, Rhein-Mosel-Verlag, Zell, 2018, 410 Seiten, Hardcover, 22,80 Euro
Pressetext zum Buch
Es braucht Mut, einen Roman aus der Perspektive einer NS-Täterin zu schreiben und Ute Bales ist mehrfach gewarnt worden. Sie hat es trotzdem getan und beschreibt in ihrem neuen Werk „Bitten der Vögel im Winter“ ein tiefdunkles Kapitel der deutschen Geschichte, über das bis heute weitgehend geschwiegen wird. Es geht um die Verfolgung der Sinti und Roma und es geht um Eva Justin, eine der bekanntesten „Rassenforscherinnen“ zur Zeit des Nationalsozialismus.
Es ist ein aufwühlender Roman, der kontrovers diskutiert wird. Die Hauptfigur, Eva Justin, ist grotesk, widersprüchlich, ungeheuerlich. Ute Bales erzählt von Selektionen in Jugendgefängnissen, von nächtlichen Übergriffen auf Lagerinsassen, von Kinderspielen, die über Leben und Tod entscheiden. Eva Justin ist keine Phantasiefigur. Sie bewegt sich auf einem gut recherchierten, historischen Terrain. Orte und Personen, die unfassbaren Verbrechen und die damit verbundenen administrativen Vorgehensweisen hat es wirklich gegeben. Historische, politische und psychologische Ebenen verschmelzen: Was ist der Mensch und warum wird er zum Täter?
Eva Justin wurde im Kaiserreich geboren. Ute Bales schildert deren Kindheit, die strenge Erziehung und den schon früh auffälligen Drang, alles zu sortieren und zu ordnen. Hier mögen die Wurzeln liegen für ihre spätere monströse Aufgabe im Nazi-Reich.
Als junge Frau nimmt Justin an einem Lehrgang für Krankenschwestern in Tübingen teil und lernt dort Dr. Robert Ritter kennen, Oberarzt mit besten Karriereaussichten, verheiratet. An Ritter ist nichts zufällig, nichts nebensächlich. Sie ist bereit, als er fragt, ob sie seine Arbeit unterstützen will. Saubere Menschen sind sein Ziel. Eine „Rasse“ ohne Makel. Von Anfang an teilt Justin seine Lust zu forschen, unterstützt seine Arbeit und geht bald eine Beziehung mit ihm ein, die in ein sexuelles Abhängigkeitsverhältnis führt, das als Analogie der Abhängigkeit der Deutschen zu Hitler gelesen werden kann. Konsequent tut Justin das, was Ritter sagt, hinterfragt nichts, sieht weg, wo es heikel wird, verbeugt sich vor jedem seiner Worte.
1936 folgt sie ihm nach Berlin, wo er zum Leiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt“ berufen wird. Die Forschungsstelle befasst sich hauptsächlich mit „Zigeuner-Gutachten“. Im Rahmen großangelegter Aktionen zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ vermessen, verhören und klassifizieren die Arbeitsgruppen, zu denen Eva Justin gehört, Tausende Sinti und Roma und legen „Sippenarchive“ an. Justins Verhältnis zu Ritter führt dazu, dass sie ein immenses Arbeitstempo an den Tag legt. Sie glaubt einer großen Bewegung anzugehören, Teil einer gleichgesinnten Gemeinschaft zu sein.
1937 beginnt sie, auf Ritters Wunsch hin, neben ihrer Tätigkeit als „Rassenforscherin“, ein Studium der Anthropologie und macht sich auf dem „Zigeunerrastplatz“ Berlin-Marzahn, wo immer mehr Sinti und Roma konzentriert werden, bald einen Namen als „Zigeuner-Expertin“. Die Gutachten, die sie und die Kollegen verfassen, dienen als Grundlage, Sinti und Roma in Lager zu deportieren, wo sie entwürdigt, gefoltert, verstümmelt und ermordet werden.
Um die Gutachten aufzuwerten, verlangt Ritter, dass Justin eine Doktorarbeit schreiben soll. Er hat Bedenken, die massenhaften Bewertungen, die Todesurteilen gleichkommen, von einer Studentin unterschreiben zu lassen. Obwohl Justin kein abgeschlossenes Studium vorweisen kann, wird sie mithilfe seiner einflussreichen Kollegen zur Promotion zugelassen. In ihrer Arbeit untersucht sie, inwiefern „Zigeunerkinder“ erziehbar sind oder nicht. 1942 reist sie zu diesem Zweck ins schwäbische Mulfingen, wo ihr in einem katholischen Kinderheim 40 Sinti-Kinder zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt werden. Die Heimkinder bleiben so lange von der „Endlösung“ verschont, wie sie Justin als Versuchsobjekte nützen. Nach Abschluss der Doktorarbeit werden sie der SS übergeben und nach Auschwitz ausgewiesen.
Bei allem, was sie tut, bleibt Justin unzugänglich und kalt. Nur Ritter gegenüber zeigt sie Gefühl. Erbarmungslos reißt sie Familien auseinander, lässt Leute verhaften und Frauen, wenn sie nicht spuren, die Haare abschneiden. Sie weiß, was sie tut. Fassungslos verfolgt man, wie sie Kinder aushorcht, Leute denunziert, eine Schwangere zur Zwangsabtreibung schickt. Bei alldem begreift Justin nicht, dass alle angeblichen Eigenschaften, die sie den „Zigeunern“ zuschreibt – Dummheit, Gemeinheit, Schwachheit – ihre eigenen Eigenschaften sind.
„Bitten der Vögel im Winter“ erinnert eindrücklich an die mörderische Politik der NS-Zeit, die auf Basis einer verheerenden Rassenideologie unter anderem zur Vernichtung von mehr als 500.000 Sinti, Roma und Jenischen in Deutschland und Europa führte.
Ute Bales, 1961 in der Eifel geboren und dort aufgewachsen, studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Kunst in Giessen und Freiburg, wo sie seither lebt und arbeitet. Sie ist Mitglied im Literaturwerk Rheinland-Pfalz-Saar e.V., im Literarischen Verein der Pfalz, im Literatur Forum Südwest e.V. Freiburg, gehört dem Kunstverein Weißenseifen/Eifel an sowie der Künstlergruppe SternwARTe Daun. Sie hat bisher sieben Romane veröffentlich sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Essays. Der Roman „Bitten der Vögel im Winter“ ist mit dem Martha-Saalfeld-Förderpreis 2018 des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet worden.
Siehe auch Romanauszüge:
Auszug 1
Kinderheim Mulfingen, 1942
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25728
Auszug 2
Berlin, 1936
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25747
Auszug 3
Polen, 1942
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25762
Online-Flyer Nr. 700 vom 10.04.2019
Druckversion
Literatur
Zum Roman "Bitten der Vögel im Winter" von Ute Bales
Keinerlei Hoffnung, dass sich das alles nicht wiederholen könnte
Rezension von Klaus Hansen
„Robert Ritter und Eva Justin waren zentrale Vorbereiter und Mittäter der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik an den so genannten Zigeunern. Ihre Rassengutachten waren Todesurteile…“ So beginnt der Epilog des Romans auf Seite 392. Das vorliegende Buch ist ein Dokumentar-Roman, der zwischen 1936 und 1945 spielt, hauptsächlich in Berlin. Die Namen der Protagonisten sind Klarnamen. Das Buch bewegt sich auf einem gut recherchierten historischen Terrain. Detailfreude und Sprachmacht der Autorin sorgen für eindrückliche Bilder aus einem verheerenden Krieg und einem trostlosen Lagerleben.
Personal
Der Mediziner und Rassenhygieniker Dr. Robert Ritter ist Vorgesetzter der jungen Krankenschwester (und später promovierten „Bastardbiologin“) Eva Justin, die an seiner Seite zur Geliebten und kaltblütigen Rassenfanatikerin wird. Justin verfasst an die zehntausend Gutachten, die zur Zwangssterilisation und Tötung von Sinti und Roma führen.
Liebesleid
Die ledige und um einiges jüngere Eva ist dem verheirateten Robert verfallen. Die Geschichte eines ungleichen Liebespaars grundiert und durchzieht den Roman. Das „Fräulein Justin“, das Eva für „Herrn Dr. Ritter“ tagsüber und im Dienst ist, wird nach Feierabend zum Ziel seiner Triebabfuhr. Sie glaubt an Liebe, er nutzt sie als Sexualobjekt und Naherholungsgebiet.
Faschismus
Der Roman ist aus der rassistischen Sicht und Gedankenwelt der Täterin Eva Justin geschrieben. Die Autorin unternimmt nichts, um Mitgefühl für die Täterin zu wecken. Aber sie unternimmt auch nichts, um deren Taten mit erhobenem Zeigefinger zu verurteilen. Die große Leistung des Romans besteht darin, die grausamen Details der alltäglichen „Rassenpflege“ schonungslos zu schildern und darüber hinaus zu zeigen, wie das moralisch Böse und Falsche zum Guten und geboten Richtigen werden konnte, ohne dass sich die ausübenden Personen großartig verändern mussten: Sie waren Kinder der Kaiserzeit, autoritär erzogen, der Obrigkeit untertan und also prädestinierte Vollzugsorgane, die dem kategorischen Imperativ des Führerprinzips entgegen kamen: Handle stets so, dass der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.
Bildung schützt vor nichts
Der humanistisch gebildete Dr. Ritter, inzwischen Direktor des Kriminalbiologischen Instituts der Sicherheitspolizei, beruft sich auf Kant, Voltaire und andere Philosophen von Weltgeltung, wenn er die Überlegenheit der weißen Rasse behauptet, deren Reinerhaltung seine Arbeit dient. „Fräulein Justin“ beruft sich auf Vorbilder wie Marie Curie und Florence Nightingale. Selbstlos wie diese und in der Arbeit am gemeinsamen Werk aufgehend, so möchte sie sein. Im Falle Justin besteht das gemeinsame Werk darin, Deutschland von Untermenschen zu befreien und zur Entstehung einer Elite-Rasse weißer Arier beizutragen.
Kälte hilft
Kälte und Mitleidlosigkeit sowohl gegenüber dem großen „Gesindel“ („Juden, Zigeuner, Neger“) als auch dem kleinen „Gesindel“ („Kriminelle, Alkoholiker, Huren“) werden zum moralischen Gebot und zur persönlichen Stärke. So hat es Heinrich Himmler in seiner berüchtigten „Posener Rede“ von 1943 gefordert. Justin und Ritter handelten danach bereits lange vorher. Eines Himmler hätte es in ihrem Fall nicht bedurft. Was wir heute Barbarei, Zivilisationsbruch und Menschheitsverbrechen nennen, war für die Täter zum Zeitpunkt ihres Wirkens gemeinwohlorientierter Altruismus. Man war vom Gefühl beseelt, Teil von etwas menschheitsgeschichtlich Großem zu sein, für das sich jedes persönliche Opfer lohnte. Folglich arbeitete Justin bis zum Umfallen und gönnte sich, anders als ihre nicht ganz so besessenen Institutskollegen, keine Ablenkung.
Schwestern im Geiste
Eva Justin ist eine geistige Schwester von Melitta Maschmann, der BDM-Führerin, die Rechenschaft über ihr Leben als fanatische Nationalsozialistin im Buch „Fazit“ (1963) abgelegt hat. Wie „Fazit“ ist auch „Bitten der Vögel im Winter“ eine aufschlussreiche Studie der politischen Verführbarkeit jugendlichen Diensteifers. Eine der Quellen für den populistischen Erfolg des Nationalsozialismus überhaupt dürfte die geschickte Nutzbarmachung adoleszenten Übereifers gewesen sein.
Dienstbare Wissenschaft
Das Buch ist auch ein wissenschaftskritischer Roman. Schonungslos wird gezeigt, wie eine Rassenbiologie mit den Mitteln der empirischen Forschung die Ausrottung der Zigeuner quasi-wissenschaftlich begründet und legitimiert. Der „unverbesserliche Zigeuner als Volksschädling“ ist eine Erfindung und Fiktion dieser „Wissenschaft“, die allerdings zu höchst realen Vernichtungsmaßnahmen geführt hat. Das am Ende der 1920er-Jahre von William Isaac Thomas formulierte „Thomas-Theorem“ („Wenn Menschen Situationen als real definieren, so sind sie real in ihren Konsequenzen“) erfährt in dem Roman seine grausame Bestätigung. Mochten die Zigeunerkinder in den Internierungslagern gegenüber Frau Justin, die sie mit zum Teil abenteuerlichen Instrumenten („Nasentiefenmesser“) untersuchte, noch so freundlich, zuvorkommend und hilfsbereit gewesen sein, es wurde ihnen als rassetypische „Hinterhältigkeit“ und „Verschlagenheit“ ausgelegt. Sie waren für alle Zeit abgestempelt und dem Tode geweiht. Der KZ-Arzt Josef Mengele hat sie Versuchstieren gleichgesetzt und „meine Meerschweinchen“ genannt.
Wende-Roman
Der Dokumentar-Roman von Ute Bales ist am Ende auch ein Wende-Buch. Kaum dass der Krieg vorbei und die totale Kapitulation besiegelt, werden aus Rassenfanatikern mitfühlende Zigeunerfreunde, die Schlimmeres verhindert haben. Forscher berufen sich darauf, nur Wissenschaftler gewesen zu sein und keine Politiker, Befehlsempfänger und keine Gesetzgeber. Die Behörden im Nachkriegsdeutschland folgen den fadenscheinigen Ausflüchten. Robert Ritter wird als „Mitläufer“ entnazifiziert, Eva Justin als „nicht belastet“ eingestuft. Beide finden 1947 im Sozialdienst der Stadt Frankfurt am Main neue Arbeit. Beide sterben früh; der eine mit 50, die andere mit 57 Jahren.
Titel
Der Titel des Romans gibt Rätsel auf. „Bitten der Vögel im Winter“. Man fühlt sich an das Kindergedicht von Bert Brecht erinnert: „Die Vögel warten im Winter vor dem Fenster“. Da geht es um fröhliche Sangesgenossen, die uns den Sommer über erfreuen, aber im Winter in große Not geraten und darum auf unsere Hilfe angewiesen sind. Sind „Vögel“ eine Metapher für „Zigeuner“? Und stellt uns die Not der Vögel im Winter auf die Probe der Mitgeschöpflichkeit? Im vorliegenden Roman bestehen wir Menschen diese Probe gegenüber unseresgleichen nicht.
Fazit
Ein Roman über zwei Kinder ihrer Zeit, zu Untertanen erzogen und geschlagen mit der Verblendung, gottgleiche Herren über Leben und Tod zu sein. Ein Blick in die Seelen derer, die Daniel Jonah Goldhagen „Hitlers willige Vollstrecker“ genannt hat. Das Buch hinterlässt einen aufgewühlten und zugleich wachsamen Leser, weil es keinerlei Hoffnung macht, dass sich das alles nicht wiederholen könnte.
Ute Bales: Bitten der Vögel im Winter
Roman, Rhein-Mosel-Verlag, Zell, 2018, 410 Seiten, Hardcover, 22,80 Euro
Pressetext zum Buch
Es braucht Mut, einen Roman aus der Perspektive einer NS-Täterin zu schreiben und Ute Bales ist mehrfach gewarnt worden. Sie hat es trotzdem getan und beschreibt in ihrem neuen Werk „Bitten der Vögel im Winter“ ein tiefdunkles Kapitel der deutschen Geschichte, über das bis heute weitgehend geschwiegen wird. Es geht um die Verfolgung der Sinti und Roma und es geht um Eva Justin, eine der bekanntesten „Rassenforscherinnen“ zur Zeit des Nationalsozialismus.
Es ist ein aufwühlender Roman, der kontrovers diskutiert wird. Die Hauptfigur, Eva Justin, ist grotesk, widersprüchlich, ungeheuerlich. Ute Bales erzählt von Selektionen in Jugendgefängnissen, von nächtlichen Übergriffen auf Lagerinsassen, von Kinderspielen, die über Leben und Tod entscheiden. Eva Justin ist keine Phantasiefigur. Sie bewegt sich auf einem gut recherchierten, historischen Terrain. Orte und Personen, die unfassbaren Verbrechen und die damit verbundenen administrativen Vorgehensweisen hat es wirklich gegeben. Historische, politische und psychologische Ebenen verschmelzen: Was ist der Mensch und warum wird er zum Täter?
Eva Justin wurde im Kaiserreich geboren. Ute Bales schildert deren Kindheit, die strenge Erziehung und den schon früh auffälligen Drang, alles zu sortieren und zu ordnen. Hier mögen die Wurzeln liegen für ihre spätere monströse Aufgabe im Nazi-Reich.
Als junge Frau nimmt Justin an einem Lehrgang für Krankenschwestern in Tübingen teil und lernt dort Dr. Robert Ritter kennen, Oberarzt mit besten Karriereaussichten, verheiratet. An Ritter ist nichts zufällig, nichts nebensächlich. Sie ist bereit, als er fragt, ob sie seine Arbeit unterstützen will. Saubere Menschen sind sein Ziel. Eine „Rasse“ ohne Makel. Von Anfang an teilt Justin seine Lust zu forschen, unterstützt seine Arbeit und geht bald eine Beziehung mit ihm ein, die in ein sexuelles Abhängigkeitsverhältnis führt, das als Analogie der Abhängigkeit der Deutschen zu Hitler gelesen werden kann. Konsequent tut Justin das, was Ritter sagt, hinterfragt nichts, sieht weg, wo es heikel wird, verbeugt sich vor jedem seiner Worte.
1936 folgt sie ihm nach Berlin, wo er zum Leiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt“ berufen wird. Die Forschungsstelle befasst sich hauptsächlich mit „Zigeuner-Gutachten“. Im Rahmen großangelegter Aktionen zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ vermessen, verhören und klassifizieren die Arbeitsgruppen, zu denen Eva Justin gehört, Tausende Sinti und Roma und legen „Sippenarchive“ an. Justins Verhältnis zu Ritter führt dazu, dass sie ein immenses Arbeitstempo an den Tag legt. Sie glaubt einer großen Bewegung anzugehören, Teil einer gleichgesinnten Gemeinschaft zu sein.
1937 beginnt sie, auf Ritters Wunsch hin, neben ihrer Tätigkeit als „Rassenforscherin“, ein Studium der Anthropologie und macht sich auf dem „Zigeunerrastplatz“ Berlin-Marzahn, wo immer mehr Sinti und Roma konzentriert werden, bald einen Namen als „Zigeuner-Expertin“. Die Gutachten, die sie und die Kollegen verfassen, dienen als Grundlage, Sinti und Roma in Lager zu deportieren, wo sie entwürdigt, gefoltert, verstümmelt und ermordet werden.
Um die Gutachten aufzuwerten, verlangt Ritter, dass Justin eine Doktorarbeit schreiben soll. Er hat Bedenken, die massenhaften Bewertungen, die Todesurteilen gleichkommen, von einer Studentin unterschreiben zu lassen. Obwohl Justin kein abgeschlossenes Studium vorweisen kann, wird sie mithilfe seiner einflussreichen Kollegen zur Promotion zugelassen. In ihrer Arbeit untersucht sie, inwiefern „Zigeunerkinder“ erziehbar sind oder nicht. 1942 reist sie zu diesem Zweck ins schwäbische Mulfingen, wo ihr in einem katholischen Kinderheim 40 Sinti-Kinder zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt werden. Die Heimkinder bleiben so lange von der „Endlösung“ verschont, wie sie Justin als Versuchsobjekte nützen. Nach Abschluss der Doktorarbeit werden sie der SS übergeben und nach Auschwitz ausgewiesen.
Bei allem, was sie tut, bleibt Justin unzugänglich und kalt. Nur Ritter gegenüber zeigt sie Gefühl. Erbarmungslos reißt sie Familien auseinander, lässt Leute verhaften und Frauen, wenn sie nicht spuren, die Haare abschneiden. Sie weiß, was sie tut. Fassungslos verfolgt man, wie sie Kinder aushorcht, Leute denunziert, eine Schwangere zur Zwangsabtreibung schickt. Bei alldem begreift Justin nicht, dass alle angeblichen Eigenschaften, die sie den „Zigeunern“ zuschreibt – Dummheit, Gemeinheit, Schwachheit – ihre eigenen Eigenschaften sind.
„Bitten der Vögel im Winter“ erinnert eindrücklich an die mörderische Politik der NS-Zeit, die auf Basis einer verheerenden Rassenideologie unter anderem zur Vernichtung von mehr als 500.000 Sinti, Roma und Jenischen in Deutschland und Europa führte.
Ute Bales, 1961 in der Eifel geboren und dort aufgewachsen, studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Kunst in Giessen und Freiburg, wo sie seither lebt und arbeitet. Sie ist Mitglied im Literaturwerk Rheinland-Pfalz-Saar e.V., im Literarischen Verein der Pfalz, im Literatur Forum Südwest e.V. Freiburg, gehört dem Kunstverein Weißenseifen/Eifel an sowie der Künstlergruppe SternwARTe Daun. Sie hat bisher sieben Romane veröffentlich sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Essays. Der Roman „Bitten der Vögel im Winter“ ist mit dem Martha-Saalfeld-Förderpreis 2018 des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet worden.
Siehe auch Romanauszüge:
Auszug 1
Kinderheim Mulfingen, 1942
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25728
Auszug 2
Berlin, 1936
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25747
Auszug 3
Polen, 1942
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25762
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