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Literatur
Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (7)
Knobelbecher-Zeit
Von Harry Popow

Was ist also zu tun? Das wissen sicherlich die da oben. Henry denkt an die großen Zusammenhänge noch nicht. Jetzt ist er auf den nächsten Augenblick fixiert. Was wird ihn erwarten, den Ahnungslosen? Es ist der 23. November 1954. Erfurt. Ein Jüngling, schmal, etwas blaß, knapp 18 Jahre alt, im hellen und dünnen Sommermantel, ein kleines Köfferchen in der Rechten, meldet sich an einem Kasernentor. Dann ist er drin. Noch weiß er nicht, daß ein Rückzug nicht mehr in Frage kommen wird, selbst bis zum ersten Ausgang werden Wochen vergehen. Eine Schule für zukünftige Offiziere – sie wird ihn und all die anderen Schüler festhalten für drei Jahre, soviel ist klar. Am nächsten Tag geht es bereits in die B/A- Kammer, das heißt Bekleidung und Ausrüstung. Henry sieht die Knobelbecher und ihm zieht sich das Herz zusammen. „Die sollen nun mein Schuhwerk sein, diese klobigen Dinger“, denkt er. Damit nicht genug. Die von der Aufnahmekommission haben wegen der „Militärgeologie“ kaum merklich gegrinst. Ja, bei den Pionieren, da beschäftige man sich mit so etwas, aber dazu wiederum sei er zu schwach gebaut, solle er doch allgemeiner Truppenkommandeur werden, da habe man Befehlsgewalt über alle, über die Infanterie, die Flugzeuge und über die Schiffe, und einer der Offiziere breitet weit die Arme aus ...

Dem sensiblen jungen Mann wird beinahe schwarz vor Augen, über andere herrschen, das will er ja gar nicht. Er spürt, da kommt was auf ihn zu. Doch nun ist es wohl zu spät. Soll er sich zurückziehen? Feige und kleinmütig? Zurück in den Betrieb, der ihn so „patriotisch“ verabschiedet hat? Der ihm das restliche Gehalt von November, etwa 50 DM, erlassen und ihm eine gute Beurteilung mitgegeben hat?

„Nach Aussagen des Leiters der Außenstelle kann seine Arbeit mit sehr gut bewertet werden“, so steht es in dem Papier. Nein, ausgeschlossen. Er wird, er muß sich durchbeißen. Sich abhärten, sich standhafter machen. Bedenkt er, daß sich hinter ihm mit dem Kasernentor auch seine noch nicht einmal gelebte Jugendzeit schließt, nahezu eingegrenzt und beschnitten wird? Nein, das erscheint ihm nicht wichtig genug. Und so soll’s denn sein ... Henry stürzt sich in die Zeit der Fußlappen und der Stiefel. Aus dem im Sternenbild Schütze geborenen soll nun ein echter Schütze werden.

Erfurt. Ende November. Henrys 18. Geburtstag. Vormittags werden die Offiziersschüler mit einem H3A (im Volksmund nennt man diesen Lastkraftwagen „Konsumwagen“, weil er nur für einfache Transporte geeignet ist) zum Schießstand gefahren. Vor der Vereidigung und dem ersten Wache schieben ist eine Grundübung mit dem Karabiner zu schießen. Der Chef der Schule, Oberst, ein kräftiger untersetzter Mann, ist persönlich erschienen. Er steht vor der angetretenen Front und zeigt auf seine rechte Schulter, hier, da habe Gott ein Loch gelassen, dort müsse man den Kolben des Karabiners stramm einziehen. Sehr amüsant und witzig. Einfach toll. Etwas billig das Ganze. Henry denkt sich sein Teil. Der Herbstnebel drückt außerdem aufs Gemüt. Am späten Nachmittag sitzen ein paar Kumpels mit Henry – u.a. Waldemar - auf Holzkisten in der HO-Verkaufsstelle der Schule und stoßen mit Sekt an, den Henry von seinem letzten Taschengeld spendiert hat. Seine Mutter schickte ihm einen Brief: „Wir gratulieren Dir von ganzen Herzen und wünschen viel Freude und Erfolg für Deine Zukunft. Vor allem bleib uns recht gesund, und laß niemals Kopf hängen ... Wie es ist bei Euch Essen?“

Anfang Dezember. Die Ausbildung hat begonnen. Mal draußen, mal drinnen. Die Holzschemel in der rechten Hand und Abmarsch in die nicht sehr warmen Garagen, wo die Schüler Lektionen über Taktik, u.a. über das Thema „Angriff“ und „Verteidigung“ - mal unter normalen, mal unter atomaren Gefechtsbedingungen - hören. Henry hat manchmal sein kleines Bild vor Augen, daß er seit Kindheitstagen in sich trägt: Das Haus am Fluß, eine grüne Wiese. Idylle. Menschen, die zufrieden und bescheiden leben, einfach gut miteinander sind. Jetzt erhält sein Traumbild ganz langsam Tiefe und Weite, eben Profil. Mit Zugewinn an Wissen in der Dialektik, der Geschichte und der Politik und Militärpolitik.

Der erträumte Humanismus – er bekommt langsam Konturen, Vortrag für Vortrag, Seminar für Seminar. Erkenntnisse, die ihn mitunter innerlich erschrecken, aber auch befriedigen, da Logik dahintersteht und ein Schuß guter Hoffnung für die Zukunft, da Kriege nie mehr sein sollen. Aber der Offiziersschüler – den anderen geht es nicht anders – ist oft müde, sitzt meistens in den hinteren Reihen, der Kugelschreiber rutscht nicht selten über das Blatt zum unteren Rand, hinterläßt verdächtige Krakel ... Dann endlich - der erste Ausgang! Aber nur in der Gruppe und nur nachmittags zum Fußballspiel. Was die da auf dem weiten Feld so treiben, das kann dem Henry gestohlen bleiben. Spaziert viel lieber umher im Stadion und glotzt unbeholfen, um irgendwo ein paar Mädchenbeine zu erspähen. Beinahe hätte er nicht mitgedurft. Besitzt nur braune Halbschuhe, wo doch schwarze Vorschrift sind. Kurzerhand hat er sie mit schwarzer Schuhcreme „eingefärbt“, was am Kontrolldurchlaßposten aber nicht auffiel.


Harry Popow: „Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder in Umbruchzeiten“



Druck und Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin, Erscheinungsdatum 18.02.2019, ISBN: 9783748512981, 500 Seiten: 500, 26,99 Euro, Bestellen hier


Der Autor Harry Popow wurde 1936 in Berlin-Tegel geboren, wuchs in der DDR auf, arbeitete als Militärjournalist im Dienstgrad Oberstleutnant in der NVA und betätigt sich heute als Blogger, Buchrezensent und Autor. Er ist seit 1961 glücklich verheiratet.


Siehe auch:

Auszug aus "In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 63. Jahrestags der Gründung der Nationalen Volksarmee am 1. März 1956 (1)
Ohrfeige für Henry
Von Harry Popow
NRhZ 692 vom 13.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25625

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (2)
Weiße Armbinden
NRhZ 700 vom 10.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25802

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (3)
Träumender Trommler
NRhZ 701 vom 17.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25821

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (4)
Bei Präsident Pieck
NRhZ 702 vom 24.04.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25839

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (5)
Steinkohlen-Zeit: Der Autor als Berglehrling
NRhZ 703 vom 01.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25860

Auszug aus "Ausbruch aus der Stille. Persönliche Lebensbilder" anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949 (6)
Geologen-Zeit: Der Autor als Kollektor
NRhZ 704 vom 08.05.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25877

Online-Flyer Nr. 705  vom 15.05.2019

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