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Globales
Briefe mit Augenzeugen-Berichten aus Chile
Die Stimmen der Strasse
Von Frank Walter

"So wie es aussieht, geht die Repression durch die Sicherheitskräfte unverändert weiter. Heute am 12. November ist Generalstreik, dem sich über 160 gewerkschaftliche und andere Organisationen angeschlossen haben, unter anderem das Lehrer- und Professorenkollegium, Hafenarbeiter, Flughafenangestellte, Arbeiter der nationalen Erdölindustrie, die Konföderation der Arbeiter in den Kupferminen, Organisationen des Gesundheitswesens, Bauarbeiter und öffentliche Dienstleistungen, Bankangestellte, Zollbeamte, die zentrale Gewerkschaft CUT und unzählige andere Sektoren. Im Zentrum von Santiago marschieren 800.000 Demonstranten. In Valparaíso wurden die Sitzungen im Kongress aufgehoben aufgrund von Straßensperren und Barrikaden, die auf den Verbindungsstraßen zwischen Santiago und Valparaíso errichtet wurden." So lautet es zu Beginn einer Reihe von Briefen, mit denen Frank Walter die "Stimmen der Strasse" in Chile zu Wort kommen lässt. Die NRhZ gibt sie nachfolgend wieder – in dieser Ausgabe die Briefe vom 12. bis 17. November 2019.


12. November 2019

Sehr geehrte Frau S., es geht mir leider nicht sehr gut. Vorige Woche hatte ich einen schwerwiegenden Rückfall in meinem Krankheitsbild, mein Magen spielte verrückt, was mich daran hinderte, schriftlich zu arbeiten, wodurch ich sehr viel Zeit verloren habe. Heute geht es mir etwas besser, abgesehen davon, dass ich wegen des lauten Gebells des Nachbarhundes nachts kaum schlafen kann und ständig übermüdet bin. Dazu kommt, dass ich am 30. November aus meiner Wohnung ausziehen muss und auch unbedingt will, was aber den Stress noch verstärkt. Es gibt bis dahin noch viel zu tun, um meinen ganzen Kram zusammenzupacken. Es besteht aber kein wirklicher Grund, sich Sorgen um mich zu machen, dennoch vielen Dank.

Von meinem Artikel habe ich bloß Bruchstücke anfertigen können, aber abgesehen von der schlechten Qualität des Spiegel-Artikels von gestern (der heute schon wieder verschwunden ist) wäre es ohnehin sinnlos, auf Hilfe von außen zu warten. Die UN-Behörden haben die Regierung Piñera streng verwarnt, noch weiter Gummigeschoße und Schrotladungen zu verwenden, aber so wie es aussieht, geht die Repression durch die Sicherheitskräfte unverändert weiter.

Heute am 12. November ist Generalstreik, dem sich über 160 gewerkschaftliche und andere Organisationen angeschlossen haben, unter anderem das Lehrer- und Professorenkollegium, Hafenarbeiter, Flughafenangestellte, Arbeiter der nationalen Erdölindustrie, die Konföderation der Arbeiter in den Kupferminen, Organisationen des Gesundheitswesens, Bauarbeiter und öffentliche Dienstleistungen, Bankangestellte, Zollbeamte, die zentrale Gewerkschaft CUT und unzählige andere Sektoren. Im Zentrum von Santiago marschieren 800.000 Demonstranten. In Valparaíso wurden die Sitzungen im Kongress aufgehoben aufgrund von Straßensperren und Barrikaden, die auf den Verbindungsstraßen zwischen Santiago und Valparaíso errichtet wurden.

Dem Präsidenten Piñera geht es nicht um die öffentliche Sicherheit – er verteidigt die Privilegien seiner Klasse, der politischen und Wirtschaftselite, um jeden Preis. Piñera hat auch keine politische Idee, vielleicht auch gar keine politische Überzeugung, er will sich nur bereichern, so wie er sein Vermögen während seiner ersten Präsidentschaft um das Doppelte vermehrte. Er benützt schon seit Jahren dieselben 15 Sätze, die er in verschiedener Reihenfolge aber immer im gleichen Wortlaut hersagt, egal um welches Thema es sich handelt. Was man weiß, lässt er sich noch immer von dem geschassten Innenminister Chadwick beraten, weil er einfach keine Ahnung von Politik hat. Heute wurde der Einsatz von Pfeffergas durch Polizeikräfte bekannt, die Anzahl der Personen, die durch Gummigeschoße teilweise oder ganz erblindet sind, steigt auf über 200. Die Polizei wirft mit Tränengasbomben ohne ersichtlichen Grund, vor Spitälern, Schulen einfach überall. In einer Mädchenschule in Santiago, deren Schülerinnen sich am 5. November den Protesten anschließen und die Schule besetzen wollten, schloss sich die Direktorin ein und alarmierte die Polizei, die anrückenden Polizeibeamten schossen mit Schrotladungen (nicht etwa mit Gummigeschoßen, wie im Spiegel-Artikel behauptet wird) und Tränengasbomben in das Innere des Gebäudes, mehrere Schülerinnen wurden verletzt, bevor die Polizei das Lyzeum stürmte. Einen Tag später, am 6. November, wurde ein einbeiniger, älterer Mann in Santiago, der im Rollstuhl saß und mit erhobenen Händen an die Sicherheitskräfte appellierte, das Feuer einzustellen, von Polizisten aus seinem Rollstuhl gehoben und inmitten des Tumultes auf der Straße liegengelassen.

Es wurden auch schon mehrere Menschen von Polizeiautos einfach überfahren. Desgleichen machen sich Polizisten den Spaß, Radfahrer mit dem Polizeiwagen zu verfolgen und so zu tun, als würden sie diese überfahren wollen, um dann zu sagen: »Jetzt hast dich erschreckt? Was?« Wenn in Chile von Gewalt die Rede ist, dann geht diese in erster Linie von Polizeikräften aus.

Die Zahl der verletzten Demonstranten ist auf rund 2.500 gestiegen, davon schweben über 160 in Lebensgefahr, die Dunkelziffer ist noch größer, viele Verwundete kommen nicht in die Spitäler aus Angst, verhaftet zu werden. Die Zahlen festgenommener Demonstranten sind unzuverlässig, sie schwanken zwischen 5.000 und 10.000. Tatsache ist, dass Häftlinge von der Polizei durchgeprügelt, gefoltert und erniedrigt werden, und der Zugang zu Anwälten erschwert wird.

Laut Angaben der Polizei befanden sich zwischen dem 18. Oktober und 10. November nicht weniger als 3,7 Millionen Menschen auf der Straße. Es sind friedliche Proteste, obwohl die Menschen Grund haben, wütend zu sein, weil sie etwa Familienangehörige verloren haben aufgrund des notorisch unterfinanzierten Gesundheitssystems, und auch die Toten der Proteste erzeugen nur wieder neuerliche Emotionen. Trotzdem kann ich nur wiederholen, dass die meisten Plünderungen, Brandstiftungen und andere Gewaltakte von Kleinkriminellen begangen werden, den üblichen Kriminellen aller Tage, die nur von der Polizei nicht mehr verfolgt werden, weil die Polizisten stattdessen damit beschäftigt sind, auf friedliche Demonstranten zu schießen. Das ist ganz klar eine Taktik der Regierung, um die Leute einzuschüchtern und die Proteste niederzuhalten.

In einigen Fällen sind die Brandstifter allerdings Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren, die teils in staatlichen Heimen aufgewachsen sind, und einfach keine Zukunft sehen, und die tatsächlich auch keine Zukunft haben. Das marktradikale Wirtschaftssystem scheitert eben in dem Augenblick, in dem es in einem Land schon zu viele gibt, die nichts mehr zu verlieren haben.

Gestern Nacht wurde in der Kommune Peñalolén in Santiago eine Polizeiwachstube von etwa 600 Demonstranten belagert und später auch überfallen. Man warf mit Steinen, zündete Barrikaden an, und angeblich waren auch Schusswaffen im Spiel, vier Polizisten wurden verletzt. Es handelt sich dabei um jene Wachstube, in der ein 46-jähriger Kleinhändler, der am 24. Oktober während der Ausgangssperren festgenommen wurde, in seiner Zelle erhängt aufgefunden worden war.

Obwohl sein Körper zahlreiche Blutergüsse aufwies, spricht die Polizei von Selbstmord.

Das Positive ist, dass sich die chilenische Bevölkerung trotz aller neoliberaler Propaganda nicht spalten ließ (Alte gegen Junge, Frauen gegen Männer usw.), dass die allgemeine Solidarität so stark ist, dass auf den Protesten Menschen aus allen Altersgruppen und allen Gesellschaftsschichten zusammenkommen, und dass sich die Menschen hier des historischen Augenblicks vollkommen bewusst sind. Auch die Spaltung in politische Parteien scheint überwunden, die Proteste richten sich gegen sämtliche politischen Parteien und gegen das gesamte marktradikale System.

Der Umgang zwischen den Menschen hat sich in diesen drei Wochen radikal verändert, alle sind auf der Straße viel freundlicher und zuvorkommender zueinander, es entstehen spontane Gespräche, und man trifft kaum einen Menschen, der sich nicht mit den Protesten solidarisiert. Gestern wollte ich an einem Kiosk mein Prepaid-Handy aufladen, weil aber die Besitzerin kurzzeitig ihren Kiosk verlasen hatte, entstand eine kleine Warteschlange von sechs bis sieben Personen, und als sie zurückkam, wollte jeder dem anderen den Vortritt geben.

Dies in aller Kürze. Leider sehe ich mich wegen meiner Krankheit außerstande, etwas Gescheites zu Papier zu bringen, ich kann hier nur mit momentanen Eindrücken und Geschehnissen aufwarten. Etwas, dass mich eigentlich verzweifeln macht, aber vielleicht, wenn ich aus diesem Haus einmal ausgezogen bin, wo ich von missgünstigen Leuten umgeben bin (der Nachbar ist Unteroffizier der Marine und Pinochet-Anhänger, eine 93-Jährige böse Offizierswitwe hasst uns und unsere Katzen aufs Tiefste) werde ich mich wieder erholen und arbeiten können.

Mit herzlichen Grüßen
Frank Walter



13. November 2019

Sehr geehrte Frau G., gestern war ich so in Eile, meine Email abzuschicken (man merkt es an den Tippfehlern gegen Ende), dass ich auf die alarmierenden Vorgänge in Bolivien nicht einging. Der erzwungene Rücktritt von Evo Morales war ein schwarzer Tag für Südamerika und erfüllt mich mit Trauer und Wut. Es wird dort nur alles schlimmer werden, und viel schlimmer. Anbei verlinke ich Ihnen einen Artikel (1), der nur leidlich aus dem Englischen übersetzt wurde aber veranschaulicht, dass hinter der Opposition in Bolivien gemeingefährliche Nazibanden stecken, mit Verbindungen zur kroatischen faschistischen Ustascha-Bewegung, ein Ausbund von brutalen Rassisten. Wenn ich daran denke, dass die Indigenen in Bolivien zur Stunde von diesem Haufen von Nazis drangsaliert werden, und welch ein Regime wir jetzt in Chile als Nachbarland bekommen werden, wird mir übel. Es wurden die Häuser von Morales und anderen seiner Parteigänger niedergebrannt, sowie auch deren Familienmitglieder entführt, um den Rücktritt von Morales zu erzwingen.

In La Paz haben sie mit der Repression schon begonnen, aber wie es scheint, sind ein paar indigene Verbände wie die Roten Ponchos (Ponchos Rojos) in den Provinzen bereit, sich diesen Mördern in den Weg zu stellen.

In Chile hatte Präsident Piñera angekündigt, zur Verstärkung der Polizeikräfte noch Personen einzuberufen, die kürzlich aus dem Polizeidienst ausgetreten oder in den Ruhestand versetzt worden waren.

Das heißt mit anderen Worten, dass es noch mehr Gewalt vonseiten der Exekutive geben wird. Nach Angaben der Polizei befinden sich schon 11.000 Demonstranten in Haft. Ein Rechtsanwalt erklärte, dass 50 Prozent aller dieser Verhaftungen aufgrund von Verstößen gegen die Ausgangssperre und wegen »desordenes publicos« vorgenommen wurden, letzteres entspricht dem, was früher mal »grober Unfug« genannt wurde.

Da es sich hierbei um Verwaltungsdelikte handelt, die höchstens mit einer Geldbuße sanktioniert werden können, werden die Gerichte laut diesem Anwalt all diese Verhaftungen zweifellos für illegal erklären, wenn es zur Verhandlung kommt, aber die Absicht dahinter sei, möglichst viele Demonstranten erst einmal von der Straße zu bekommen. In Chile sind übrigens auch die Gefängnisse privatisiert, die Vorgangsweise rentiert sich also auch noch. Gestern wurde auch noch ein Audiomitschnitt eines Gespräches zwischen dem Polizeipräsidenten General Rozas und einigen Unteroffizieren der Polizei bekannt, in dem der Polizeipräsident erklärte, es würde kein einziger der Polizisten suspendiert werden, egal was sie ausgefressen haben, und sorgte mit diesem Statement für weitere Unruhe. Mit diesem Kommentar wurde den Polizeibeamten ja faktisch ein Freibrief ausgestellt, um auf die Bevölkerung ungehindert losgehen zu können. Trotz Verwarnung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte werden weiterhin Schusswaffen gegen Demonstranten eingesetzt. Alleine im Spital von Valparaíso meldeten sich heute 60 Personen mit Verletzungen durch Gummigeschoße und Schrot.

Derselbe Gerichtshof hatte die Regierung Piñera bereits nach dem Mord an dem Mapuche Camilo Catrillanca (am 14. November 2018) aufgefordert, die Dienstvorschriften der Polizei für den Gebrauch von Schusswaffen abzuändern. Daraufhin veröffentlichte die Regierung Piñera dieselbe Dienstvorschrift im selben Wortlaut, bloß mit einem veränderten Datum!

Unter anderem gibt es darin keinerlei Vorschriften die besagen, dass Polizeibeamte bloß auf den Unterkörper einer Person zu schießen haben, wie es eigentlich internationaler Standard wäre. Besonders perfide ist das Zielen auf die Augen von Personen. Hier wurden in vier Wochen an die 200 Personen an den Augen verletzt oder vollständig geblendet. Im Vergleich dazu brachten es die französischen Polizisten in den 10 Monaten der Gelbwestenreproteste bloß auf 40 Personen mit verletzten Augen. Es sind mehr Augenverletzungen, als in den letzten sechs Jahren in Israel zustande kamen!

Heute auch große Krisensitzung im Nationalkongress mit Vertretern der Oppositionsparteien (Mitte-Links-Bündnis). Ganz und gar unnötig war der Auftritt des sozialistischen Ex-Präsidenten Lagos, der genau dasselbe wie Piñera sagte (»Die Gewalt, die Zerstörungen, friedliche Lösungen«), das gleiche Gewäsch, ohne auch nur entfernt auf die Menschenrechtsverletzungen einzugehen.

Ansonsten sagen die Sozis lauter Dinge, die ihnen früher nicht im Traum eingefallen wären, als hätten sie ein ganzes Kreidebergwerk verschluckt. Die Opposition wäre bereit, auf die Forderung nach einer neuen Verfassung und einer verfassungsgebenden Versammlung einzugehen, zwar mit dem Vorbehalt, dass diese zu 20 Prozent aus Parlamentariern bestünde, und der Rest aus gewählten Vertretern des Volkes, während die Rechtsparteien davon nichts wissen wollen.

In Viña wurden gestern die Warenhäuser Ripley und Fallabella in Stadtzentrum geplündert und deren Fassaden verwüstet. Bei diesen Warenhausketten sind die meisten Chilenen verschuldet. Es war derselbe Piñera, der Anfang der 1990er-Jahre, in einem Moment, als der Binnenkonsum aufgrund der niedrigen Löhne zurückging, zuerst die Kreditkarten in Chile einführte. Die geplünderten Warenhäuser sind versichert und werden keinen Schaden haben. Eine Freundin, die kürzlich bei Ripley eine Rechnung bezahlen ging und in einer Schlange warten musste, hatte im Kopf ausgerechnet, dass in nur einer Minute umgerechnet rund tausendzweihundert Euro einbezahlt wurden. Man stelle sich den Umsatz eines einzigen Tages vor. Die allgemeine Auffassung der meisten Leute, mit denen ich gesprochen habe, ist die, dass solche Zwischenfälle zwar bedauerlich sind, aber dass man in Chile eben nichts erreichen könne, wenn man keinen Skandal macht.

Auch was das teilweise Ausfallen des öffentlichen Verkehrs und die Verzögerungen betrifft, versicherte mir eine Bürgerin: »Es macht mir nichts aus, wenn ich von der Arbeit später nach Hause komme, und ich unterstütze vollkommen die soziale Bewegung und die Proteste.«

Über 300 Apotheken wurden ausgeplündert - aber anscheinend von jungen Leuten, welche die erbeuteten Medikamente in diversen Altersheimen oder bei ihren Großeltern ablieferten, die sich keine Medikamente leisten können, oder ihre ganze Rente dafür ausgeben müssen.

Die Verkäufe sind um 70 Prozent zurückgegangen,die Wirtschaftsexperten jammern, und bis jetzt sind 8.000 Arbeitsplätze verlorengegangen. Immerhin haben die Handwerker jetzt eine Menge Arbeit, denn in allen Städten werden derzeit die Auslagenscheiben der Geschäfte mit Holzplatten und Blech abgedeckt. In Einkaufstraßen sind an den Geschäften durchgehend Aufkleber angebracht mit den Worten: »Wir unterstützen die Proteste, bitte zerstört nicht unseren Arbeitsplatz.« Tagsüber liegt überall der Geruch von den Brennstäben der Schweißer in der Luft, die allenthalben mit der Behebung des entstandenen Schadens beschäftigt sind. Wenn die Protestmärsche vorübergezogen sind, und sich das Tränengas der Polizei verzogen hat, beginnen die Anrainer oft selbstständig die Straßen zu reinigen - aus Solidarität mit den Protesten. Auch ich finde, wenn es um so etwas Wertvolles wie demokratische Rechte geht, sollte man nicht aufs Material schauen.

Es geht nicht mehr an, dass hierzulande jedes Jahr 11.000 Menschen an Krankheiten sterben, ohne je die Möglichkeit gehabt zu haben, von einem Internisten behandelt oder operiert zu werden, weil das Gesundheitssystem notorisch unterfinanziert wird. Alle diese Menschen haben Angehörige, die stinksauer sind. Es geht nicht mehr an, dass sich alte Ehepaare und Pensionisten das Leben nehmen, weil die Pensionen so gering sind, dass sie nichts zu essen haben. Die soziale Ungleichheit ist in Chile größer als in jedem anderen Land auf der Welt, und die Missstände sind Legion.

Es steht außer Frage, dass die Proteste weitergehen werden. In Teilen Santiagos beginnen solche Protestmärsche oft mit nur 40 Personen, denen sich dann hunderte Menschen anschließen. Die Gewalt beginnt immer erst dann, wenn Polizisten auftauchen.

Zitat aus einer Fernsehsendung: »Es gibt ein wichtiges Detail. Immer haben wir beobachtet, dass die Polizisten niemals zu jenen Leuten gehen, oder diese festnehmen, die vandalistische Akte begehen, immer sind es die friedlichen Demonstranten, die die Polizeigewalt zu spüren bekommen.«

Mit herzlichen Grüßen
Frank Walter



14. November 2019

Am heutigen Jahrestag des Mordes an dem Mapuche Camilo Catrillanca, der in Anwesenheit seines 15-jährigen Sohnes von einem in Kolumbien ausgebildeten Spezialkommando der Polizei in der Region Araukanien ohne ersichtlichen Grund von seinem Traktor heruntergeschossen wurde, standen die Proteste heute besonders im Zeichen der Mapuche, die sich in einer neuen Verfassung als autonome Minderheit gewürdigt wissen wollen. Bis heute sind die Rechte der Mapuche kein Bestandteil der Verfassung, außerdem wird diesem Volk, das sich als Schutzherren der Wälder und der Natur versteht, vor allem von Forstkonzernen massenhaft Land gestohlen.

Der minderjährige Sohn des Ermordeten wurde übrigens neben dem Leichnam seines Vaters verhaftet und auf einem Polizeiquartier durchgeprügelt. Wie man also seitens der chilenischen Polizei in der Regel mit den Mapuche umgeht, kann man sich ungefähr vorstellen. Die Protestmärsche, auch im Zentrum von Santiago verliefen dennoch durchwegs friedlich, zumal der Vater des ermordeten Mapuche eigens an die Demonstranten appelliert hatte, sich ruhig zu verhalten. Gedenkmärsche für Camilo Catrillanca gab es gleichzeitig in allen wichtigen Städten des Landes.

Erst gegen 21.00 Uhr - deutlich später als an den vorangegangenen Tagen - begannen die Polizeikräfte im Zentrum von Santiago damit, die Demonstranten mit Wasserwerfern und Tränengas auseinanderzutreiben.

Zu den zahlreichen Sektoren, die sich im unbefristeten Streik befinden, hat sich am heutigen Tage auch die staatliche Müllabfuhr dazugesellt, und es häufen sich jetzt überall die Müllberge. Die Temperaturen tagsüber sind sommerlich heiß, das kann gesundheitliche Folgen haben.

Zur Stunde verhandeln die Politiker, von denen das Volk nichts mehr wissen will, und die sich in den Augen eines überwiegenden Teils der Bevölkerung delegitimiert haben, im alten Kongressgebäude in Santiago über die näheren Details einer Einberufung der konstitutionellen Versammlung mit direkter Bürgerbeteiligung und deren mögliche Zusammensetzung.

Normal sollten diese Sitzungen im Nationalkongress in Valparaíso stattfinden, aber nachdem es in Valparaíso nachmittags zu Krawallen und neuerlichen Plünderungen gekommen war, und die Verbindungsstraßen zwischen Valparaíso und Santiago neuerlich blockiert worden waren, mussten die Parlamentssitzungen in die Hauptstadt verlegt werden. (Meiner Meinung nach ein inszeniertes Manöver der Regierung, die an solchen Verhandlungen nicht interessiert ist.) Das oppositionelle Mitte-Links-Bündnis (diese Volksverräter) haben plötzlich ihre Meinung geändert, sie schlagen nun eine konstitutionelle Versammlung mit nur 50 Prozent Bürgerbeteiligung und 50 Prozent Parlamentarier und Berufspolitiker vor, (gestern waren es noch 80 zu 20 Prozent), das ist genau das, was die Leute nicht wollen. Die Rechtsparteien, die die Regierung bilden, sperren sich überhaupt gegen eine konstitutionelle Versammlung. Nun dauern diese Verhandlungen schon mehr als 25 Stunden. Die Vertreter der Kommunistischen Partei wurden zwar eingeladen, kamen aber nicht, als man ihnen sagte, dass sie keine Vorschläge einbringen dürften.

Der Ausgang dieser Verhandlungen ist zur Stunde (0.52 Uhr) noch immer offen, aber wenn im Laufe der Nachtstunden wieder nichts Gescheites herauskommt, wird es morgen zu noch massiveren Protesten kommen, und wenn der unfähige Präsident Piñera die Nerven verliert, könnte es wieder zur Erklärung des Ausnahmezustands kommen, und das Militär wird neuerlich auf die Bevölkerung losgelassen. Laut internen Quellen hätte Piñera um ein Haar schon gestern wieder den Ausnahmezustand verhängt, wenn ihm die Präsidenten des Senats und der Deputiertenkammer nicht ins Gewissen geredet hätten. Die Lage ist also auf des Messers Schneide.

Mit herzlichen Grüßen
Frank Walter



15. November 2019

Liebe G., wir haben in der vergangenen Nacht noch sehr lange ferngesehen, aber gegen drei Uhr morgens (2.25 Uhr) war es soweit: nach 28 Tagen sozialer Proteste haben die Parlamentarier folgende »Übereinkunft für den Frieden und eine neue Verfassung« getroffen:

Im April 2020 wird eine Volksabstimmung abgehalten, mit den Fragen:
    [1] Wollen Sie eine neue Verfassung [JA] [NEIN]

    [2] Welches Organ soll die neue Verfassung ausarbeiten?

    Eine konstitutionelle Versammlung (mit 100 Prozent Bürgerbeteilung) oder eine gemischte konstitutionelle Versammlung mit 50 Prozent Parlamentariern, und 50 Prozent Bürgerbeteiligung.

Der konstitutionellen Versammlung wird 9 Monate Zeit gegeben, eine neue Verfassung zu entwerfen, mit der Möglichkeit, noch 3 Monate zu verlängern. Die Mitglieder der Versammlung werden ausschließlich zu diesem Zweck gewählt. Die Wahl der Mitglieder wird im Oktober 2020 stattfinden. Bis dahin bleibt die alte Verfassung in Kraft. Die konstitutionelle Versammlung darf die Kompetenzen und Befugnisse der übrigen Organe und Gewalten des Staates nicht angreifen. Die Versammlung darf überdies weder das Quorum noch das Prozedere verändern. Über die endgültige Form dieses Verfassungswerks wird innerhalb der Versammlung mit 2/3-Mehrheit abgestimmt. Ist der Verfassungsentwurf einmal fertig, wird die Versammlung aufgelöst.

Die unterzeichneten Parteien werden eine technische Kommission einrichten, welche sich mit den unentbehrlichen Details befassen wird, das oben Angedeutete durchzuführen.

Danach folgt eine weitere Volksabstimmung zur Ratifizierung des Verfassungsentwurfs.

Ein »historisches« Abkommen, wie der offizielle Tenor lautet, ist das nur bedingt. Piñera hat Zeit gewonnen und seine Präsidentschaft (d.h. seinen Arsch) gerettet. Ein weiterer Punkt des Abkommens stellt es Parlamentariern frei, sich auch in eine konstitutionelle Versammlung mit 100 Prozent Bürgerbeteiligung wählen zu lassen, mit der Auflage, dass diese ihren wohlfeil dotierten Posten als Senator oder Abgeordneter in diesem Fall zurücklegen müssten. Dennoch könnten Lobbygruppen mit viel Geld auf diese Weise ihre Agenten in die Versammlung schleusen, indem sie die zurückgetretenen Parlamentarier (unter der Hand) schadlos halten.

Was die große Menge zu diesem Abkommen sagt, ist nicht bekannt. Es scheint aber, dass seitens der Bevölkerung kritisiert wird, dass das Abkommen wieder nur zwischen vier Wänden zustandekam. Als Zeichen, dass sich in der vorherrschenden Mentalität nichts geändert hat, mag gelten, dass im chilenischen Fernsehen bislang schon jeder einzelne Senator und selbst die Hinterbänkler des Parlaments um ihre Meinung gefragt wurden, aber was die Menschen auf der Straße denken, scheint die Medien nicht zu interessieren. Nicht wenige Abgeordnete klopfen Sprüche wie: »... nach dreißig Jahren dieser Erfolg!« Es sind unverschämte Heuchler, denn noch vor drei Tagen hätten sie nicht im Traum daran gedacht, an der Verfassung von 1980 auch nur einen Strich zu verändern.

Die Pinochet-Verfassung ist nicht bloß irgendeine Verfassung, sie hat eine eigene Geschichte. Als Mitte der 1970er-Jahre in Spanien die Diktatur des Generals Franco zu Ende ging, begannen Pinochet und die Chicago-Boys nämlich über eine scheindemokratische Verfassung nachzudenken, die es ermöglichen sollte, den Zustand der Diktatur auch nach einem möglichen Ende derselben in einem Verfassungswerk zu perpetuieren, das die politischen Kräfte möglichst neutralisiert. Und im Hinblick auf diesen Zweck stellt die Verfassung von 1980 ein wahres Meisterwerk dar.

Den Chilenen und Chileninnen würde ich raten, die Augen offen zu halten, denn bis zu einer neuen Verfassung ist es noch ein weiter Weg, mit vielen Möglichkeiten für die Wirtschaftselite, den verfassungsgebenden Prozess in ihrem Sinne zu manipulieren, aber ich denke, das wird auch den meisten Leuten auf der Straße bewusst sein. Mir fällt auch schon länger auf, dass in vier Wochen intensiver Fernsehdebatten die Worte »Unternehmer« oder »Kapital« peinlichst vermieden wurden, abgesehen davon, dass auch die meisten Parlamentarier ihre Latifundien oder Weingüter besitzen, und sich somit die Unternehmerklasse im Parlament selbst vertritt. Hinzu kommt, dass, wenn wir zum Beispiel einen freien Zugang zu Wasser wollen, wie es die UNO vorschreibt, müssten die privaten Eigentümer des Wassers enteignet werden. Wenn die privatisierte Pensionsversicherung verstaatlicht werden soll, müssten auch deren Eigentümer notgedrungen enteignet werden, was nur recht und billig wäre, aber du siehst, dass noch harte soziale Kämpfe bevorstehen.

Das Wasser ist bei uns so was von privatisiert: In ganz Viña und Valparaíso findet man nicht einen öffentlichen Brunnen, oder einen Trinkwasserspender, an dem man im Sommer seinen Durst stillen könnte. Das könnte ja den Herstellern von Getränken finanzielle Einbußen bringen!

Weitere Bilder des staatlichen Fernsehens: Man sieht Bürger und Bürgerinnen, die glücklich sind, weil ein paar neue U-Bahnstationen eröffnet wurden. Eine Bürgerin lobt mit überschwänglichen Worten das Abkommen für den »Frieden«, und hat offensichtlich die Kröte Piñeras geschluckt. Klar, Piñera war im Krieg, jetzt möchte er Frieden schließen. Welch billige Propaganda!

Meine Bewunderung gilt den Menschen, die ihr Leben wagten, um die Lebensbedingungen ihrer Mitmenschen zu verbessern. Die Menschenrechtsverletzungen der Polizei und des Militärs werden von der Regierung Piñera bis heute geleugnet, obwohl die Spitäler voll verwundeter Demonstranten sind und das Rote Kreuz eine beispiellose Arbeit leistet. Nicht mehr als acht Polizeibeamte haben bis jetzt mit einem Strafverfahren zu rechnen. Es ist ein fauler Frieden.

Im Zentrum von Santiago, auf der Plaza Italia, drängen sich noch immer Hunderttausende auf dem Straßenpflaster, die Kundgebung verläuft vollkommen friedlich. Zwei Mal am Nachmittag haben Polizeikräfte versucht, die Menge auseinanderzutreiben, doch die Menschen haben den Platz zwei Mal wieder erobert und eingenommen. Fahnen werden geschwungen und es wird gefeiert. Etwas weiter von der Massenkundgebung entfernt, nahe der Pio Nono-Brücke, die über den Mapocho-Fluß führt, hat ein Lastwagen am Nachmittag einen Berg von Schutt und Steinen mitten auf der Straße abgeladen. Das sorgt für Irritationen, zumal der Schuttberg nicht entfernt wird. Die Müllabfuhr bekam Zusicherungen der Regierung Piñera und beendete ihren Streik.

Ungeachtet dessen werden die Protestmärsche weitergehen, wie heute angekündigt wurde. Am 30. November beginnen die Anhörungsprozesse zum Fall Catrillanca.

Mit herzlichen Grüßen
Frank Walter



17. November 2019

Liebe G., die Proteste in Chile gehen weiter, und werden wohl noch länger weitergehen müssen, damit sich grundsätzlich etwas ändert. Das »Abkommen für sozialen Frieden«, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit von der politischen Klasse ausgehandelt wurde, wird von den Menschen auf der Straße nicht angenommen. Vor allem den Oppositionsparteien wird vorgeworfen, nicht den vollen Rahmen ihrer Möglichkeiten bei den Verhandlungen ausgeschöpft zu haben. Eine neue Verfassung im Jahr 2021 löst die gegenwärtigen Probleme nicht, die geringen Renten und Löhne, die hohen Preise, usw. Die brutale Repression der Demonstranten durch die Polizeikräfte setzt sich fort, ebenso wie die Kriminalisierung der Proteste in den staatlichen Medien. Das heißt, es gibt jetzt überhaupt keine Fernsehsehdebatten und Live-Moderationen mehr, vielmehr haben sie die Programme von einem Tag auf den anderen auf Sport und seichte Unterhaltung umgestellt. Nach dem zweifelhaften »Abkommen« will die Regierung alles auf »Normalität« umstellen.

Der einzige Erfolg des Abkommens war, dass die chilenische Börse einen Höhenflug wie schon lange nicht erlebte. Wohl in dem Glauben, die Proteste hätten sich damit erledigt. Ladenbesitzer in Valparaíso haben weiße Luftballons als Zeichen des Friedens längs den Straßen aufgespannt. Sie sind sich wohl dessen nicht bewusst, dass ihre Läden nicht von Demonstranten ausgeplündert werden sondern von kriminellen Banden, die von der Polizei nichts zu befürchten haben. Bisher wurden rund 2.000 kleinere Geschäfte und Kleinbetriebe in ganz Chile ausgeplündert und verwüstet. Als Entschädigung bietet die Regierung den Kleinbetrieben Kredite mit kleiner Verzinsung an. Die Taktik, den Kriminellen alle Freiheit zu belassen, zeigt ihre Wirkung, Teile der Bevölkerung sind verunsichert. In den Wohnbauten der Reichen schieben die besorgten Bürger Wache. Die typischen gelben Westen sind in den vergangenen Wochen das Erkennungsmerkmal des konservativen Bürgertums geworden, das sich angeblich gegen das Lumpenproletariat verteidigt. Alles nur heiße Luft und Hysterie. In einem Wohnbau wohlhabender Bürger in Viña konnte ich beobachten, wie die Bewohner desselben in ihren brandneuen gelben Westen geschäftig zusammengelaufen kamen, bloß weil auf der Straße ein Einkaufswagen vom Supermarkt mit einem zerfledderten Rucksack darinnen zu sehen war. Eine Bombe hieß es! Es war zum Lachen.

Inzwischen stellte sich heraus, dass die Geschoße der Polizei nur zu 20 Prozent aus Gummi bestehen, der Rest der Geschoße ist aus Blei. Am 15. November, noch am selben Tag der Bekanntmachung des »Abkommens für den sozialen Frieden« gab es in Santiago auf der Plaza Italia einen weiteren Toten zu beklagen. Der 29-jährige Abel Acuña hatte einen Herzinfarkt erlitten, als sich jedoch die Ärzte des Roten Kreuzes bemühten, ihn wiederzubeleben, verhinderten dies in voller Absicht die Polizeikräfte, die Ärzte und Demonstranten mit Wasserwerfen, Tränengas und Gummigeschoßen angriffen. Das Leben des jungen Mannes konnte nicht gerettet werden. Ähnliche Vorfälle wurden auch in Temuco und anderen Städten beobachtet. Das Rote Kreuz leistet übrigens in diesen Tagen eine unermüdliche und professionelle Arbeit, die es zu würdigen gilt.

Ein Gerichtshof in Valparaíso ordnete unverzüglich ein Verbot für Gummigeschoße an, ein Signal, dass Teile der Justiz noch integer zu sein scheinen. Doch in Valparaíso hat sich selbst der Bürgermeister Jorge Sharp der sozialen Bewegung angeschlossen. Zusammen mit weiteren 78 Funktionären und Politikern hatte Sharp kurz nach Bekanntwerden des Abkommens seinen Austritt aus dem linken Parteienbündnis Breite Front (Frente Amplia) angekündigt, was einem Erdrutsch glich.

Am 16. November wurden in Santiago drei Bankfilialen verwüstet, aber nichts gestohlen. Im Nationalkongress in Valparaíso wurde in einer 16-stündigen Debatte das Budget für das Jahr 2020 verabschiedet. Bei dieser Gelegenheit beschlossen die Parlamentarier, die obligaten Beiträge für die UNO nicht mehr zu bezahlen. Das soll wohl so eine Art Racheakt sein. Welch ein Armutszeugnis für ein Parlament!

Eine Sozialarbeiterin äußerte sich am 15. November gegenüber dem Sender Telesur wie folgt (2):
    »Das ist der Frieden, das ist der Frieden, den uns die Regierung angeboten hat um drei Uhr morgens. <i>(Ïm Hintergrund werden Demonstranten von der Polizei auseinandergetrieben.)</i> Sie glauben, dass sie uns mit dieser Scheiße hereinlegen können, wir sind keine Dummköpfe. Wir sind aufgewacht. Chile ist aufgewacht. Die armseligen Kleinigkeiten, die sie uns geben, interessieren uns nicht. Wir wollen ein gerechtes, würdevolles Land. Es kann nicht sein, dass die Leute auf den Wartelisten sterben, alle Patienten sterben auf den Wartelisten, weil es kein angemessenes Gesundheitssystem gibt, und alles was sie uns anbieten: mehr Geld für Private. Wir sind müde, die Scheiße muss aufhören. Wir brauchen Bildung. Chile braucht ein Gesundheitswesen, das angemessen ist, und mit garantierten Rechten. Am Morgen brachten sie hier ein Schild an mit dem Wort Frieden. - Dies ist der Frieden. Das da. Sie lassen uns nicht demonstrieren. Sie lassen uns nicht reden. Sie lassen uns gar nichts machen. Das ist Chile. Das was Sie hier sehen, nicht was die Trotteln im Ausland behaupten. Das ist Chile. Wir sind müde, und wir werden nicht aufgeben. [...] Ich bin Sozialarbeiterin des öffentlichen Gesundheitssystems. Viele Patienten sterben, sie begehen Selbstmord, weil es keinen Psychiater gibt, der sie rechtzeitig behandeln kann. Das ist, was in der Realität geschieht. Nicht, was sie von außen sehen wollen. [...] Die mentale Gesundheit ist angeschlagen, die Leute sind gestresst, Panikattacken, Angstzustände. Die mentale Gesundheit in Chile war immer am schlechtesten. Immer. Die Selbstmordraten hier zählen zu den höchsten in ganz Lateinamerika und einschließlich der Welt, im Vergleich mit der geringen Bevölkerung, die wir haben. Und heute ist die mentale Gesundheit schlechter geworden. Was los ist, es gibt keine Spezialisten. Wir Arbeiterinnen des psychologischen Gesundheitssystems sind erschöpft. Wir haben keine Präventionsvorsorge, wir haben keine Räumlichkeiten, wir haben keine Zeit, die Stunden sind nicht genug, und schließlich wählen die Patienten den Selbstmord, weil es keinen Ausweg mehr gibt. Es gibt in Chile keine ausreichenden Spezialisten.

    Moderator: Chile hat die zweitgrößte Selbstmordrate unter Jugendlichen nach Südkorea.

    Stimme im Off: Deswegen kämpfe ich, wegen meinen Großeltern, denen sie eine Scheiß-Rente bezahlen.

Der pensionierte Philosophieprofessor Leopoldo Lavín Mujica (dessen Webseite, wenngleich auf spanisch, ich hier verlinke) schreibt heute (17. November) in der digitalen Zeitung El Ciudadano unter anderem folgendes (3):

    Die Bewegung geht weiter, und die Repression setzt sich fort nach dem Pakt der Kaste

    Und dennoch, das Geschrei geht weiter: »Chile wird das Grab des Neoliberalismus sein« und »Chile ist aufgewacht« hört man weiterhin mit mit aller Kraft auf den Plätzen und in den aller unerwartetsten Winkeln des Landes. Und es ist ein politisches Programm, dem man einen Umriss verschaffen muss in einer neuen Phase der Rebellion, die bewiesen hat, fähig zu sein, ganz Chile lahmzulegen am vergangenen Dienstag, dem 12. November [Generalstreik], wenn das Volk von Arbeitern/Arbeiterinnen, Bürger und Jugendlichen/Studenten es so will und vorbereitet.

    Am Freitag dem 15. wurde der Platz der Würde [Plaza Italia] massenhaft besetzt, und die Repression der Polizei war so brutal wie diejenige, die über den massiven Demonstrationen seit Beginn der sozialen Rebellion entladen wurde, die am 18. Oktober begonnen hatten.

    Es ist der Grund der Infragestellung, und es ist das tiefe Empfinden der sozialen Bewegung der kritischen Avantgarde gegenüber der politischen Macht der autoritären liberalen Demokratie, deren wirtschaftlichem Modell der Privatisierung und Konzentration allen Vermögens auf 5 Prozent der Gesellschaft, und der korrupten politischen Kaste, verbunden mit Indolenz vor den Missbräuchen, die weit mehr erreicht haben könnte in den Verhandlungen des »Abkommens«. Abgesehen davon könnte die Kriminalisierung der sozialdemokratischen und anti-neoliberalen Bewegung zu einem Pyrrhussieg der Rechtsparteien werden, die ihre Macht dazu aufwenden, die Redaktion einer demokratischen Verfassung mit einem Drittel der Stimmen in einer zukünftigen Konstitutionellen Versammlung (jetzt »Konvent« genannt) zu blockieren. Etwas wie die alte Verfassung von 1980 perpetuiert in einem Mechanismus um eine »neue« herauszugeben.

    Außerdem wird, von nicht geringer Bedeutung, der so genannte konstitutionelle Prozess oder die operative Mechanik, in den Händen einer »Technischen Kommission« verbleiben, ernannt von der politischen Kaste im Nationalkongress. Zusammen damit bleiben die traditionellen Medien der Kommunikation, Fernsehen und Presse, in den Händen der Rechten (ohne Ausnahme) - diese werden nicht gezwungen sein, (das war nicht Teil des unterzeichneten Abkommens und ist eine unverzeihliche Konzession der Opposition an die extreme, neoliberale Rechte), dem konstitutionellen Prozess einen ausgeglichenen, mit pluralistischer Information erfüllten Raum zu geben, der im April mit einer Volksabstimmung eingeleitet wird.

    Umso mehr drängt es sich auf, populäre Versammlungen (asambleas populares) zu schaffen, auf der Basis, dass sie die Art und Weise definieren, dieser Phase der öffentlichen Debatte zu begegnen, welche Strategien entwickelt werden, Delegierte wählen mit dem Programm und den Mandat des mobilisierten Volkes.

Tatsächlich bleiben im Hinblick auf das Abkommen der Politiker noch Fragen offen. Aus wie vielen Mitgliedern soll die Versammlung bestehen, die jetzt offiziell als Konstitutioneller Konvent bezeichnet wird, um sich von der volkstümlichen Bezeichnung »Asamblea Constitutional« abzugrenzen? Eine neue Verfassung bietet so unendlich viele Möglichkeiten, etwa die Einführung eines Mechanismus, damit die Abgeordneten Rechenschaft über ihre Arbeit ablegen müssen, oder eine Verfassung nach dem Schweizer Modell zu wählen, mit recht viel Föderalismus und Bürgerbeteiligung. Aber so, wie es aussieht, wird seitens der politischen Elite versucht werden, der Redaktion einer neuen Verfassung ein möglichst enges Korsett anzulegen.

Man soll indessen auch nicht alles auf den Pinochet schieben, damit würde man es sich zu einfach machen. Die Regierungen des Mitte-Links-Bündnisses haben vielleicht sogar noch mehr dazu beigetragen, das Land auszuverkaufen und den vorgegebenen Kurs voranzutreiben hin zu einer Gesellschaft der sozialen Ungleichheit par excellence.

Die Organisationen der Studenten und Professoren in Chile lehnen das Abkommen ab und rufen dazu auf, die Proteste fortzusetzen. Mario Aguila, Vorsitzender des Professorenkollegiums, sprach im Radio Cooperativa von einem »alten Stil der vier Wände, eingesperrt, bis in die Morgenstunden und nachher ein Foto, wo sie streiten und sich mit den Ellenbogen anstoßen, um auf dem Foto alle mit einem strahlenden Lächeln zu erscheinen, das wird von der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert.«

Ein glücklicheres Land ist Uruguay mit seinem langjährigen sozialistischen (inzwischen zurückgetretenen) Präsidenten Pepe Mujica. Die Menschen dort sind arm, aber sie können zumeist von ihrem Einkommen zufrieden leben, die Kriminalitätsraten sind gering. Wahrscheinlich wird Uruguay trotz seines Sozialismus nur deshalb in Ruhe gelassen, weil sie dort keine Bodenschätze oder andere Ressourcen haben, welche die Begehrlichkeiten anderer erwecken.

Derzeit haben wir in der Region von Valparaíso einen enormen Waldbrand, der seit gestern wohl schon 2.000 Hektar der Vegetation vernichtete, und fortdauert. Hier in Viña riecht es überall nach Brand und Feuer, der Rauch bedeckt den ganzen Himmel und hat die Stadt eingehüllt. Feine Reste von Asche fliegen zum Fenster herein und bedecken die Köpfe der Passanten. Ob das etwa mit den Protesten zu tun hat, ist ungewiss. Davon ausgehend, dass es sich um sieben Brandherde handelt, die allesamt in der Nähe von Zufahrtsstraßen ausbrachen, möchte die Regierung anscheinend einen Bezug zu den Protesten unbedingt herstellen. Zwei Personen wurden verhaftet, die sich in der Nähe der Brände aufgehalten haben sollen, was auch noch nichts beweist.

Mit herzlichen Grüßen
Frank Walter



Fußnoten:

1 https://einarschlereth.blogspot.com/2019/11/bolivien-staatsstreich-von-christlichem.html
2 https://youtu.be/9TC8qLSO8Y4
3 http://www.rebelion.org/mostrar.php?tipo=5&id=Leopoldo%20Lav%EDn%20Mujica&inicio=0

Online-Flyer Nr. 726  vom 20.11.2019

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