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Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

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Vortrag, gehalten am 12. Februar 2020 an der Humboldt-Universität in Berlin
Wer ist Antisemit?
Von Georg Meggle in memoriam Hajo Meyer (1924-2014)

Veranstaltet vom Lehrstuhl für philosophische Anthropologie und dem Lehrstuhl für Wissenschaftsphilosophie fand an der Humboldt-Universität zu Berlin am 12.02.2020 eine Veranstaltung in der Gesprächsreihe "Freiheit der Wissenschaft - Zwischen Forschung und politischem Statement" statt. Ihr Titel lautete: "Wer ist Antisemit? – Eine philosophische Begriffsklärung - Vortrag und Diskussion an der Humboldt-Universität zu einer wichtigen und aktuellen Frage". Hauptreferent war der analytische Philosoph Prof. Dr. Georg Meggle, der seit seiner Emeritierung an der Universität Leipzig in Kairo und Salzburg unterrichtet. Als Ko-Referent fungierte mit einer Replik Prof. Dr. Olaf Müller, der an der Humboldt-Universität Philosophie lehrt. Georg Meggle erläutert in der Veranstaltungsankündigung: "Eine Einstellung ist antisemitisch genau dann, wenn ihr zufolge eine Person schon allein deshalb weniger wert sein soll, weil sie Jude/Jüdin ist. Kurz: Antisemitismus ist ein spezieller Fall negativer Diskriminierung. Mein Vortragsziel ist bescheiden. Ich will lediglich (a) etwas näher erklären, was diese allgemeine Definition genauer besagt... Und (b) ich versuche möglichst scharf zwischen Definitionsfragen einerseits und Verifikationsfragen andererseits zu unterscheiden... Und (c) ich erläutere kurz die besonders strittige Differenz zwischen Anti-Semitismus einerseits und Anti-Zionismus andererseits." Die NRhZ dokumentiert nachfolgend den Vortrag von Prof. Dr. Georg Meggle, über den Benjamin Weinthal in der "Jerusalem Post" einen Artikel mit der Überschrift "Deutsche Universität veranstaltet Pro-BDS-Veranstaltung mit mutmaßlichem Antisemiten" meint verfassen zu müssen, und über den in der "Jüdischen Allgemeinen" im nachhinein ähnlich tendenziös zu lesen ist: "Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe sprach ein emeritierter Professor, der als Unterstützer der BDS-Bewegung gilt".


Hajo Meyer (1924-2014), Überlebender des Holocaust (Foto: arbeiterfotografie.com)

Wer ist Antisemit? Diese Frage ist doppeldeutig. Man kann sie so verstehen, dass sie nach einer Liste verlangt, auf der im Idealfall alle Antisemiten namentlich aufgeführt sind. Man kann sie aber auch als Definitionsfrage auffassen, d.h., als Frage danach, welche Bedingungen notwendig und zusammengenommen hinreichend sind, um zu Recht auf dieser Liste zu stehen. Diese zweite (abstraktere) Lesart ist ganz klar die grundlegendere. Sie steht im Folgenden daher im Mittelpunkt.

1. Antisemitische Einstellungen

Also: Genau wann bin ich Antisemit? Wollen Sie das wirklich wissen? Dann wäre die Antwort doch eine ganz einfache: Antisemit bin ich genau dann, wenn ich Juden diskriminiere. Und eine Handlung von mir ist antisemitisch gdw. diese Handlung Juden diskriminiert. Und eine Einstellung von mir – also mein Glauben oder mein Wollen – ist antisemitisch gdw. diese Einstellung eine Juden-diskriminierende ist.

So einfach ist das. Bzw. so einfach wäre es, wenn man es wirklich wissen wollte – und sich getrauen würde, über diesen einfachen Punkt auch mal selber nachzu-denken und sich dabei nicht durch so genannte Arbeitsdefinitionen stören zu lassen. Wer wirklich Klarheit auch in Sachen Antisemitismus will, der und dem kann ich nur raten, diese semantischen Nebelkerzen einfach zu ignorieren. Ich tue das im Folgenden.

Also: Mein Kernsatz ist: Antisemitismus = Judendiskriminierung. Punkt.

Das ist auch schon alles, was ich mit diesem halbstündigen Statement letztlich rüberbringen will. Ich versuche jetzt lediglich, diesen einfachen Sachverhalt etwas zu erläutern.

Wir haben das Antisemitismus-Label soeben auf drei Ebenen verwendet, nämlich auf der Ebene:
  • Der Akteure bzw. der Subjekte (Und das können Individuen, Gruppen oder Institutionen sein).
  • Der Handlungen (und das können konkrete Handlungen oder Handlungstypen sein).
  • Der Einstellungen (unsere Glaubensannahmen oder Wollungen / Präferenzen).
Ich bin Analytischer Philosoph. Und so bitte ich Sie um Verständnis dafür, dass ich in diese 3-Ebenen-Liste gleich noch etwas Struktur bringen will. Ich bin überzeugt: Die Ebene der Einstellungen ist die grundlegende. Von dem Begriff einer AS-Einstellung ausgehend, lassen sich alle anderen Antisemitismus-Begriffe definieren; aber nicht umgekehrt.

Genau wann ist also eine Einstellung eine antisemitische? Sie wissen es schon: Genau dann, wenn sie eine Juden-diskriminierende ist.

Dasselbe genauer:
    (AS.E) Juden-diskriminierend (Antisemitisch) ist eine Einstellung genau dann, wenn ihr zufolge ein Jude schon allein deswegen weniger wert ist, weil er Jude ist.
Antisemitismus ist eine spezielle Form von Diskriminierung. Weitere Diskriminierungs-Formen wären, um nur die drei bekanntesten zu nennen: Rassismus, Sexismus und Nationalismus.

Dieser Ansatz hat – gegenüber allen mir bekannten Alternativen – einen Riesenvorteil: Er legt von Anfang an offen, warum außer dem Rassismus, dem Sexismus und dem Nationalismus auch der Antisemitismus durch und durch moralisch verwerflich ist – ohne jede Einschränkung, ohne jedes Wenn- und Aber, ausnahmslos. Anders als bei Notlügen oder bei Tötungen in Notwehr gibt es für keine dieser Diskriminierungen auch nur irgendeine moralische Rechtfertigung.

Das hat einen ganz einfachen Grund. Diese Verhaltensweisen und Einstellungen verstoßen allesamt gegen eines unserer elementarsten moralischen Gerechtigkeitsprinzipien. Nämlich gegen das universelle Diskriminierungsverbot: Ob das, was ich tue, in moralischer Hinsicht gut oder schlecht (richtig oder falsch) ist, das darf unter keinen Umständen davon abhängen, ob ich schwarz oder gelb oder weiß bin; auch nicht davon, ob ich Mann oder Frau bin; und ebenso auch nicht davon, ob ich Jude bin oder nicht.

Dieses Diskriminierungsverbot wird oft auch als Gleichheitsgebot formuliert: In moralischer Hinsicht sind alle Rassen, Geschlechter und Ethnien etc. ohne jede Einschränkung gleich. Zu welcher Rasse wir gehören, zu welchem Geschlecht, zu welcher Ethnie etc. – all dies ist in moralischer Hinsicht absolut irrelevant.

Was oft übersehen wird: Dieses universelle moralische Gleichheitsgebot setzt keinerlei empirische Gleichheitsannahmen voraus; und es fordert auch keine undifferenzierte Gleichbehandlung. Es verlangt nur, dass, auch wenn wir verschiedenen Rassen oder Geschlechtern, Ethnien etc. angehören, unsere gleichen Interessen unter den gleichen Umständen auch in gleicher Weise berücksichtigt werden müssen. Dass zum Beispiel das Leid einer jüdischen Mutter über den Tod ihres Kindes genauso viel zählt wie das gleiche Leid einer deutschen oder schwedischen Mutter – oder auch einer palästinensischen.

Dass sich Diskriminierungen in der Regel gegen Andere wenden, schließt die Möglichkeit einer Selbstdiskriminierung keineswegs aus. Wer sich selbst hasst, tut das mitunter auch deshalb, weil er anders ist – oder auch nur anders zu sein glaubt – als "die Anderen". Auch Frauen können Frauen-Feindinnen sein; auch Schwarze können ihre schwarzen Brüder und Schwestern und sich selbst (als Schwarze) verachten; auch Deutsche können Anti-Deutsche werden; und so ist auch jüdischer Selbsthass keine begriffliche Unmöglichkeit. Antisemit kann im Prinzip jeder sein. Also auch ein Jude. Dass jemands Auffassung schon deshalb gar nicht antisemitisch sein könne, weil er selber Jude sei, ist schlicht falsch. Genau aus diesem Grund hülfe es mir daher auch nichts, wenn ich mich gegen die Unterstellung, ein Antisemit zu sein, mit dem Hinweis verteidigen würde, dass zu meinen besten Freunden doch auch Juden gehören. Es könnte ja sein, dass diese selber Antisemiten sind.

Übrigens: Moralisch verwerflich kann auch eine philosemitische Einstellung sein. Falls auch sie diskriminiert. Also immer dann, wenn "Philosemit sein" soviel bedeutet wie: Juden sind per se als (in moralisch relevanter Hinsicht) wertvoller anzusehen als andere. Denn daraus folgt bereits, dass, wer immer auch diese Anderen sein mögen, diese ihrerseits per se weniger wert sind als andere (als die Juden nämlich). Genau dies aber verbietet das universelle Diskriminierungsverbot.

Der hier eingeführte Antisemitismus-Begriff ist höchst allgemein. Und das muss er auch sein, damit, wie es so oft heißt, auch wirklich jede Art von Antisemitismus von ihm erfasst – und so auch mit seiner Hilfe bekämpft – werden kann. Aus diesem Grund darf ein allgemeiner Antisemitismus-Begriff insbesondere auch noch nichts darüber sagen, warum ein Subjekt (Individuum, Kollektiv oder die betreffende Institution) die fragliche Juden-diskriminierende Einstellung überhaupt hat. Der Begriff sagt nichts über die verschiedenen Ursachen, nichts über die diversen Motive und nichts über etwaige Gründe.

Je nach dem Typ dieser Motive oder Gründe wäre zu unterschieden zwischen
  1. Rassischem
  2. Religiösem (christlichen, katholischen, protestantischen, muslimischen)
  3. Sozialem oder
  4. Politischem Antisemitismus,
wobei sich diese Typen keineswegs ausschließen.

Und last but not least: Unser Grundbegriff der negativen Juden-Diskriminierung lässt auch völlig offen, wie der Begriff "Jude" selber zu definieren ist. Mit gutem Grund. Zum einen geht es bei diesem Antisemitismus-Konzept ohnehin gar nicht darum, wer objektiv Jude ist, sondern (wie wir gleich noch sehen werden) nur darum, dass das diskriminierende Subjekt sein Diskriminierungs-Objekt für eine Jüdin oder einen Juden hält. Und zum anderen kann und sollte man die entsprechende Selbstbestimmung ohnehin lieber ,den Juden' selbst überlassen. Ob diese sich jemals selber darüber einigen können oder nicht, das ist zum Glück für eine klare Bestimmung dessen, was unter Antisemitismus zu verstehen ist, völlig irrelevant.

2. Antisemitisches Verhalten

So viel zum Grund-Begriff einer antisemitischen Einstellung. Unsere nächste Frage: Wann ist ein Verhalten antisemitisch?

Die Antwort kennen Sie schon: Genau dann, wenn sich in ihm eine antisemitische Einstellung manifestiert. Wobei daran zu erinnern ist, dass sich nicht jede Einstellung in einem entsprechenden Verhalten manifestieren muss. Zeigt sich bei Ihnen Ihre antisemitische Einstellung auch in Ihrem Verhalten, dann sind Sie, wie man sagt, ein manifester Antisemit, andernfalls eben ‚bloß‘ ein latenter.

Allgemeine Definition


(AS.V) Ein Verhalten von X gegenüber Y ist antisemitisch / Juden-diskriminierend gdw.
  1. das Verhalten von X gegen Y gerichtet ist
  2. und dies deshalb, weil X glaubt, dass Y jüdisch ist – und
  3. weil X glaubt, dass Juden als solche weniger wert sind.

Ein einfaches Beispiel

Wir befinden uns in einem Kindergarten. Die Gruppe, die der Kindergärtner Xaver betreut, ist ethnisch bunt gemischt. Die kleine Yvonne hat soeben ein anderes Mädchen vom Stuhl geschubst. Xaver hat das gesehen – und verdonnert Yvonne daraufhin dazu, beim nachfolgenden Ringelspiel zuschauen zu müssen.

Was müsste in dieser Situation jetzt noch zusätzlich der Fall sein, damit dieses Verhalten von Xaver zu Recht als antisemitisch gelten (er also auf die Antisemiten-Liste gesetzt – und somit unter Umständen sogar aus dem Kindergartendienst entlassen – werden) darf? Prüfen Sie jetzt erstmal in Ruhe, ob Sie mit der Antwort der obigen Definition (AS.V) einverstanden wären. Wir gehen die einzelnen Bedingungen noch durch. Es schadet auch nichts, wenn Sie im Folgenden weiterhin die entsprechenden Parallelen für "rassistisch, sexistisch, etc." im Kopf behalten.

Zur Bedingung 1: Xavers Reaktion auf Yvonnes Schubs ist zweifelsohne an Yvonne selber gerichtet. Sie ist Adressatin des Verbots, das ihr untersagt, am Ringelspiel mitmachen zu dürfen. Und insofern sie an diesem Spiel wohl gerne mitgemacht hätte, trifft auch sicher zu, dass Xavers Verbot für Yvonne eine echte 'Schädigung', also eine echte Strafe, ist. Xavers Reaktion war, so verstanden, nicht nur an, sondern auch gegen Yvonne gerichtet.

Das macht aber Xavers Reaktion noch lange nicht zu einer antisemitischen Tat. Es kann sein, dass er, so auf einen Schubs zu reagieren, generell für eine angemessene Reaktion hält, er diese Strafe auch gegen jedes andere Kind aus der Gruppe verhängt hätte. Dafür, dass Xavers Reaktion antisemitisch ist, ist die Bedingung (1) also zwar notwendig, aber nicht hinreichend.

Zu den Bedingungen 2 & 3: Dieses Bild ändert sich sofort, sobald wir wissen, dass Xaver auf den Schubs von Yvonne nur deshalb so reagiert hat, weil er Yvonne für eine Jüdin gehalten hat. M.a.W.: Sobald wir wissen, dass er nicht so reagiert hätte, wenn er Yvonne nicht für eine Jüdin gehalten hätte. Wenn also z.B. Anna, Yvonnes nicht-jüdische Freundin, wenn sie ein anderes Kind geschubst hätte, trotzdem weiter hätte mitspielen dürfen.

Die Bedingung (3) macht die in (2) eventuell bereits implizit enthaltende Diskriminierung von Yvonne als Jüdin explizit. Insofern mag (3), falls bereits aus (2) folgend, vielleicht redundant sein. Aber das macht nichts. Redundanz schadet bei einer Definition nicht; und Deutlichkeit ist in diesem Kontext gewiss wichtiger.

Was lehrt uns dieses simple Beispiel? Was lehrt uns die (anhand dieses Beispiels ja nur exemplifizierte) simple Definition? Einiges. Zum Beispiel:

Antisemitismus – auch ohne Juden. Angenommen, Xaver hat sich getäuscht: Yvonne ist gar keine Jüdin. Xavers Reaktion war trotzdem antisemitisch. Sie sollte eine vermeintliche Jüdin als Jüdin treffen; d.h.: sie war durch eine antijüdische Diskriminierung motiviert. Das reicht. Genau deshalb fordert die Bedingung (2) nicht, dass X weiß, dass Y jüdisch ist, sondern nur, dass X das glaubt. Dass es für einen Antisemitismus gar keine Judenpräsenz zu geben braucht, das ist also keine großartige empirische Entdeckung, folgt vielmehr schon aus dem Begriff eines antisemitischen Verhaltens selbst.

Nicht jede Schädigung eines Juden ist schon Antisemitismus. Am Abend zuvor war Xaver in seiner Disko in eine Schlägerei verwickelt, bei der er, "echt in Notwehr", wie er meint, einen Japaner K.O. schlug. Ist Xaver damit schon ein (Anti-Japaner bzw. Anti-Asiaten-) Rassist? Natürlich nicht. Genauso wenig ist jeder Schaden, den man einem jüdischen Mitbürger zufügt, schon kraft dieser Schädigung ein Beleg für Antisemitismus. Auch wenn Yvonne also tatsächlich Jüdin sein sollte; falls bei ihrer Bestrafung die Diskriminierungskomponente fehlt, ist diese Bestrafung (wie ja schon in 2.3 oben gesagt) sicherlich nicht antisemitisch.

Antisemitisch – auch ohne Schädigung. Unser Beispiel – wie gehabt. Nur mit dem Unterschied: Yvonne selber ist regelrecht froh darüber, dass sie an diesem doofen Ringelspiel nicht mitmachen muss. Trotzdem: Auch wenn Xavers Reaktion für Yvonne in diesem Fall keine echte Strafe war, Yvonne von Xavers Reaktion vielmehr sogar profitierte: Xavers Reaktion bleibt nichtsdestotrotz – ihrer diskriminierenden Motivation wegen – weiterhin antisemitisch.

Antisemitismus – einfach so. Unser Beispiel noch mal wie gehabt. Nur mit dem Unterschied: Dem Xaver ist das antisemitische Diskriminierungs-Motiv, das hinter seiner Reaktion steht, selber gar nicht präsent. Er reagiert nun mal so, wie er reagiert – einfach so. Ist solches möglich? Wenn dem so wäre, dann kann es sein, dass ich Antisemit (bzw. entsprechend: Rassist, Sexist etc.) bin, auch ohne es zu wissen. Das ändert aber nichts daran (ja bekräftigt es sogar), dass, ob, was ich tue, antisemitisch (rassistisch etc.) ist oder nicht, immer noch allein von meinen Einstellungen abhängt – auch wenn mir diese, wie gesagt, nicht immer selbst bewußt sein müssen. Nennen wir den, der nicht mal selber weiß, dass er ein Antisemit ist, einen Krypto-Antisemiten. Und den, der sich seiner betreffenden AS-Einstellung bewusst ist, könnten wir jetzt als einen selbst-transparenten AS bezeichnen.

Diese Unterscheidung sollte jetzt nicht mit der schon eingangs gemachten zwischen manifestem und latentem AS verwechselt werden. Es gibt vielmehr die folgenden vier Möglichkeiten.



Antisemitisch – trotz Beteuerung des Gegenteils. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich kein Antisemit bin. Beweist das, dass ich keiner bin? Nach dem soeben Gesagten leider nicht. Es kann ja sein, dass ein Krypto-Antisemit besten Gewissens bestreitet, Antisemit zu sein – aber trotzdem (hinter seinem eigenen Rücken sozusagen) einer ist.

Was folgt daraus? Und was folgt daraus nicht?

Nun, wie immer: unübersehbar viel. Zum Beispiel folgt, dass mich, was meinen Krypto-Antisemitismus angeht, andere vielleicht besser kennen als ich mich selbst. Aber daraus folgt noch lange nicht, dass sich dieses "Besser Wissen" mir gegenüber jeder Beliebige anmaßen darf. Und erst recht folgt nicht, dass jeder, der sich das anmaßt, damit auch Recht hat.

Die große Rest-Frage ist also: Wann darf man sich dieses Besser-Wissen anmaßen? Und wann hat man damit Recht?

Wir kommen jetzt, nachdem die Definitionsfrage geklärt ist, wir also wissen, was der Begriff "Antisemitismus" besagt (nämlich Juden-Diskriminierung, Punkt!), zum Verifikationsproblem, zum großen Minenfeld der Erstellung einer möglichst zuverlässigen Antisemiten-Liste.

3. Verifikationsprobleme (Zur Antisemiten-Liste)

Gehört Xaver wegen seiner Bestrafung von Yvonne wirklich auf die Antisemiten-Liste? War seine Reaktion auf deren Schubs tatsächlich antisemitisch? Wovon das abhängt, wissen wir: Eben davon, ob hinter seiner Reaktion auch wirklich die fragliche antisemitische (= Juden-diskriminierende) Einstellung steckte oder nicht! Die Faktenfrage ist: Hatte er diese Einstellung tatsächlich? Und spielte sie wirklich die für das Vorliegen eines antisemitischen Verhaltens notwendige motivationale Rolle? Wie kriegen wir das raus? Das ist das Verifikationsproblem.

Bei diesem Problem braucht man ohne Fallunterscheidungen erst gar nicht anzufangen. Also: Jetzt ein paar Fallunterscheidungen.

Ohne jeden Hintergrund

Zurück zu Xaver. Wir kennen sein Verhalten. Wissen aber sonst nichts weiter; haben also insbesondere weder über ihn noch über die fragliche Situation irgendwelche weiteren Hintergrundinformationen. Bleibt es dabei, so gilt: Verifikation – unmöglich. Jeder Versuch dazu wäre schlicht zirkulär. Die Deutung des Verhaltens könnte sich nur auf die Zuschreibung der Einstellung stützen, auf nichts sonst. Diese Zuschreibung aber steht und fällt (in diesem Fall!) mit der Deutung des gezeigten Verhaltens. Zirkulärer geht es nicht.

Die dunkle Kehrseite dieses Resultats: Unmöglich ist nicht nur die Verifikation; unmöglich ist auch jede Falsifikation. Was leider heißt: Wer Xaver in diesem Fall Antisemitismus anhängt, kann prinzipiell nicht widerlegt werden. Wer das schon als Beweis ansieht, hat, was sein Urteil über Xaver angeht, freie Hand. Kein Wunder, dass sich dieses Freie-Hand-Faktum einige Leute immer mal wieder – und so auch derzeit – absolut schamlos zu Nutze machen.

Würde sich an dieser Unbeweisbarkeit bzw. Unwiderlegbarkeit etwas ändern, wenn wir Xaver fragen könnten? Doch nur dann, wenn man ihm Glauben schenken darf. Wenn nicht, so könnte Xaver sagen, was er will; es änderte sich damit keinen Deut.

Mit Hintergrund: Wissen über den Täter

Nach Belegen für oder gegen Xavers antisemitische Motivation lässt sich erst dann sinnvoll fragen, wenn wir schon etwas mehr wissen. Zum Beispiel mehr über ihn, den Täter: Wie hat er sich bisher Yvonne und anderen (echten oder vermeintlichen) jüdischen Kindern gegenüber verhalten? Und wie im Vergleich dazu gegenüber den anderen (echt oder vermeintlich) nicht-jüdischen Kindern? Sofort fallen einem hier auch Verfahren für 'Experimente' ein, die man mit Xaver und seiner Kindergartengruppe machen könnte, um auch noch mehr zu wissen. Mag sein, dass auch das so gewonnene weitere Wissen noch nicht logisch zwingend für den Schluss auf Xavers Antisemitismus (oder eben für das Fehlen desselben) wäre; aber das macht nichts. Logisch zwingend sind Indizien-basierte Resultate meist ohnehin nicht. Hinreichend starke Bestätigung reicht.

Mit Hintergrund: Wissen über die Tat


Nächster Fall: Wir wissen zwar nichts Weiteres über den Täter, aber doch etwas Wichtiges über die Tat. Xaver hat Yvonne nicht nur nicht weiter mitspielen lassen; er hat auch noch gesagt: "Du blödes Judengör". Diese Äußerung enthält schon ihrem Typ nach einen Antisemitismus-Indikator. Dabei kommt es jetzt nicht darauf an, wie stark dieser Indikator für sich genommen ist, nur darauf, dass sich allein durch sein Vorhandensein die Ausgangslage – das anfängliche "Wir können gar nichts sagen" – ändert. Der Verdacht auf Xavers Antisemitismus ist jetzt nicht mehr völlig unbegründet. Was aber nicht mit einer hinreichenden (hinreichend starken) Begründung verwechselt werden sollte.

Usw. Schritt für Schritt. Sie wissen jetzt, wie man vorgehen könnte, um sich sogar in dem Labyrinth der Antisemitismus-Verifikationsprobleme etwas besser zurechtzufinden. Was will man mehr? Bei diesem Thema!

Schluß

Was ich mit diesem Statement zeigen wollte, ist damit – so hoffe ich – gezeigt: Man kann auch über Antisemitismus klar und deutlich und auch relativ einfach sprechen. Bleibt somit die Frage: Warum tun wir‘s nicht? Was hindert uns daran? Was hindert uns daran speziell im Kontext der Antisemitismus-Debatte?

Der große Brecht hat es klar und deutlich benannt: Es ist die Angst. Und ANGST MACHT DUMM. Darauf setzt der Terrorismus. Aber nicht nur dieser. Bzw. nicht nur der, der auch so – als „Terrorismus“ – bezeichnet wird.

Ich hoffe, dass mein Statement auch gezeigt hat, dass man über Antisemitismus durchaus auch angstfrei (und so auch klar und einfach) sprechen kann. Man kann das – wenn man es auch will. Ich will es jedenfalls. Sie auch?


Dieses Referat beruht auf dem im eBook "Über Medien, Krieg und Terror" von Georg Meggle (Heise 2019) publizierten gleichnamigen Vortrag und dessen unter dem Titel "Genau wann bin ich Antisemit?" am 30.10.2019 bei Telepolis erschienenen Variante. Verbesserungsvorschläge bitte an: meggle@uni-leipzig.de



Siehe auch:

Der IHRA-Definition des Antisemitismus folgen immer mehr Länder, Hauptzweck ist ihre Verwendbarkeit als semantische Waffe
Genau wann ist Israelkritik antisemitisch?
Von Georg Meggle
NRhZ 731 vom 01.01.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26475

Petition gegen die Entschließung „Kein Platz für Antisemitismus“ der Hochschulrektorenkonferenz (HRK)
EINSPRUCH gegen Sprachregelungen für Hochschulen
Von Georg Meggle, Norman Paech und Rolf Verleger
NRhZ 730 vom 18.12.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26445

Zur Entschließung "Kein Platz für Antisemitismus" der Hochschulrektoren-Konferenz vom 19.11.2019
Sprachregelung für unsere Unis? – Einspruch!
Von Georg Meggle
NRhZ 728 vom 04.12.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26405

Test der "Arbeitsdefinition Antisemitismus"
Ergebnis: Mangelhaft
Von Georg Meggle
NRhZ 724 vom 06.11.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26319

Gedankenaustausch mit einem Analytischen Philosophen
Auf dem Weg zu einer "Internationale der Humanisten"
Georg Meggle - im Gespräch mit Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
NRhZ 724 vom 06.11.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26318

Vortrag bei der Deutsch-Arabischen Gesellschaft (DAG), Berlin, 10.9.2018
Wer ist Antisemit?
Von Georg Meggle
NRhZ 718 vom 11.09.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26192

An den "Beauftragten der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus"
Worte können töten
Von Georg Meggle
NRhZ 714 vom 31.07.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26095

Online-Flyer Nr. 737  vom 26.02.2020

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