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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Inland
Die faschistoiden Viren sind furchtbar wie eh und je
Hanau, Thüringen und die Badewannenperspektive
Von Günter Rexilius

Wir mussten sparen, auch Wasser. Manchmal badeten wir Kinder gemeinsam, manchmal mit unseren Eltern. Dann spielten wir mit der Seifenschale Boot oder bewarfen uns mit Schwämmen und hatten besonderen Spaß daran unterzutauchen. Es war eine kleine Welt in der großen, mit der wir in diesen Momenten so wenig zu tun hatten. Ich lese und höre die Reaktionen auf die Thüringer Ereignisse und den Hanauer Anschlag, die politischen, die medialen und die staatstragenden, und mir fällt die Badewanne wieder ein, so absurd wie – beim zweiten Nachgrübeln – naheliegend. Nahezu alle Worte, Sätze, Artikel, Berichte konstruieren eine Welt, die abgeschottet zu sein scheint, von der da draußen, von all dem, was sonst in der Welt geschieht und was die offiziell Klagenden sonst tun. Ein Kuriosum der besonders penetranten Sorte, weil viele von denen, die sich zu äußern verpflichtet oder herausgefordert fühlen, in der großen Welt direkt oder indirekt Verantwortung für die von ihnen verurteilten Ereignisse tragen. Die geballte Empörung über den "rechten Terror" erweist sich bei genauerem Hinsehen als so lautstarkes wie eintöniges argumentatives Herumlavieren, ein medienwirksam inszeniertes Schauspiel von Heuchelei und Exkulpation. Die einhellige Botschaft an das verwunderte Publikum lautet: Der Terror fällt, der Thüringer Rechtsruck, fallen wie Naturereignisse vom Himmel, direkt in die kleine Welt der Badewanne.

Ja, dieser Anschlag, die Blutspur von Halle über Solingen und die NSU-Morde bis Hanau, sind unerträglich, machen traurig, sie machen Angst und wütend. Aber wirklich zornig sollte machen, dass die meisten der einhellig Empörten ihre Worte und Taten, mit denen sie hinterrücks zu Mitverursachern und Kollaborateuren werden, nicht hinterfragen. Wenn sie nicht endlich mit dieser Tatsache konfrontiert werden, wenn ihre Verwicklungen nicht zeitnah in die Debatten um Rechtsradikalismus, Neofaschismus und Rassismus einzudringen beginnen, machen die VerschweigerInnen und AblenkerInnen sich schuldig an noch mehr Opfern und an einer Entwicklung in Deutschland und in Europa, die von Gewalt und Hass geprägt sein wird. Anders gesagt: Wo bleiben die Fragen nach den Wurzeln, den Hintergründen, den Ursachen des Erstarkens faschistoider Strömungen hier und heute? Einige Antworten schon mal im Überblick.

Erstens. Von einer kurzen Phase ermutigender demokratischer Perspektiven abgesehen, war faschistisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur latent vorhanden. In allen gesellschaftlichen Bereichen, an Hochschulen und in der Justiz, in Verwaltungen, Behörden und Ämtern, und dann, als sie etwas zeitverzögert durchgesetzt wurde, nicht zuletzt in der Bundeswehr, haben alte Nazis nicht nur mitgemacht, sie haben geleitet, bestimmt, die Richtung vorgegeben. Das Gespann Adenauer und Globke schuf den Rahmen, den die Bundesrepublik nicht mehr verlassen hat, und sein nazistisches Grundmuster infiltrierte das Gemeinwesen schon Anfang der fünfziger Jahre mit autoritären, repressiven und in ihrer Tendenz undemokratischen Mustern des Denkens und des Handelns. Es gab auch die anderen – zu denen für mich Heinemann, aber weder von Weizsäcker noch Brandt gehören, aus verschiedenen Gründen –, aber die Saat war im schon nicht mehr unbelasteten demokratischen Boden – und keimte.

Zweitens. Die Verfolgung von Verbrechen, die von Nazis, Rechtsradikalen und Faschisten – ideologisch eng miteinander verbunden, aber Differenzen bleiben für gesellschaftspolitische Gegenwehr wichtig – war immer mehr eine Farce als ein konsequenter Einsatz der Mittel, die Judikative und Exekutive für jeden anderen Schwerverbrecher nutzen. Das Beispiel NSU ist inzwischen für die, die wissen wollen, zum Teil nachvollziehbar aufgearbeitet worden, es steht für zahlreiche andere. Wer seinen kindlichen Glauben an ein demokratisches Selbstverständnis von Verfassungsschutz und Polizei überwunden hat, weiß um deren "Fehler", die gerne unwissenden oder nachlässigen oder fahrlässigen MitarbeiterInnen angelastet werden. Solche Tricks der Personalisierung von systemischen Defekten sind Bestandteile des systematischen Wegsehens und der zumindest indirekten Unterstützung der mordenden Nazis. Mit der Ablösung von Maaßen ist ein Bauernopfer gebracht worden, das letztlich mehr verdeckt als offenlegt: Die Verwurzelung von rechtslastigen Vorstellungen und Einstellungen, die sein erster Chef Reinhard Gehlen, dereinst Wehrmachtsführer im Osten, dem Verfassungsschutzamt quasi verordnete, fand parallel im Polizeiapparat mit geballter Wucht statt: So schrieb die jeder linken Tendenz unverdächtige Westdeutsche Allgemeine Zeitung am 23.10.2015, dass 1955 zwei Drittel der leitenden Beamten des Bundeskriminalamtes ehemalige SS-Leute waren. Eine faschistoide Seuche gerade in den Organisationen bzw. Behörden, deren Aufgabe die Sicherstellung der rechtsstaatlichen Ordnung sein soll.

Drittens, Selbst nach dem grauenhaften Anschlag von Hanau wird eine lautstarke Gruppe von PolitikerInnen nicht müde, ihre Äußerungen zum faschistischen Terror mit der Vereintopfung "der Linksradikalen" zu garnieren. Sie meinen aber nicht irgendwelche – nicht vorhandenen – mordend durch das Land ziehenden Linken, sondern unterstellen einem demokratisch gewählten Ministerpräsidenten, den Rechtsstaat aushöhlen zu wollen, den sie selbst mit ihren antiquierten Feindbildern in den Würgegriff nehmen. Mehr Dummheit und Geschichtsvergessenheit geht nicht. Es waren "die Linken" von der Roten Armee, die der deutschen Wehrmacht die entscheidende Niederlage beibrachten, die Auschwitz befreiten, die mit der Besetzung von Berlin den Schlusspunkt unter das "Dritte Reich" setzten. Es waren die Linken der KPD, die beim Aufbau der Bundesrepublik eine sozialistische Gesellschaft – wie sie noch im Ahlener Programm der CDU angedacht war – aufbauen wollten und deshalb schnell kaltgestellt wurden – es lohnt, die Protokolle der KPD-Prozesse zu lesen, um eine Idee zu bekommen, welche Chance, eine demokratische und soziale Gesellschaft wirklich werden zu lassen, politisch und juristisch ausgebremst wurde. Es sind die Linken, die seit den Ostermärschen der sechziger Jahre unermüdlich versuchen, für eine friedliche und gerechte Gesellschaft zu kämpfen, die Kriegseinsätze der Verteidigungsarmee Bundeswehr, die Atomwaffen und Atomenergie, die Drohnensteuerung aus Ramstein, die Waffenproduktion und Waffenexporte, die Handels-Knebelverträge mit Ländern des Südens, konsequent ablehnen. Es sind die Linken, die der menschenmordenden und naturzerstörenden neoliberalen Profit- und Wachstumslogik, durch die die Zukunft des Planeten Erde gefährdet wird, Vorstellungen eines demokratischen Sozialismus entgegenhalten, der allen Menschen eine würdevolle und dem Globus eine ökologische Existenz ermöglichen würde. In einem Satz gesagt: Es sind seit sieben Jahrzehnten die Linken in diesem Land, denen zu verdanken ist, dass noch Hoffnungen auf eine für alle Menschen lebenswerte Gesellschaft hier und überall bestehen. Mit einem zweiten Satz gesagt: Der Umgang von Grünen und Sozialdemokraten mit dem faktisch absurden Hass "aus der Mitte der Gesellschaft" gegen Linke spricht einerseits von einer – angesichts der Notwendigkeit, alle gesellschaftlichen Kräfte gegen das Vordringen faschistischer Aktivitäten zu mobilisieren – dramatischen Geschichtsvergessenheit; andererseits, und diese Konsequenz sollte sie selbst erschrecken, stärkt ihr fehlender Protest, ihr Weghören und Hinnehmen, die Rechten in allen Parteien und in der Gesellschaft.

Viertens. Die Einfalt der erklärenden Einlassungen und praktischen Reaktionen auf faschistoide Gewalt kulminiert in den Verweisen, es handele sich um späte Auswüchse der Diktatur, des Unrechtsstaates DDR. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Das antifaschistische Aufräumen, in der DDR ernst genommen und konsequent durchgeführt – mit einigen "Schönheitsfehlern", wie wir heute wissen, aber mit großem Erfolg, bis hin zum Prozess gegen den Obernazi im Kanzleramt bei Adenauer -, wurde geschichtsklitternd nach westdeutschem Gusto abgewickelt. Die oft hörbare Kritik, der Antifaschismus sei staatlich verordnet gewesen, demaskiert sich als grotesk, denn der Staat hatte, im Gegensatz zur Bundesrepublik, sein antifaschistisches Selbstverständnis praktisch umgesetzt.1 Und die Menschen in der DDR, irgendwie faschistisch angehaucht? Sie arbeiteten, waren kreativ, sie schufen einen bisher kaum angemessen zur Kenntnis genommenen kulturellen Reichtum, sie hatten nicht verlernt, ihren Gedanken und Gefühlen zu vertrauen und ihr Schaffen mit Kritik an dem zu verbinden, was sie an Partei, Parteiführung und Stasi auszusetzen hatten. Ein Bruchteil der Bevölkerung war stasi-bedroht oder –verfolgt, wie die heute bekannten Zahlen belegen, wahrscheinlich weniger, als die Tausenden, die in der Bundesrepublik aufgrund des Radikalenerlasses von 1972 verfolgt, angeklagt, ihrer beruflichen Existenz beraubt wurden, gestützt auf subtile Verfassungsschutzakten, die vor den intimsten Details nicht Halt machten. Dann kam die sogenannte "Wende", der Mauerfall, der sog. Anschluss, der vielen Menschen in der DDR der existenzielle Boden entzog, materiell, ideologisch, historisch, menschlich. Die Mehrheit der DDR-Bürger lehnte 1989/1990 die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ab, sie wünschte eine Zweistaatenlösung. Es kam die Zeit der vielen Gruppen, der Runden Tische, des Demokratischen Aufbruchs usw., die mit viel Phantasie und gestaltendem Elan einen gemeinsamen deutschen Staat zusammenbasteln, eine gemeinsame neue Verfassung, eine friedliche und gerechte Gesellschaft schaffen wollten. Rückblickend entstand eine historisch einmalige und unwiederbringliche Chance für einen demokratischen Sozialismus – in den Köpfen, in den Bäuchen und im Handeln vieler Menschen. Alle Ideen, Ansätze, Entwürfe, Modelle wurden mit politischer Willkür und mit westdeutschen Kapitalinteressen plattgemacht, um es einfach aber angemessen auszudrücken. Die Menschen haben nicht vor allem ihren Staat verloren, sie wurden ihrer eigenen Geschichte, an der sie jahrzehntelang gewerkelt hatten, ihrer Hoffnungen, die sie mit ihrer und der Zukunft ihrer Kinder verbanden, ihrer Werte, die nicht primär an Konsum, Zerstreuung und Fassaden orientiert waren, ihres sozialen und friedlichen Selbstbewusstseins, das sie in das Neue um sie herum einzubringen versuchten, beraubt. Die politische Gewalt und das kapitalistische Kalkül, mit denen die DDR der Bundesrepublik einverleibt wurde, sind ergiebige Quellen für die Ausbreitung rechtsradikaler – nicht unbedingt faschistischer oder nazistischer – Einstellungen und Aktivitäten in der ehemaligen DDR. Kein Euro Solidarzuschlag kann die existenziellen, sozialen und seelischen Verwüstungen aufwiegen, die nicht die sog. Wiedervereinigung, sondern die Art und Weise, wie sie Menschenleben annektiert hat, anrichtete. Sie sind lebendig, allzu lebendig, nicht zuletzt, weil sie von den EroberInnen nach wie vor schlicht ignoriert werden.
 
Fünftens. Viele politische und mediale KommentatorInnen rechtsradikaler Auswüchse werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass es sich um EinzeltäterInnen handelt, die verwirrt, psychisch krank, nicht zurechnungsfähig, irgendwie gestört sind. Pathologisierung gehört zu den bewährten Mechanismen, politische Haltungen und Handlungen, die Herrschenden "auf die Pelle rücken", in die psychische Dynamik des Einzelnen zu verlagern und damit zu entpolitisieren2. Die Frage nach den eigentlichen Motiven erübrigt sich, weil sie nosologisch eingefroren sind, psychodynamische Einblicke in die Entstehung und das Wirken faschistoider, rassistischer Einstellungen werden verstellt, die Ebenen, auf denen sie in Menschen Wurzeln schlagen und wachsen, bleiben unsichtbar. Der virulente ihr Hass auf das Fremde, auf die Mächtigen, auf alles, was vermeintlich bedroht und Leben beschädigt, wird von seiner politischen Dimension getrennt. Schon in den dreißiger Jahren hat vor allem Wilhelm Reich in subtilen und umfangreichen Analysen, für die er auf seine praktischen Erfahrungen als Psychoanalytiker und als politischer Aktivist zurückgreifen konnte, nachgewiesen, wie die Verformung des seelischen Geschehens durch autoritäre Erziehung einerseits, durch unzumutbare, existenziell bedrohliche und mit Zukunftsängsten durchsetzte Lebenserfahrungen andererseits, zu feindseligen Einstellungen und aggressiven Verhaltensweisen gegen Menschen führen, die – ethnisch, sozial, rassisch, religiös usw. auffällig – zu Sündenböcken erklärt werden. Die wirklichen VerursacherInnen des Elends bleiben verborgen, weil sie repressive Verwaltungsapparate nutzen und über Zugriff auf Erziehungs-, Bildungs- und Meinungsbildungsmechanismen verfügen. So können sie Gedanken und Gefühle und auch das Handeln der "Massen" nahezu perfekt steuern – damals wie heute.3

Sechstens. Keine Silbe, kein Wort, kein Satz in Kommentaren und Berichten darüber, dass ein kontinuierlicher radikaler Sozialabbau, der schon in den siebziger Jahren begann und mit der Agenda 2010 seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, Millionen von Menschen in existenzielle Not getrieben hat. Von einer Vergrößerung der Kluft zwischen Armen und Reichen – oder Wohlhabenden – zu sprechen, gleicht einer euphemistischen Verharmlosung dessen, was viele Menschen erleben, was ihr Leben prägt. Kinder- und Altersarmut, die immer auch Bildungs- und kulturelle Armut bedeuten, bedrohen viele Menschen. Nach einem langen Leben hungern und frieren zu müssen in einem Land, in dem Geld und Waren im Überfluss vorhanden sind, ist eine so gespenstische wie Körper und Seele zerfressende Erfahrung. Als Kinder, als Jugendliche schon zu wissen, dass man abgehängt ist, Aussicht auf ein Leben zu haben, das Beteiligung an den kulturellen und sozialen Gütern nahezu ausschließt, lässt Menschen verzweifeln, also autoaggressiv, oder aggressiv, also manifest gewalttätig werden. Durch Minijobs, Zeitarbeit und Formen frühkapitalistischer Ausbeutung in prekäre Lebenslagen zu geraten, für sich und seine Familie nicht hinreichend sorgen zu können, mündet in Selbstaufgabe oder Wut, die sich, in welcher Form immer, häufig nach außen verlagert. Wer dann noch, weil Hartz-IV-Zuwendungen oder Rente nicht ausreichen, erlebt, wie Strom und Gas abgestellt werden, wird jeden Satz von PolitikerInnen oder Medien, der Wörter wie "sozial" oder "gerecht" enthält, als zusätzliche Verhöhnung erleben. Und wer nur ein wenig Durchblick bewahrt hat angesichts einer politischen und medialen Dauerbefeuerung mit beschönigenden und ablenkenden Phrasen, begreift, dass es zwar ein Grundgesetz gibt, das hehre Regeln des Zusammenlebens vorgibt und jedem Menschen seine Würde garantiert, die alltägliche und umfassende Wirklichkeit aber zu einem von demokratischen Floskeln eingehüllter Selbstbedienungsladen für Konzerne und ihre höheren Chargen einerseits, für ihre politischen Kollaborateure andererseits, geworden ist. Viele Menschen haben verstanden, dass sie, als Teil der entdemokratisierten Verwerfungen, mit populistischen Manövern eingefangen werden sollen, um als Stimmvieh für Wahlen zu dienen, das danach weiter in seinem Elend verharren darf und muss. Der Protest gegen diese Prozeduren der Verachtung muss nicht laut werden, aber es sind Menschen, die das Verächtliche spüren und ihren Widerstand auf ihre eigene, nicht mehr obrigkeitshörige Weise zum Ausdrucke bringen.

Siebtens: Nicht mehr unsichtbar zu machen sind die Folgen eines neoliberalen marktradikalen Kapitalismus, der nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und weltweit verwüstete menschliche und terrestrische Landschaften zurücklässt. In Europa ist es, neben dem – systemisch das Kapital nährenden – Abbau aller Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsleistungen, vor allem die Austeritätspolitik von Schäuble und Konsorten, die Abermillionen Menschen in Südeuropa ins Elend gestürzt und die nationalen Reichtümer der Länder, in denen sie leben, überwiegend deutschen Kapitalisten und Finanzspekulanten zu Dumpingpreisen in den Schoß geworfen hat. Weltweit sind es die von den politisch Herrschenden legitimierten und militärisch abgesicherten Raubzüge, mit denen Konzerne, die auf der Nordhälfte des Globus beheimatet sind, sich weite Bereiche der Südhälfte, die Vielfalt der Ressourcen, die es dort gibt, aneignen, gerechtfertigt mit Handelsverträgen, die jene Länder verschulden, verarmen und verhungern lassen. In den letzten zwei Jahrzehnten hat der Landraub, pseudo-rechtlich mit Verträgen abgesichert, die korrupte Diktatoren oder profitierende Eliten vor Ort abgeschlossen haben, in einem Ausmaß zugenommen, dass ganze Staaten inzwischen westlichen oder nördlichen Investoren gehören. Den Menschen, Millionen über Millionen Menschen, bleibt nur die Emigration, die Flucht, die Suche nach einer Zukunft für sich und ihre Kinder dort, wo der ihnen gestohlene Reichtum gelandet ist. Ihnen bleibt entweder dieser Ausweg – oder der Tod durch Verhungern oder Verdursten, in den letzten dreißig Jahren immer mehr durch Verbrennen oder Ertrinken, geschuldet einer rasanten Klimazerstörung, deren Opfer sie sind, deren VerursacherInnen sie nun völkerscharenweise aufsuchen .4 Ihr individuelles Gedächtnis, in dem die Qualen, die sie erlitten haben, gespeichert sind, und das kollektive, das Jahrhunderte zurückreicht, bringen sie mit – ein explosives Gemisch.

Achtens. Und dann stehen sie vor der Tür, Flüchtlinge aus vielen Ländern, aus fast allen Kontinenten. Und es geschieht, was seit fünfhundert Jahren geschah: Die BewohnerInnen der Nordhalbkugel, die ihrem Selbstverständnis nach humane Maßstäbe für den Rest der Welt setzen, behandeln die Fremden, wie sie immer behandelt wurden, als lebensunwertes Leben – nein, diese Art des Umgangs mit Fremden haben nicht erst die Nazis propagiert und praktiziert, er ist seit fünfhundert Jahren quasi-genetisch in den Menschen, die in der sog. zivilisierten, also der aufgeklärten Welt leben, verankert. Kolumbus, Cortez und Co. sind mit den Menschen, die sie in den entdeckten Regionen vorfanden, so verfahren, Franzosen und Engländer mit den Indianern Nordamerikas, in den Urwäldern Asiens und Südamerikas erleben die Indigenen ein déja-vu durch westliche Konzerne, viele Millionen Menschen wurden als Sklaven aus Afrika nach Amerika verschifft, und in den afrikanischen Kolonien waren die dort lebenden Eingeborenen für die europäischen Herrenmenschen nicht mehr als nutzbares oder, wenn nicht, nutzloses und damit überflüssiges Menschenmaterial, das weggeworfen, vernichtet, ausgesondert werden durfte, nach Belieben. Und hier und heute? Unser Wohlstand gründet auf dem Elend der Menschen südwärts, das sie nicht mehr ertragen wollen, sie kommen – und werden kommen, immer mehr –, um an dem teilzuhaben, was ihnen entwendet worden ist. Und die bei jeder Gelegenheit moralisierenden und christliche Gebote zitierenden EntscheidungsträgerInnen im Westen und im Norden lassen sie im Mittelmeer ertrinken, in den Wüsten verdursten. Sie sterben an den osteuropäischen oder nordafrikanischen Zäunen, werden gequält und getötet und vergewaltigt in den libyschen Konzentrationslagern. So geht man mit Kreaturen um, die man nicht für menschen- oder lebenswürdig hält, denen man das Recht auf materiell gesichertes und angstfreies Leben, das man für sich selbst fraglos in Anspruch nimmt, abspricht, weil man sie genau genommen nicht als Mit-Menschen katalogisiert. Die explizite Fremdenfeindlichkeit vor allem europäischer PolitikerInnen und der vielen Menschen, die ihre mordsmäßigen Abwehrstrategien direkt oder indirekt unterstützen, ist zutiefst rassistisch, ganz in der Tradition der europäischen Vergewaltigung der Südhalbkugel seit einem halben Jahrtausend. Sie ist nicht nur tödlich, vielmehr transportiert der politische und militärische Krieg gegen hilfesuchende, wehrlosen Flüchtlinge eine so eindeutige wie folgenschwere Botschaft: Da kommen Menschen, die minderwertig sind, die unsere Lebensgrundlagen gefährden, sie dringen als "Sozialschmarotzer" in unser wohlbehütetes Dasein ein, sie müssen weggedrängt und bekämpft werden. Ihre Leben sind nicht schützenswert, sie zählen nicht und nichts. Zehntausende Opfer an den europäischen Grenzen im Süden und im Osten, deren Tod nicht nur gebilligt, sondern von der EU finanziell flankiert worden ist und wird, sind Zehntausende empirische Belege für diesen humanistischen Bankrott eines Kontinents. Die ihrem Handeln zugrundeliegende Mischung aus Selbstverleugnung und Selbstgerechtigkeit findet ihre praktische Resonanz im täglichen Rassismus, in neonazistischen Überzeugungen und schließlich in der Gewalt, die mit bigotter Verve beklagt wird, wenn das rassistische Grundmuster nicht im Mittelmeer, sondern hier vor Ort tödlich wird. Ausdauernde politische und mediale Sedierung von Gedanken und Gefühlen lässt diesen innigen Zusammenhang zwischen politisch legitimiertem und attentatsmanifesten Morden verschwimmen, verstärkt durch Tränen und einfühlsame Worte der politisch Verantwortlichen, die sicherlich ehrlich gemeint – und doch bigott verbogen sind.

Fazit: Metaphorisch gesagt ist in Thüringen, nicht erst in Hanau, ein Geschwür aufgebrochen, das bis dahin notdürftig, mehr schlecht als recht, mit immer neuen Floskeln und Phrasen, mit Vertuschungsversuchen und Ablenkungsmanövern, zugepflastert worden ist. Die faschistoiden Viren, die sich in ihm ausgebreitet und es haben wachsen lassen, sind alt, sehr alt, sie haben sich verändert und neue Gestalt angenommen, aber sie sind fruchtbar und furchtbar wie eh und je. Wie bei jeder Krankheit, diese Gewissheit gilt für den menschlichen Körper und das in ihm wirkende seelische Geschehen so gut wie für gesellschaftliche Zustände und ihre Dynamik, hilft nur eine gründliche, möglichst umfassende Diagnose, um angemessene und wirksame therapeutische Maßnahmen zu finden und einzusetzen. Wer nach rechts nicht nur verbale oder gesetzliche Quarantäne-Mauern errichten will, die keine heilsame Veränderung bringen, solange der Virus nicht selbst bekämpft wird, benötigt diagnostische Nachdenklichkeit, selbstkritische Redlichkeit und historische Klarheit. Für sie sind oben einige Anregungen zusammengetragen worden, die ergänzungsbedürftig sind, aber über die Badewannenperspektive hinaus reichen. Denn ohne die jahrzehntelange offensive Duldung faschistoider und nazistischer Wirkmechanismen zu benennen und nach ihren Folgen in Politik und Gesellschaft zu suchen, und ohne Behörden und Organisationen, deren Verfassung und demokratische Grundregeln schützende Aufgaben unstrittig sind, konsequent von rechten Einflüssen zu säubern, und ohne das neoliberale Zerstörungspotenzial zu bremsen und in gerechte und friedliche Formen des Zusammenlebens in Deutschland, in Europa, in der Welt zu verwandeln, und ohne die Aufarbeitung der menschlichen, politischen und ökonomische Vergehen und Verbrechen bei der Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik, und ohne eine öko-soziale, von Respekt gegenüber allen Menschen getragene neue Art des Wirtschaftens, und ohne die Ablösung kriegerischer durch friedliche Konfliktlösungspraktiken, und schließlich ohne einschneidende politische Maßnahmen, die den propagierten humanistischen Anspruch endlich vom Kopf auf die Füße stellen, also die Ansprüche der Menschen, die von Profiteuren, Investoren und militärische Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, zu akzeptieren und sie willkommen zu heißen – ohne diese und weitere Veränderungen in Denken, Fühlen und Handeln aller Menschen im westlichen und nördlichen Wohlstands-Paradies wird rechte Bedrohung und Gewalt nicht verschwinden. Die ermutigende Botschaft lautet, es gibt viele Menschen in Deutschland, in Europa, weltweit, die all das begriffen haben und gegenzusteuern versuchen. Die ernüchternde lautet, dass leider – oder glücklicherweise – dieser diagnostische Komplex nach einer therapeutischen Radikalkur verlangt, deren Basis die Erkenntnis ist: In einem kapitalistischen polit-ökonomischen System wird es keine Heilung geben. Oder: Wer weiter in der Badewanne untertaucht, wird in ihr ersaufen.

Aber: Es gibt doch die Proteste, die Demonstrationen, die an vielen Orten "die Anständigen" versammeln, diejenigen, deren "nie wieder" ernst gemeint ist. Ja, es gibt sie, ein hoffnungsvolles Zeichen eigentlich – wenn da nicht die Fragen wären, wer denn wofür demonstriert. Wenn die DemokratInnen sich geschlossen zeigen, wenn sie die Demokratie verteidigen, wenn DemonstrantInnen den gesellschaftliche Zusammenhalt beschwören – sind ihnen die beschriebenen Zusammenhänge bewusst, sind sie der maroden demokratischen Verfasstheit dieses Landes gewiss, erkennen sie die eigene Beteiligung an Ausbeutung, Unterdrückung und Ermordung von Menschen überall auf der Welt für ihren "Lebensstil"? Und was sagen sie den PolitikerInnen, die einerseits lauthals das abwehrende Gemeinsame gegen die rechten VerbrecherInnen einfordern, andererseits Menschen weltweit in Armut, Hunger und Zukunftslosigkeit und so nach Europa treiben – und wie viel praktische Empathie haben sie für diese Menschen? Und wie viele von denen, die sich in Deutschland abgehängt und ausgegrenzt fühlen und um ihre existenziellen Grundlagen bangen, werden sich wohl an den Protesten gegen rechte Gewalt beteiligen? Und wo bleibt eigentlich die Wissenschaft, die gesellschaftsanalytisch konsequent historische, ökonomische und soziale Hintergründe der schiefen Ebene nach rechts aufdeckt? Wer nimmt psychologische Erklärungsmuster, die etwa Wilhelm Reich anbietet, zur Kenntnis? Fragen, auf die Antworten gefunden werden müssen, wenn Widerstand erfolgreich sein soll.


Fußnoten:

1 Ich bin sieben Jahre lang in der DDR zur Schule gegangen und habe dort gelernt und begriffen, welcher Widerstand wirklich gegen den Faschismus und die Naziideologie kämpfte, welcher hingegen zwar Hitler beseitigen, aber Antisemitismus, Rassismus und politische Verfolgung von Linken nicht infrage stellen wollte.

2 Güse & Schmacke, Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus, 2 Bde. Ffm 1972 – die Autoren zeigen auf, wie Psychiatrie – und später auch Psychologie – der Pathologisierung politischen Widerstands Begriffe und Ausgrenzungsmechanismen geliefert haben.

3 Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus. Neu herausgegeben von Andreas Peglau. Gießen 2020.

4 Es lohnt sich, noch einmal das Buch von Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas, hervorzukramen: Dort steht nahezu prophetisch zu lesen, was wir heute als sog. Globalisierung erleben.

Online-Flyer Nr. 738  vom 04.03.2020

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