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Aktueller Online-Flyer vom 26. Dezember 2024  

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Literatur
Kurzgeschichte
Herztöne
Von Ute Bales

Dein Onkel hat einen Vogel. Und keinen kleinen, sagten mir die Leute. Sie meinten, dass er wegen seines Lebenswandels und seiner schrägen Ansichten eines schönen Tages vor die Hunde gehen würde. Ich stellte mir meinen Onkel beim Gang vor die Hunde vor: beschwingt, mit lockeren Hüften und einem Lächeln im Gesicht. Wenn man meinen Onkel gefragt hätte, welcher Arbeit er nachginge, dann wäre wahrscheinlich nur Spöttisches über seine Lippen gekommen. Mein Onkel war nämlich Meister im Träumen. Seine Träume funkelten. Manchmal erzählte er sie, aber nur den Kindern. Die Älteren winkten ab, wenn er damit anfing. Spinner, sagten sie, tippten sich an die Stirn, rollten die Augen, schüttelten den Kopf und sahen sich vielsagend an. Meinen Onkel brachten sie damit nicht aus der Ruhe. Für ihn waren Träumer wichtig, so wichtig wie Ingenieure oder Lehrer oder Klempner und er war sicher, dass alle das irgendwann begreifen würden.


Vulkaneifel (Foto: arbeiterfotografie.com)

Wenn mein Onkel uns Kindern seine phantastischen Geschichten erzählte, saßen wir dicht zusammen, gruselten uns, bangten mit den Helden, lachten über deren Missgeschicke. Die Gestalten waren so echt, so wahr, so nah. Wie im Kino. Manchmal erschraken wir, weil neben uns Mäuse kauerten, so groß wie wir selbst. Oder es umwimmelten uns grüne Männchen, die uns zum Mars mitnehmen wollten.

Mein Onkel sagte manchmal merkwürdige Dinge, zum Beispiel, dass man, um wirklich etwas zu begreifen, nichts, aber auch gar nichts anderes tun dürfe, als über diese einzige Sache nachzudenken und dass wir mal versuchen sollen, drei Minuten nur an eine einzige Sache zu denken, zum Beispiel an einen grünen Elefanten mit riesigen Ohren, mit denen er fliegen könne wie Dumbo im Zirkus.

Sofort beschäftigten uns die Flügelohren, aber die Gedanken eilten weiter, wir schnatterten durcheinander, wollten wissen, ob es wirklich grüne Elefanten gäbe, was sie fressen und ob sie 100 oder 1000 Jahre alt würden. „Keine zwei Minuten!“, triumphierte mein Onkel, „ihr habt es keine zwei Minuten geschafft, einfach nur an einen grünen Elefanten zu denken.“ Er fügte hinzu, dass das auch ganz schön schwierig sei und Training erfordere. Zehn Jahre mindestens. Dann machte er mit uns die Gegenprobe, kündigte an, dass wir, nachdem er bis drei gezählt habe, um keinen Preis an eine getupfte Giraffe denken dürften. Er zählte und obwohl wir sonst nie an so ein Tier dachten, war es unmöglich, das Denken in eine andere Richtung zu lenken. Ich sah die Giraffe den langen Hals recken und mit einer rotgetupften Zunge Laub von den Bäumen fressen. Noch lange hatte ich sie in meinem Kopf.
 
Der Lieblingsort meines Onkels war unser vulkanischer Berg, wo er sich in den Felsenhöhlen ein Lager gerichtet hatte, manchmal ein Feuer unterhielt und seine Zeit verträumte. Er kannte sich gut aus am Berg, unterschied Pflanzen und Tiere, Tausende von Käfern, die es dort gab, wusste, wo der Hühnervogel brütete und wo im Herbst die Haolegäns rasteten. Er hatte festgestellt, dass der Berg lebte, was für uns kaum vorstellbar war. Wir hatten gelernt, dass Pflanzen, Tiere und Menschen leben, auch Insekten, alles, was sich bewegt – aber Berge? Er erklärte uns, dass wir es den Bergen nicht ansehen könnten, weil sie so langsam lebten, deshalb auch uralt würden, dass sie aber lebten, jeder einzelne Stein und jedes Sandkorn und sowieso alles miteinander verbunden sei, der Berg, das Gras, die Kühe und wir. Dass aber nicht alle Leute das wüssten, weil sie zu beschäftigt seien und keine Zeit hätten, lange auf einen Felsen zu gucken.

Einmal, es war Sommer, ein heißer Tag. Ich traf ihn auf dem Weg zu einem Tümpel, in dem Frösche und Molche lebten und blauflügelige Libellen durch die Luft vibrierten. „Komm mit rauf“, sagte er und zeigte nach dem Gipfel des Berges, „ich zeig dir was.“ Er tat geheimnisvoll. Ich war vielleicht 13, auch jünger, er knappe 40, lässig und allem überlegen, einer, dem die Welt nichts anhaben konnte.

Wir stiegen vom Sandberg aus auf. Unterwegs steckte er sich eine Zigarette an, die er wie selbstverständlich an mich weiterreichte. Ich nahm einen Zug, unterdrückte den Hustenreiz, behielt den Rauch kurz im Mund und pustete ihn wieder aus.

Auf dem höchsten Punkt setzten wir uns ins Gras, betrachteten die kuhwarmen Weiden, die sich zu Füßen des Berges ausfransten, unser Dorf, durchsichtig im Blau der Luft, gefleckte Rinder, die breit im Schatten unter den Bäumen lagen und mit den Kiefern mahlten.

Ich verbrannte mir fast die Lippen bei den letzten Zügen am Zigarettenstummel, da legte sich mein Onkel bäuchlings auf die Erde, verschränkte die Hände im Nacken, presste Kopf und Ohr ins Gras. „Mach es so wie ich“, sagte er, „hör genau hin.“ Dabei schloss er die Augen und zog die Brauen zusammen, was sein Gesicht angestrengt aussehen ließ. Ich zerrieb den Zigarettenstummel auf einem Stein, legte mich neben ihn, seitlich den Kopf, das Ohr auf dem Gras und horchte. „Manchmal dauert es ein bisschen“, flüsterte er, „aber dann hörst du es.“ Ich drückte mein Ohr fester ins Gras. Die Halme kitzelten auf meiner Haut, es roch erdig und grasig, etwas raschelte. Eine ganze Weile lagen wir so. Ich horchte und lauerte, strengte mich an und fast wollte ich aufgeben, da schwang etwas von ganz unten herauf. Es war wie ein tiefer ruhiger Herzschlag, dunkel, schön und gleichmäßig, etwas wie ein unterirdischer Schlag auf einen riesigen Amboss, dazwischen helle Hammersignale. Ich hielt die Luft an. Auch er schien etwas zu hören, denn er öffnete die Augen, sah mich an und nickte mir zu. Ich hörte es nur kurz. Ein paar Sekunden. Unvergesslich.

Dann sprangen wir auf, juchzend rannten wir den Abhang hinunter. Ich hinter ihm her. Bis wir keine Luft mehr hatten und die Lungen stachen.

Viele Jahre ist das her. Mein Onkel starb vierzigjährig, nachdem er sich einen Strick gekauft und benutzt hatte. Die Stelle, auf der wir damals lagen, ist längst weggebaggert. Fortgeschafft sind die Felsen, die Höhlen, die Lava, der Basalt. Bald wird es den Berg nicht mehr geben. Seinen Herzschlag kann schon lange niemand mehr hören.




Ute Bales, 1961 in der Eifel geboren und dort aufgewachsen, studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Kunst in Giessen und Freiburg, wo sie seither lebt und arbeitet. Sie ist Mitglied im Literaturwerk Rheinland-Pfalz-Saar e.V., im Literarischen Verein der Pfalz, im Literatur Forum Südwest e.V. Freiburg, gehört dem Kunstverein Weißenseifen/Eifel an sowie der Künstlergruppe SternwARTe Daun. Sie hat bisher sieben Romane veröffentlich sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Essays. Ihr 2018 erschienener Roman „Bitten der Vögel im Winter“ ist mit dem Martha-Saalfeld-Förderpreis 2018 des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet worden.


Siehe auch:

Zum Roman "Bitten der Vögel im Winter" von Ute Bales
Keinerlei Hoffnung, dass sich das alles nicht wiederholen könnte
NRhZ 700 vom 10.04.2019
Rezension von Klaus Hansen
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25810

Aus dem Roman "Bitten der Vögel im Winter" (Auszug 3)
Polen, 1942
Von Ute Bales
NRhZ 698 vom 29.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25762

Aus dem Roman "Bitten der Vögel im Winter" (Auszug 2)
Berlin, 1936
Von Ute Bales
NRhZ 697 vom 20.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25747

Aus dem Roman "Bitten der Vögel im Winter" (Auszug 1)
Kinderheim Mulfingen, 1942
Von Ute Bales
NRhZ 696 vom 13.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25728

Kurzerzählung
Hilde doch nicht
Von Ute Bales
NRhZ 695 vom 06.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25702

Kurzgeschichte
Die Vögel werden weniger
Von Ute Bales
NRhZ 654 vom 11.04.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24758

Kurzgeschichte
Nur Wasser
Von Ute Bales
NRhZ 653 vom 04.04.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24739

Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Die Welt zerschlagen (6)
Von Ute Bales
NRhZ 565 vom 08.06.2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22864

Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Die Welt zerschlagen (5)
Von Ute Bales
NRhZ 564 vom 01.06.2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22845

Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Die Welt zerschlagen (4)
Von Ute Bales
NRhZ 563 vom 25.05.2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22827

Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Die Welt zerschlagen (3)
Von Ute Bales
NRhZ 562 vom 18.05.2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22808

Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Die Welt zerschlagen (2)
Von Ute Bales
NRhZ 561 vom 11.05.2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22791

Die Geschichte der Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Die Welt zerschlagen (1)
Von Ute Bales
NRhZ 560 vom 04.05.2016
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22768

Lesung aus einem Roman zur Lebensgeschichte von Angelika Hoerle
Dada-Künstlerin Angelika Hoerle
Von Arbeiterfotografie
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22599

Online-Flyer Nr. 747  vom 17.06.2020

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