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Der kanadisch-jüdische Historiker Yakov M. Rabkin hat ein faszinierendes Buch über die jüdische Opposition gegen den Zionismus geschrieben
"Der Zionismus untergräbt die Werte des Judentums"
Von Arn Strohmeyer
Judentum, Antisemitismus und Israel sind Themen, die die politische Diskussion in Deutschland ganz maßgeblich beherrschen. Aber wissen die Vertreter von Politik, Medien und interessierter Öffentlichkeit, die diese Diskussion lautstark führen, auch wirklich über diese Begriffe und die dahinter stehenden Realitäten Bescheid? Da muss man große Zweifel anmelden, zumal das deutsche Schuldbewusstsein das Verständnis dieser Problematik ganz einseitig positiv auf Israel konzentriert und jede Kritik an der Politik dieses Staates gegenüber den Palästinensern als „Antisemitismus“ diffamiert. Zur Durchführung dieser inquisitorischen Aufgabe hat die deutsche Regierung sogar das Amt eines Aufpassers geschaffen, der darüber wacht, dass diese Doktrin auch eingehalten wird – das Amt des Antisemitismusbeauftragten.
Es ist deshalb von großer Bedeutung, wenn jüdische Intellektuelle von Rang in diese Diskussion eingreifen und den oft ans Absurde grenzenden deutschen Diskurs wieder ins richtige Lot bringen und an die politische und historische Realität anpassen. Das leistet in ganz vorzüglicher Weise das jetzt endlich von Abi Melzer aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzte Buch des im kanadischen Montreal lebenden Historikers Yakov M. Rabkin: „Im Namen der Thora. Die jüdische Opposition gegen den Zionismus“. (Da Rabkin den Text inzwischen nochmals überarbeitet hat, ist die Übersetzung von Abi Melzer auf dem letzten aktuellen Stand.)
Das Bild, das dieser Historiker vom Judentum, von Israel und dem (Anti-) Zionismus zeichnet, stellt sich so ganz anders dar als das sonst in Deutschland zu diesem Thema Vorgebrachte, denn Israel und Judentum sind in diesem Diskurs ja ein und dasselbe, wobei Israel dann in erster Linie als eine Projektion deutscher Schuld-Befindlichkeiten erscheint, die aber wenig mit der Realität in Israel selbst zu tun hat.
Wie realitätsfern die deutsche Debatte ist, beschreibt Rabkin an einem anschaulichen Beispiel. Er stellt ausführlich dar, dass es sich bei dem Staat Israel nicht um den Typ einer westlichen liberalen Demokratie handelt, sondern um eine national-ethnische Demokratie, weil ausschließlich Juden ihre privilegierten Träger sind, und die anderen im Land lebenden Minderheiten marginalisiert und diskriminiert nur eine Randexistenz führen können. Was den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier aber nicht davon abhielt, bei der Gedenkfeier anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem den Israelis zu versichern: „Wir widerstehen dem Gift des Nationalismus! Wir stehen an der Seite Israels!“ Rabkin kommentiert diese völlig verfehlte und peinliche Aussage mit den Worten: „Dieses verwirrende Paradox aufzulösen, dafür mag mein Buch Juden und Nicht-Juden gleichermaßen hilfreich sein!“
Aufklärung tut also Not, auch bei einem deutschen Bundespräsidenten. Aber Rabkin geht es in seinem Text nur am Rande um den deutschen Diskurs, sein Thema ist das Judentum im weitesten Sinne, besonders aber der Teil des Judentums, der den Zionismus (und damit auch den Staat Israel) als etwas der jüdischen Kultur und Religion Fremdes ablehnte und auch heute noch ablehnt. Aber um das zu leisten, muss man die Begriffe Judentum, Zionismus und Israel voneinander trennen und ebenso ihre Umkehrung Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an Israel, was Rabkin natürlich tut.
Aus dieser Unterscheidung ergibt sich automatisch die Frage, ob der weit verbreitete zionistische Mythos berechtigt ist, dass Israel die naturgegebene Heimat aller Juden auf der Welt ist und ihnen auch Schutz gewährt. Rabkin hält diesen Mythos, um seine Antwort auf diese Frage vorwegzunehmen, für anti-jüdisch. Denn der jüdische Antizionismus ist ein ganz wichtiger Teil des Judentums und keineswegs, wie die Zionisten behaupten, etwa „Antisemitismus“. Weshalb man Israel auch nicht einfach als „jüdischen Staat“ bezeichnen kann, denn damit schließt man einen bedeutenden Teil der Juden aus dem Judentum aus und richtet auf diese Weise eine gefährliche Verwirrung an.
Der Zionismus, der am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in Russland entstanden ist, hatte sich vier Ziele gesetzt: 1. das an der Thora (den ersten fünf Büchern des Alten Testaments) und den religiösen Geboten orientierte Judentum in ein nationalstaatliches Bewusstsein (wie damals in Europa üblich) umzuwandeln; 2. eine auf dem biblischen und rabbinischen Hebräisch beruhende moderne hebräische Landessprache zu schaffen; 3. dafür zu sorgen, dass die Juden der ganzen Welt nach Palästina bzw. in den neu zu schaffenden „jüdischen Staat“ kommen sollten; 4. das Land Palästina – auch gewaltsam – zu erobern und die völlige Kontrolle darüber zu gewinnen.
Dieses Projekt setzte aber einen Prozess der vollständigen Säkularisierung voraus, also die Befreiung der Juden vom „Joch der Thora“ und ihrer Gebote, womit aber ein Keil zwischen die Begriffe „Judenheit“ und „Judentum“ getrieben wurde. Die Treue zur „göttlichen Lehre“ hatte bis zur Aufklärung im 18. und bis zur Entstehung des Zionismus ein Jahrhundert später die ethnische Gemeinschaft der Juden zusammengehalten. Die zionistischen Ideen waren verglichen damit völlig neu, sie waren eine Revolution. Nicht mehr das eher passive Warten auf den Messias (also das Eingreifen Gottes in den Geschichtsprozess) und damit die Erlösung der Juden bestimmten die Ideologie des Zionismus, sondern der Gedanke, das eigene Schicksal bewusst und aktiv in die Hand zu nehmen und zu gestalten.
Der Zionismus stellte so einen totalen Bruch mit der jüdischen Kontinuität dar. Es standen sich jetzt zwei gegensätzliche jüdische Konzepte von der Geschichte gegenüber: die auf Gott bezogene Auffassung, die auf den Begriffen Belohnung und Strafe sowie Exil und Erlösung beruhte. Sie strebte an, die Welt durch die eigene moralische Selbstvervollkommnung (also eine keineswegs passive Haltung) zu verbessern. Und auf der anderen Seite das zionistische Konzept, das die Bereitschaft demonstrierte, seine politischen Ziele auch mit kriegerischer Gewalt durchzusetzen.
Rabkin schildert im Detail die jüdischen Gruppen, die in Opposition oder sogar totaler Ablehnung zum Zionismus stehen, unterscheidet aber zwischen Anti-Zionisten und Nicht-Zionisten. Für erstere sind Judentum und Zionismus völlig unvereinbar, die Nicht-Zionisten dulden diese Ideologie, obwohl sie den Zionismus auch im Gegensatz zur Tradition sehen. Sie gehen aber davon aus, dass Israel ein politisches System wie andere ist und auch nur eine zeitlich begrenzte Existenz haben wird. Hauptvertreter der eher radikalen Richtung des religiösen Antizionismus sind die Charedim, die Chassidim, die Sephardim sowie die Vertreter des Reformjudentums und der Neturei Karta, eher kompromissbereit gegenüber dem Zionismus sind dagegen die Misrachi, die Nationalreligiösen und die Anhänger der Agudat Israel. Die totale Ablehnung des Staates praktizieren aber nur kleine Gruppen der Charedim. Rabkin bezeichnet die Beziehung all dieser Gruppen zum Staat als sehr „facettenreich“. Zur jüdischen Opposition gegen den Zionismus gehören
natürlich auch säkulare Gruppen oder einzelne Intellektuelle in Israel, die Rabkin auch immer wieder erwähnt, etwa die „neuen Historiker“, die die zionistische Geschichtsschreibung als „Geschichtsmythologie“ ablehnen und durch ihre Recherchen erfahren wollen, was sich „wirklich“ ereignet hat – etwa im Nakba-Jahr 1948. Zu ihnen gehören etwa Ilan Pappe, Tom Segev und Avi Shlaim.
Die Kluft, die sich im Judentum durch das Aufkommen des Zionismus aufgetan hat, ist tief und ist ganz offensichtlich unüberbrückbar. Denn sie wirft ganz wesentliche Fragen auf, die vollständig gegensätzlich beantwortet werden. Etwa: Was ist das maßgebliche jüdische Selbstverständnis, ja was ist überhaupt Judentum, und wer vertritt das wahre und authentische Judentum heute? Kann es Judentum ohne Glauben an Gott, ohne Bezug zur Thora und den Geboten überhaupt geben? Für die religiösen Anti-Zionisten ist klar: Die Zionisten sind vom Weg der Thora abgekommen, sie sind deshalb „Sünder“, „Übeltäter“ und „Verbrecher“. Der Zionismus ist in ihrer Sicht eine „teuflische Macht“. Der israelische Intellektuelle Boaz Evron drückte es säkular so aus: „Der Zionismus ist die Verkörperung des falschen Messias.“
Damit sind die diametralen Gegensätze im Wertesystem beider Richtungen – des Zionismus und seiner religiösen Gegner – angesprochen. Aus der religiösen Sicht ist die zionistische Version der jüdischen Identität eine völlige Umkehrung der Werte der Tradition, weil mit ihm eine totale moralische Umwälzung stattgefunden hat: die Umwandlung des demütigen Juden in einen stolzen, ja arroganten „Muskeljuden“, der Gewalt bejaht und es als Ideal ansieht, ein furchtloser Krieger zu sein – eben der vom Zionismus propagierte Typ des „neuen Juden“. Aus diesem Denken heraus resultierte auch die Verachtung der Zionisten für die in ihren Augen „dekadente“ jüdische Diaspora.
Die religiösen Antizionisten nehmen dagegen unter Berufung auf die Thora und den Talmud ganz andere Werte für sich in Anspruch: Bescheidenheit, Barmherzigkeit, Wohltätigkeit und Bußfertigkeit sowie die Fähigkeit des Selbstzweifels und der Selbstberichtigung; die Achtung darauf, welchen Eindruck man bei anderen erzeugt, spielt eine wichtige Rolle; fundamental sind die Werte, den Fremden zu achten und Brüderlichkeit zu üben, was im übertragenen Sinn dann bedeutet, sich für die Schaffung von Frieden einzusetzen. Die Liebe zum Land Israel wird eher spirituell verstanden, sie ist nicht denkbar ohne die Liebe zu Gott und zur Thora.
Eine Rückkehr in dieses Land ist nur als Lohn für gute Taten denkbar, nicht aber mittels eines gewaltsamen Vorgehens: Die militärische Eroberung des Landes und die erzwungene Ansiedlung von Juden ist „gotteslästerliche Autorität und Bruch des Bundes mit Gott“. Die Vertreter eines gewaltsam geschaffenen „Groß-Israel“ sind für die religiösen Antizionisten „Anbeter des „goldenen Kalbes“, das Symbol des Kalbes steht dabei für die vergötzenden Begriffe von „Land“ und „Staat“. Das Exil wird in dieser religiösen Sicht als eine Strafe für die Sünden des Volkes gesehen und es wird so lange andauern, bis die „Erlösung“ auf spirituellem Weg durch den Messias erfolgen wird. Diese religiösen Gegner des Zionismus sagen sogar, dass der Staat Israel sich wegen seiner Sündhaftigkeit im „Exil“ befinde.
Man muss den Inhalt dieser Worte nur ins Gegenteil verkehren, um die ideologischen Grundaussagen des Zionismus zu benennen: Ehre, Stolz, Rachsucht, Machtstreben, Durchsetzungsvermögen und Pionier- und Kampfgeist sind prägende Werte; Selbstzweifel, Buße und Selbstberichtigung kennt diese Ideologie nicht; die Liebe zum Land bedeutet hier: die Rückkehr in die alte „Heimat“ mit Diplomatie und Gewalt, also Eroberung, Inbesitznahme und Anspruch auf völlige Aneignung; Der Staat selbst ist dann der höchste Wert: Zentrum und Identität des jüdischen Volkes; das Exil kann und darf kein existentieller Zustand für die Juden sein, es kam durch politische Fehler früherer jüdischer Führer zustande und muss durch den Zionismus rückgängig gemacht werden; die Erlösung wird durch die „Befreiung“ des Landes von den Arabern herbeigeführt, eine Achtung dem Fremden gegenüber gibt es so gesehen nicht.
Diese gegensätzlichen, unvereinbaren Positionen können ganz aktuell auf die schon über ein Jahrhundert andauernde Auseinandersetzung zwischen den Zionisten und den Palästinensern angewendet werden. Die religiösen Antizionisten – besonders die Charedim – betonen immer wieder, dass sie Jahrhunderte lang friedlich mit den Arabern in Palästina zusammengelebt haben und der Konflikt erst durch die zionistische Einwanderung ins Land getragen worden sei.
Ein Vertreter der religiösen Anti-Zionisten schrieb schon in den 1940er Jahren: „Sie [die Zionisten] schrecken nicht vor abstoßenden Mitteln zurück, um unsere heilige Thora und die gesamte menschliche Moral zu vernichten. (…) Sie haben einen solchen Unfrieden zwischen uns und unseren arabischen Nachbarn gesät, dass der Jischuw [die vorstaatliche jüdische Gemeinschaft in Palästina] im Chaos leidet und jüdisches Blut vergossen wird. Unsere heilige Thora lehrt uns, dass wir vor der Ankunft des Messias (…) in unseren Tagen keinerlei Interessen in der Sphäre der Politik haben dürfen. Diese Haltung kann uns niemals gegen unsere arabischen Nachbarn aufbringen.“
Nun mag man als aufgeklärter und säkularer Europäer mit den religiösen Argumenten der Anti-Zionisten seine Probleme haben und weltanschauliche Distanz verspüren, interessant und faszinierend ist aber, dass ihre Aussagen und Forderungen in politischer Hinsicht oft identisch mit von linker und universalistischer Seite kommenden Positionen sind: ihre Ablehnung der Gewalt und ihre Bereitschaft zum Frieden mit den Arabern bzw. Palästinensern. Sie wollen sogar die Ungerechtigkeit, die die Zionisten den Palästinensern angetan haben, wiedergutmachen. Sie streben das Ende des zionistischen Staates an, aber nur mit friedlichen Mitteln und ohne Blutvergießen. Zwar besteht keine völlige Einigkeit unter ihnen über ihre Ziele, aber sehr vielen von ihnen schwebt als Vision die Umwandlung Israels in eine säkulare, liberale Demokratie vor, in der alle Bürger die gleichen Rechte haben.
Ein Rabbi aus ihren Reihen äußerte schon 1974, also vor über 40 Jahren: „Juden leben in Frieden und Sicherheit überall auf der Welt unter der Herrschaft nichtjüdischer Regierungen, und eine solche Situation wäre auch hier möglich. Möglich wäre sogar die Schaffung einer Art von ‚Vereinigten Staaten‘ gemeinsam mit den arabischen Staaten der Region. Jahrhunderte lang lebten wir in Frieden mit den Arabern, und wären da nicht die zionistischen Agitatoren, wir hätten keinen Grund anzunehmen, dass es Probleme mit ihnen geben könne. Ich selbst habe vor der Balfour-Deklaration [1917] in Jerusalem zwei Jahrzehnte lang mit Arabern zusammengelebt, und ich versichere Ihnen, dass sie nicht anders sind als andere Völker, mit denen die Juden überall auf der Welt friedlich zusammenleben.“
Die charedischen Antizionisten akzeptieren also die Idee eines demokratischen säkularen Staates, in dem sie friedlich ihrer Religion nachgehen könnten. Die Gründung Israels betrachten sie als „historischen Irrtum“. Das Modell eines gemeinsamen Staates, an dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt teilnehmen, hat in letzter Zeit auch in politischen und intellektuellen Kreisen in Israel (etwa bei den „neuen Historikern“ und anderen Intellektuellen) und auch außerhalb des Landes zunehmend an Aktualität gewonnen, weil die zionistische Politik Israel durch die Verweigerung der Zwei-Staaten-Lösung in eine ausweglose Sackgasse manövriert hat. Diese Verweigerungshaltung muss zwangsläufig – verstärkt auch durch den sogenannten „Jahrhundert-Deal“ von US-Präsident Trump – zu einem Apartheidstaat führen, der aber auf Dauer keine Überlebenschance hat.
Dann bleibt als Alternative nur der demokratische und säkulare Einheitsstaat. Nicht nur die Charedim fordern ihn schon seit Jahrzehnten, er stand in den 1960er Jahren schon im Programm der PLO von Jassir Arafat. Die Charedim erinnern zudem an das Menetekel des Untergangs der Sowjet-Union, die sich friedlich – ohne Gewalt und Bedrohung von außen – auflöste und von der politischen Bühne verschwand. Ein ähnlicher Vorgang in Israel wäre natürlich das Ende des Zionismus.
Rabkin selbst hält sich selbst zwar mit eigenen Stellungnahmen zurück, aber seine Sympathien, in welche Richtung die Entwicklung gehen soll, spricht er am Schluss seines Werkes dann doch deutlich aus. Er stellt fest, dass das Judentum viele religiöse und politische Spaltungen erlebt habe. Er fragt: „Wird es auch den Zionismus überleben, und insbesondere die Gründung des zionistischen Staates, der vorgibt jüdisch zu sein und die Juden repräsentieren will, wo immer sie auch leben? Wird das Judentum eine solche gewaltige Kraft überleben können?“
Er zitiert als seine Antwort auf diese Fragen eine Passage, die der israelische Intellektuelle Boaz Evron verfasst hat: „Alle Staaten der Welt, einschließlich des Staates Israel, erscheinen und verschwinden. Auch der Staat Israel wird in hundert, dreihundert oder fünfhundert Jahren verschwinden. Aber das jüdische Volk wird existieren, solange die jüdische Religion existiert, vielleicht noch in Tausenden von Jahren. Die Existenz dieses Staates hat keine Bedeutung für die Existenz des jüdischen Volkes (…), die Juden in der Welt können sehr gut ohne Israel leben.“
Am Schluss seines Buches geht Rabkin auf die schon erwähnte Gedenkfeier in Yad Vashem zum 75. Jahrestag der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz ein: Die meisten Redner aus den verschiedensten Ländern hätten dort ausdrücklich betont, dass der Antizionismus eine neue Form des Antisemitismus sei. Rabkin kommentiert diese Behauptung so: „Wenn es so wäre, würde es auch die Hauptprotagonisten dieses Buches zu Antisemiten machen, die vielen Rabbiner genauso wie Hunderttausende von religiösen Juden, die ihnen folgen. Das ist natürlich Unsinn. Es dekuvriert nur ein weiteres Mal den intellektuellen Trugschluss der Verschmelzung von Zionismus und Judentum, von dem Staat Israel und den Juden. Diese Verschmelzung ist nicht unschuldig. Sie ist eine überaus wirkungsvolle politische Waffe, die benutzt wird, um die Kritik an Israel zu ersticken und den Zionismus, eine Art europäischen exklusiven ethnischen Nationalismus, zu legitimieren.“
Rabkin hat mit seinem Buch über die jüdische Opposition gegen den Zionismus eine wichtige Lücke geschlossen. Er hat es nicht für die Deutschen geschrieben, aber hierzulande sollte es ganz besonders aufmerksam zur Kenntnis genommen werden. Denn im Land der Täter ist der Diskurs über Judentum, Israel und Antisemitismus von großer Ignoranz bestimmt und zudem zu einem von Tabus bestimmten, festgefahrenen Ritual verkommen. Wer sich zu diesem Themenbereich öffentlich äußert, sollte Rabkins Buch gelesen haben, andernfalls läuft er (oder sie) Gefahr, der Ignoranz geziehen zu werden.
Yakov M. Rabkin: Im Namen der Thora. Die jüdische Opposition gegen den Zionismus
fiftyfifty Verlag im Westend Verlag Frankfurt/Main, Artikelnummer 978394677814124, 24 Euro (erscheint am 6. Juli 2020)
Online-Flyer Nr. 748 vom 01.07.2020
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Literatur
Der kanadisch-jüdische Historiker Yakov M. Rabkin hat ein faszinierendes Buch über die jüdische Opposition gegen den Zionismus geschrieben
"Der Zionismus untergräbt die Werte des Judentums"
Von Arn Strohmeyer
Judentum, Antisemitismus und Israel sind Themen, die die politische Diskussion in Deutschland ganz maßgeblich beherrschen. Aber wissen die Vertreter von Politik, Medien und interessierter Öffentlichkeit, die diese Diskussion lautstark führen, auch wirklich über diese Begriffe und die dahinter stehenden Realitäten Bescheid? Da muss man große Zweifel anmelden, zumal das deutsche Schuldbewusstsein das Verständnis dieser Problematik ganz einseitig positiv auf Israel konzentriert und jede Kritik an der Politik dieses Staates gegenüber den Palästinensern als „Antisemitismus“ diffamiert. Zur Durchführung dieser inquisitorischen Aufgabe hat die deutsche Regierung sogar das Amt eines Aufpassers geschaffen, der darüber wacht, dass diese Doktrin auch eingehalten wird – das Amt des Antisemitismusbeauftragten.
Es ist deshalb von großer Bedeutung, wenn jüdische Intellektuelle von Rang in diese Diskussion eingreifen und den oft ans Absurde grenzenden deutschen Diskurs wieder ins richtige Lot bringen und an die politische und historische Realität anpassen. Das leistet in ganz vorzüglicher Weise das jetzt endlich von Abi Melzer aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzte Buch des im kanadischen Montreal lebenden Historikers Yakov M. Rabkin: „Im Namen der Thora. Die jüdische Opposition gegen den Zionismus“. (Da Rabkin den Text inzwischen nochmals überarbeitet hat, ist die Übersetzung von Abi Melzer auf dem letzten aktuellen Stand.)
Das Bild, das dieser Historiker vom Judentum, von Israel und dem (Anti-) Zionismus zeichnet, stellt sich so ganz anders dar als das sonst in Deutschland zu diesem Thema Vorgebrachte, denn Israel und Judentum sind in diesem Diskurs ja ein und dasselbe, wobei Israel dann in erster Linie als eine Projektion deutscher Schuld-Befindlichkeiten erscheint, die aber wenig mit der Realität in Israel selbst zu tun hat.
Wie realitätsfern die deutsche Debatte ist, beschreibt Rabkin an einem anschaulichen Beispiel. Er stellt ausführlich dar, dass es sich bei dem Staat Israel nicht um den Typ einer westlichen liberalen Demokratie handelt, sondern um eine national-ethnische Demokratie, weil ausschließlich Juden ihre privilegierten Träger sind, und die anderen im Land lebenden Minderheiten marginalisiert und diskriminiert nur eine Randexistenz führen können. Was den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier aber nicht davon abhielt, bei der Gedenkfeier anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem den Israelis zu versichern: „Wir widerstehen dem Gift des Nationalismus! Wir stehen an der Seite Israels!“ Rabkin kommentiert diese völlig verfehlte und peinliche Aussage mit den Worten: „Dieses verwirrende Paradox aufzulösen, dafür mag mein Buch Juden und Nicht-Juden gleichermaßen hilfreich sein!“
Aufklärung tut also Not, auch bei einem deutschen Bundespräsidenten. Aber Rabkin geht es in seinem Text nur am Rande um den deutschen Diskurs, sein Thema ist das Judentum im weitesten Sinne, besonders aber der Teil des Judentums, der den Zionismus (und damit auch den Staat Israel) als etwas der jüdischen Kultur und Religion Fremdes ablehnte und auch heute noch ablehnt. Aber um das zu leisten, muss man die Begriffe Judentum, Zionismus und Israel voneinander trennen und ebenso ihre Umkehrung Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an Israel, was Rabkin natürlich tut.
Aus dieser Unterscheidung ergibt sich automatisch die Frage, ob der weit verbreitete zionistische Mythos berechtigt ist, dass Israel die naturgegebene Heimat aller Juden auf der Welt ist und ihnen auch Schutz gewährt. Rabkin hält diesen Mythos, um seine Antwort auf diese Frage vorwegzunehmen, für anti-jüdisch. Denn der jüdische Antizionismus ist ein ganz wichtiger Teil des Judentums und keineswegs, wie die Zionisten behaupten, etwa „Antisemitismus“. Weshalb man Israel auch nicht einfach als „jüdischen Staat“ bezeichnen kann, denn damit schließt man einen bedeutenden Teil der Juden aus dem Judentum aus und richtet auf diese Weise eine gefährliche Verwirrung an.
Der Zionismus, der am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in Russland entstanden ist, hatte sich vier Ziele gesetzt: 1. das an der Thora (den ersten fünf Büchern des Alten Testaments) und den religiösen Geboten orientierte Judentum in ein nationalstaatliches Bewusstsein (wie damals in Europa üblich) umzuwandeln; 2. eine auf dem biblischen und rabbinischen Hebräisch beruhende moderne hebräische Landessprache zu schaffen; 3. dafür zu sorgen, dass die Juden der ganzen Welt nach Palästina bzw. in den neu zu schaffenden „jüdischen Staat“ kommen sollten; 4. das Land Palästina – auch gewaltsam – zu erobern und die völlige Kontrolle darüber zu gewinnen.
Dieses Projekt setzte aber einen Prozess der vollständigen Säkularisierung voraus, also die Befreiung der Juden vom „Joch der Thora“ und ihrer Gebote, womit aber ein Keil zwischen die Begriffe „Judenheit“ und „Judentum“ getrieben wurde. Die Treue zur „göttlichen Lehre“ hatte bis zur Aufklärung im 18. und bis zur Entstehung des Zionismus ein Jahrhundert später die ethnische Gemeinschaft der Juden zusammengehalten. Die zionistischen Ideen waren verglichen damit völlig neu, sie waren eine Revolution. Nicht mehr das eher passive Warten auf den Messias (also das Eingreifen Gottes in den Geschichtsprozess) und damit die Erlösung der Juden bestimmten die Ideologie des Zionismus, sondern der Gedanke, das eigene Schicksal bewusst und aktiv in die Hand zu nehmen und zu gestalten.
Der Zionismus stellte so einen totalen Bruch mit der jüdischen Kontinuität dar. Es standen sich jetzt zwei gegensätzliche jüdische Konzepte von der Geschichte gegenüber: die auf Gott bezogene Auffassung, die auf den Begriffen Belohnung und Strafe sowie Exil und Erlösung beruhte. Sie strebte an, die Welt durch die eigene moralische Selbstvervollkommnung (also eine keineswegs passive Haltung) zu verbessern. Und auf der anderen Seite das zionistische Konzept, das die Bereitschaft demonstrierte, seine politischen Ziele auch mit kriegerischer Gewalt durchzusetzen.
Rabkin schildert im Detail die jüdischen Gruppen, die in Opposition oder sogar totaler Ablehnung zum Zionismus stehen, unterscheidet aber zwischen Anti-Zionisten und Nicht-Zionisten. Für erstere sind Judentum und Zionismus völlig unvereinbar, die Nicht-Zionisten dulden diese Ideologie, obwohl sie den Zionismus auch im Gegensatz zur Tradition sehen. Sie gehen aber davon aus, dass Israel ein politisches System wie andere ist und auch nur eine zeitlich begrenzte Existenz haben wird. Hauptvertreter der eher radikalen Richtung des religiösen Antizionismus sind die Charedim, die Chassidim, die Sephardim sowie die Vertreter des Reformjudentums und der Neturei Karta, eher kompromissbereit gegenüber dem Zionismus sind dagegen die Misrachi, die Nationalreligiösen und die Anhänger der Agudat Israel. Die totale Ablehnung des Staates praktizieren aber nur kleine Gruppen der Charedim. Rabkin bezeichnet die Beziehung all dieser Gruppen zum Staat als sehr „facettenreich“. Zur jüdischen Opposition gegen den Zionismus gehören
natürlich auch säkulare Gruppen oder einzelne Intellektuelle in Israel, die Rabkin auch immer wieder erwähnt, etwa die „neuen Historiker“, die die zionistische Geschichtsschreibung als „Geschichtsmythologie“ ablehnen und durch ihre Recherchen erfahren wollen, was sich „wirklich“ ereignet hat – etwa im Nakba-Jahr 1948. Zu ihnen gehören etwa Ilan Pappe, Tom Segev und Avi Shlaim.
Die Kluft, die sich im Judentum durch das Aufkommen des Zionismus aufgetan hat, ist tief und ist ganz offensichtlich unüberbrückbar. Denn sie wirft ganz wesentliche Fragen auf, die vollständig gegensätzlich beantwortet werden. Etwa: Was ist das maßgebliche jüdische Selbstverständnis, ja was ist überhaupt Judentum, und wer vertritt das wahre und authentische Judentum heute? Kann es Judentum ohne Glauben an Gott, ohne Bezug zur Thora und den Geboten überhaupt geben? Für die religiösen Anti-Zionisten ist klar: Die Zionisten sind vom Weg der Thora abgekommen, sie sind deshalb „Sünder“, „Übeltäter“ und „Verbrecher“. Der Zionismus ist in ihrer Sicht eine „teuflische Macht“. Der israelische Intellektuelle Boaz Evron drückte es säkular so aus: „Der Zionismus ist die Verkörperung des falschen Messias.“
Damit sind die diametralen Gegensätze im Wertesystem beider Richtungen – des Zionismus und seiner religiösen Gegner – angesprochen. Aus der religiösen Sicht ist die zionistische Version der jüdischen Identität eine völlige Umkehrung der Werte der Tradition, weil mit ihm eine totale moralische Umwälzung stattgefunden hat: die Umwandlung des demütigen Juden in einen stolzen, ja arroganten „Muskeljuden“, der Gewalt bejaht und es als Ideal ansieht, ein furchtloser Krieger zu sein – eben der vom Zionismus propagierte Typ des „neuen Juden“. Aus diesem Denken heraus resultierte auch die Verachtung der Zionisten für die in ihren Augen „dekadente“ jüdische Diaspora.
Die religiösen Antizionisten nehmen dagegen unter Berufung auf die Thora und den Talmud ganz andere Werte für sich in Anspruch: Bescheidenheit, Barmherzigkeit, Wohltätigkeit und Bußfertigkeit sowie die Fähigkeit des Selbstzweifels und der Selbstberichtigung; die Achtung darauf, welchen Eindruck man bei anderen erzeugt, spielt eine wichtige Rolle; fundamental sind die Werte, den Fremden zu achten und Brüderlichkeit zu üben, was im übertragenen Sinn dann bedeutet, sich für die Schaffung von Frieden einzusetzen. Die Liebe zum Land Israel wird eher spirituell verstanden, sie ist nicht denkbar ohne die Liebe zu Gott und zur Thora.
Eine Rückkehr in dieses Land ist nur als Lohn für gute Taten denkbar, nicht aber mittels eines gewaltsamen Vorgehens: Die militärische Eroberung des Landes und die erzwungene Ansiedlung von Juden ist „gotteslästerliche Autorität und Bruch des Bundes mit Gott“. Die Vertreter eines gewaltsam geschaffenen „Groß-Israel“ sind für die religiösen Antizionisten „Anbeter des „goldenen Kalbes“, das Symbol des Kalbes steht dabei für die vergötzenden Begriffe von „Land“ und „Staat“. Das Exil wird in dieser religiösen Sicht als eine Strafe für die Sünden des Volkes gesehen und es wird so lange andauern, bis die „Erlösung“ auf spirituellem Weg durch den Messias erfolgen wird. Diese religiösen Gegner des Zionismus sagen sogar, dass der Staat Israel sich wegen seiner Sündhaftigkeit im „Exil“ befinde.
Man muss den Inhalt dieser Worte nur ins Gegenteil verkehren, um die ideologischen Grundaussagen des Zionismus zu benennen: Ehre, Stolz, Rachsucht, Machtstreben, Durchsetzungsvermögen und Pionier- und Kampfgeist sind prägende Werte; Selbstzweifel, Buße und Selbstberichtigung kennt diese Ideologie nicht; die Liebe zum Land bedeutet hier: die Rückkehr in die alte „Heimat“ mit Diplomatie und Gewalt, also Eroberung, Inbesitznahme und Anspruch auf völlige Aneignung; Der Staat selbst ist dann der höchste Wert: Zentrum und Identität des jüdischen Volkes; das Exil kann und darf kein existentieller Zustand für die Juden sein, es kam durch politische Fehler früherer jüdischer Führer zustande und muss durch den Zionismus rückgängig gemacht werden; die Erlösung wird durch die „Befreiung“ des Landes von den Arabern herbeigeführt, eine Achtung dem Fremden gegenüber gibt es so gesehen nicht.
Diese gegensätzlichen, unvereinbaren Positionen können ganz aktuell auf die schon über ein Jahrhundert andauernde Auseinandersetzung zwischen den Zionisten und den Palästinensern angewendet werden. Die religiösen Antizionisten – besonders die Charedim – betonen immer wieder, dass sie Jahrhunderte lang friedlich mit den Arabern in Palästina zusammengelebt haben und der Konflikt erst durch die zionistische Einwanderung ins Land getragen worden sei.
Ein Vertreter der religiösen Anti-Zionisten schrieb schon in den 1940er Jahren: „Sie [die Zionisten] schrecken nicht vor abstoßenden Mitteln zurück, um unsere heilige Thora und die gesamte menschliche Moral zu vernichten. (…) Sie haben einen solchen Unfrieden zwischen uns und unseren arabischen Nachbarn gesät, dass der Jischuw [die vorstaatliche jüdische Gemeinschaft in Palästina] im Chaos leidet und jüdisches Blut vergossen wird. Unsere heilige Thora lehrt uns, dass wir vor der Ankunft des Messias (…) in unseren Tagen keinerlei Interessen in der Sphäre der Politik haben dürfen. Diese Haltung kann uns niemals gegen unsere arabischen Nachbarn aufbringen.“
Nun mag man als aufgeklärter und säkularer Europäer mit den religiösen Argumenten der Anti-Zionisten seine Probleme haben und weltanschauliche Distanz verspüren, interessant und faszinierend ist aber, dass ihre Aussagen und Forderungen in politischer Hinsicht oft identisch mit von linker und universalistischer Seite kommenden Positionen sind: ihre Ablehnung der Gewalt und ihre Bereitschaft zum Frieden mit den Arabern bzw. Palästinensern. Sie wollen sogar die Ungerechtigkeit, die die Zionisten den Palästinensern angetan haben, wiedergutmachen. Sie streben das Ende des zionistischen Staates an, aber nur mit friedlichen Mitteln und ohne Blutvergießen. Zwar besteht keine völlige Einigkeit unter ihnen über ihre Ziele, aber sehr vielen von ihnen schwebt als Vision die Umwandlung Israels in eine säkulare, liberale Demokratie vor, in der alle Bürger die gleichen Rechte haben.
Ein Rabbi aus ihren Reihen äußerte schon 1974, also vor über 40 Jahren: „Juden leben in Frieden und Sicherheit überall auf der Welt unter der Herrschaft nichtjüdischer Regierungen, und eine solche Situation wäre auch hier möglich. Möglich wäre sogar die Schaffung einer Art von ‚Vereinigten Staaten‘ gemeinsam mit den arabischen Staaten der Region. Jahrhunderte lang lebten wir in Frieden mit den Arabern, und wären da nicht die zionistischen Agitatoren, wir hätten keinen Grund anzunehmen, dass es Probleme mit ihnen geben könne. Ich selbst habe vor der Balfour-Deklaration [1917] in Jerusalem zwei Jahrzehnte lang mit Arabern zusammengelebt, und ich versichere Ihnen, dass sie nicht anders sind als andere Völker, mit denen die Juden überall auf der Welt friedlich zusammenleben.“
Die charedischen Antizionisten akzeptieren also die Idee eines demokratischen säkularen Staates, in dem sie friedlich ihrer Religion nachgehen könnten. Die Gründung Israels betrachten sie als „historischen Irrtum“. Das Modell eines gemeinsamen Staates, an dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt teilnehmen, hat in letzter Zeit auch in politischen und intellektuellen Kreisen in Israel (etwa bei den „neuen Historikern“ und anderen Intellektuellen) und auch außerhalb des Landes zunehmend an Aktualität gewonnen, weil die zionistische Politik Israel durch die Verweigerung der Zwei-Staaten-Lösung in eine ausweglose Sackgasse manövriert hat. Diese Verweigerungshaltung muss zwangsläufig – verstärkt auch durch den sogenannten „Jahrhundert-Deal“ von US-Präsident Trump – zu einem Apartheidstaat führen, der aber auf Dauer keine Überlebenschance hat.
Dann bleibt als Alternative nur der demokratische und säkulare Einheitsstaat. Nicht nur die Charedim fordern ihn schon seit Jahrzehnten, er stand in den 1960er Jahren schon im Programm der PLO von Jassir Arafat. Die Charedim erinnern zudem an das Menetekel des Untergangs der Sowjet-Union, die sich friedlich – ohne Gewalt und Bedrohung von außen – auflöste und von der politischen Bühne verschwand. Ein ähnlicher Vorgang in Israel wäre natürlich das Ende des Zionismus.
Rabkin selbst hält sich selbst zwar mit eigenen Stellungnahmen zurück, aber seine Sympathien, in welche Richtung die Entwicklung gehen soll, spricht er am Schluss seines Werkes dann doch deutlich aus. Er stellt fest, dass das Judentum viele religiöse und politische Spaltungen erlebt habe. Er fragt: „Wird es auch den Zionismus überleben, und insbesondere die Gründung des zionistischen Staates, der vorgibt jüdisch zu sein und die Juden repräsentieren will, wo immer sie auch leben? Wird das Judentum eine solche gewaltige Kraft überleben können?“
Er zitiert als seine Antwort auf diese Fragen eine Passage, die der israelische Intellektuelle Boaz Evron verfasst hat: „Alle Staaten der Welt, einschließlich des Staates Israel, erscheinen und verschwinden. Auch der Staat Israel wird in hundert, dreihundert oder fünfhundert Jahren verschwinden. Aber das jüdische Volk wird existieren, solange die jüdische Religion existiert, vielleicht noch in Tausenden von Jahren. Die Existenz dieses Staates hat keine Bedeutung für die Existenz des jüdischen Volkes (…), die Juden in der Welt können sehr gut ohne Israel leben.“
Am Schluss seines Buches geht Rabkin auf die schon erwähnte Gedenkfeier in Yad Vashem zum 75. Jahrestag der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz ein: Die meisten Redner aus den verschiedensten Ländern hätten dort ausdrücklich betont, dass der Antizionismus eine neue Form des Antisemitismus sei. Rabkin kommentiert diese Behauptung so: „Wenn es so wäre, würde es auch die Hauptprotagonisten dieses Buches zu Antisemiten machen, die vielen Rabbiner genauso wie Hunderttausende von religiösen Juden, die ihnen folgen. Das ist natürlich Unsinn. Es dekuvriert nur ein weiteres Mal den intellektuellen Trugschluss der Verschmelzung von Zionismus und Judentum, von dem Staat Israel und den Juden. Diese Verschmelzung ist nicht unschuldig. Sie ist eine überaus wirkungsvolle politische Waffe, die benutzt wird, um die Kritik an Israel zu ersticken und den Zionismus, eine Art europäischen exklusiven ethnischen Nationalismus, zu legitimieren.“
Rabkin hat mit seinem Buch über die jüdische Opposition gegen den Zionismus eine wichtige Lücke geschlossen. Er hat es nicht für die Deutschen geschrieben, aber hierzulande sollte es ganz besonders aufmerksam zur Kenntnis genommen werden. Denn im Land der Täter ist der Diskurs über Judentum, Israel und Antisemitismus von großer Ignoranz bestimmt und zudem zu einem von Tabus bestimmten, festgefahrenen Ritual verkommen. Wer sich zu diesem Themenbereich öffentlich äußert, sollte Rabkins Buch gelesen haben, andernfalls läuft er (oder sie) Gefahr, der Ignoranz geziehen zu werden.
Yakov M. Rabkin: Im Namen der Thora. Die jüdische Opposition gegen den Zionismus
fiftyfifty Verlag im Westend Verlag Frankfurt/Main, Artikelnummer 978394677814124, 24 Euro (erscheint am 6. Juli 2020)
Online-Flyer Nr. 748 vom 01.07.2020
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