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Globales
Großbritannien 1938/39
Fahrlässig in fatalen Verstrickungen oder wichtiger Wegbereiter zum Krieg?
Von Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait

Die Garantie an Polen war die erste Garantie in der Geschichte Großbritanniens, die es gegebenenfalls zu einem Kriegseintritt verpflichtete. Was veranlasste den Premierminister Chamberlain zu diesem unberechenbaren sinnlosen Schritt? Nachdem ihn Hitler an der Nase herumgeführt, überrumpelt und das von ihm ausgehandelte Münchner Abkommen 29./30.9.1938 zum Gespött gemacht hatte, fühlte er sich von Scham und Demütigung überwältigt.

Nach Hitlers Bruch des Münchner Abkommens

Chamberlains Garantie an Polen war eine impulsive Reaktion auf seine Demütigung. Nachdem ihn Hitler zum Narren gehalten hatte, fühlte er, dass er etwas tun musste, um sein verloren gegangenes Prestige wiederzugewinnen, und so entschloss er sich in unbesonnener Weise, was ihm wohl in seinen ununterrichteten Kopf kam: Er garantierte Polen, Rumänien und Griechenland, dass Großbritannien sie vor der riesigen deutschen Armee beschützen werde. Simon Newman, Professor der Geschichte von der Glasgow und Westminster Universitäten meint: „Die kritischen Entscheidungen im März 1939 seien „in einer Atmosphäre der Panik, Demütigung und moralischen Hysterie gefallen“. Und Richard Nixon: „Die gefährlichste Periode in jeder Krise sei die Zeit danach“. Die treibende Kraft hinter der britischen Garantie an Polen sei der britische Außenminister Lord Halifax gewesen; er habe Chamberlain die Garantie für Polen aufgeschwatzt. Zu diesem Dilemma äußerte sich Halifax und meinte: Man habe die Wahl zwischen 'Nichtstun', was für Deutschland einen großen Stärkezuwachs und für Großbritannien einen großen Verlust an Sympathie und Unterstützung bedeutete, und dem 'Eintritt in einen verheerenden Krieg'. Er zog letzteres vor. Die Garantie an Polen sei auf Initiative des Außenministers Lord Halifax erfolgt. Nach Hitlers Einmarsch in Prag hatte Halifax gegenüber dem Kabinett verlautbaren lassen: „Das wirkliche Problem war Deutschlands Versuch zur Erringung der Weltherrschaft.“ Allerdings räumte er ein: „Vermutlich können Frankreich und wir Polen und Rumänien nicht davor retten, überrannt zu werden.“ Ob das Deutsche Reich unter Hitler wirklich die Weltherrschaft erringen wollte, wie Halifax vermutete, bleibt höchst fraglich.

Fataler Akt der britischen Geschichte: Britische Garantie an Polen, die nicht umgesetzt werden konnte

In ihrem Vertrauen auf England und Frankreich zeigten die Polen Hitler die kalte Schulter und weigerten sich, mit ihm zu verhandeln. Hätten sie um die Wahrheit gewusst und vorausgesehen, dass Briten und Franzosen sie im Stich lassen würden, so hätten sie sich wohl bereit erklärt, Danzig an Deutschland zurückzugeben, zu dem es seit jeher gehört hatte. Der britisch-polnische Historiker walisischer Herkunft, Norman Richard Davies, von der Universität Sussex, wirft den britischen Führern vor, die Polen getäuscht und so zu ihrer unnachgiebigen Haltung verführt zu haben: „Der britische Premierminister muss sicherlich gewusst haben, dass keinerlei praktische Unterstützung für Polen möglich war. Mit seiner Geste verfolgte er das Ziel, Hitler abzuschrecken, nicht den Polen zu helfen. Die britischen Streitkräfte besaßen weder Bodentruppen noch Schiffe oder Flugzeuge als kraftvolle Mittel zu einer wirksamen Intervention in Mitteleuropa. Hitler spürte wohl instinktiv, dass die Garantie wertlos war.

Aber die britische Garantie an Warschau bestärkte die Polen in ihrer trotzigen, selbstmörderischen Entschlossenheit, um Danzig zu kämpfen, rechneten sie doch mit der militärischen Hilfe Großbritanniens, von der Neville Chamberlain genau wusste, dass sie nie kommen würde.

Unvernünftiges Handeln der Polen zum Danzig-Problem aus Sicht der Briten

Der damalige britische Botschafter in Berlin, Nevile Henderson, schrieb tief besorgt: „Ich muss ... zugeben, dass ich Hitlers Vorschläge als faire Grundlage für Verhandlungen betrachte; in meinem innersten bin ich der Ansicht, dass die Polen sehr unvernünftig handeln, indem sie sich Deutschland zum Feind machen, und dass sie für uns höchst gefährliche Verbündete sind. Ich mag mich ja irren, doch bin ich persönlich überzeugt, dass es keinen dauerhaften Frieden in Europa geben kann, ehe Danzig zu Deutschland zurückgekehrt ist. Die Polen können nicht über vierhunderttausend Deutsche in Danzig herrschen – also muss es Deutschland tun. Es tut mir leid, dass ich dieser Auffassung bin, aber ich befürchte, wir bewegen uns abermals auf schwankendem Boden, wie schon im Fall des Sudetenlandes.“

Chamberlain war nämlich weiterhin der Ansicht, keine deutsche Forderung sei so berechtigt wie die nach der Wiedereingliederung Danzigs, und er trat entschieden für diese Lösung ein – vorausgesetzt, Hitler bemühe sich, dieses Ziel mit friedlichen Mitteln zu erreichen, was er zum damaligen Zeitpunkt immer noch tat.

Kurzsichtigkeit des Versailler Vertrags

In Großbritannien ist die Auffassung verbreitet, die Bevölkerung in Zentraleuropa neige dazu, unbeständig und leicht erregbar zu sein, sie könne jederzeit einen Kampf beginnen, und es könne sehr schwer sein, Recht und Unrecht bei solchem Streit zu entwirren. Aus diesen Gründen galt damals das Münchner Abkommen, das 1961 der Historiker Frederick Taylor der Universitäten von Oxford und Sussex einschätzt, "als Triumph der besten und aufgeklärtesten Prinzipien der britischen Gesellschaft, als Triumph jener, die sich für die Gleichberechtigung der Völker ausgesprochen hatten, als Triumph jener, welche die Kurzsichtigkeit des Versailler Vertrags unerschrocken an den Pranger gestellt hatten. Churchills Auffassung, wonach England und Frankreich die Tschechen im Herbst 1938 durch einen Krieg hätten retten können, sei falsch: 'Churchill irrte sich. Es wäre für die westlichen Demokratien zur Katastrophe geworden, im Oktober 1938 in einen Krieg einzutreten... praktisch gesehen hatte er unrecht.'" So Frederick Taylor.

Sowjetunion unter Stalin laut Churchill eine mächtige Kraft für den Frieden

Fünf Monate vor dem Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrag versicherte Churchill seinem Land, Stalins Russland sei eine mächtige Kraft für den Frieden, auf die sich die Osteuropäer verlassen könnten: „Die loyale Einstellung der Sowjets gegenüber der Sache des Friedens und ihr offenkundiges Interesse daran, den Vormarsch der Deutschen zum Schwarzen Meer aufzuhalten, stellt für alle östlichen Staaten, die jetzt durch die größenwahnsinnigen Träume Berlins bedroht werden, eine Ermutigung dar.“

Warschau unter Druck von London ohne Erfolg


Chamberlain und Halifax suchten nach einem Weg, Hitlers Forderung nach Danzig zu befriedigen, während sich Hitler und Göring gleichzeitig bemühten, den Krieg mit England zu vermeiden. Am 30. August 1938 setzte London Warschau unter Druck, um es zum Eingehen auf Ribbentrops letztes Angebot zu bewegen: Innerhalb von vierundzwanzig Stunden sollte Polen einen Bevollmächtigten nach Berlin senden, der befugt war, über die Abtrennung Danzigs zu verhandeln.

Chamberlains Fehler war nicht seine Weigerung, Großbritannien wegen des Sudetenlandes in einen Krieg mit Deutschland zu verwickeln. Darin hatte er Recht. Sein Fehler war sein Verhalten in München und danach.

Enge Kontakte zwischen London und Berlin im September 1938

In jenem erschütterten September 1938 reiste der britische Premierminister insgesamt dreimal nach Deutschland, um Hitler davon zu überzeugen, dass eine Volksabstimmung und eine friedliche Übergabe des Sudetenlandes an Deutschland die beste Lösung sei. Bei seiner ersten Reise hatte Chamberlain Hitler in Berchtesgaden getroffen (15.September). Die britische und die französische Regierung legten am 19.September der Regierung Benesch die Abtretung des Sudetenlandes nahe. Anschließend flog Chamberlain wiederum nach Deutschland, wo er sich in Bad Godesberg mit Hitler traf und ihn über den positiven Ausgang seiner Londoner Mission in Kenntnis setzte (22.-24. September). In Bad Godesberg war Chamberlain bestürzt über die aggressive und unnachgiebige Haltung Hitlers. Statt einer Billigung des Angebots formulierte der Reichskanzler nun neue, weitergehende Forderungen: Er insistierte auf einem Ende der Diskriminierungen und auf gleichen Rechten für die polnische und ungarische Minderheit in der Rest-Tschechoslowakei. Chamberlain konterte, Großbritannien könne einer durch nackte Gewalt erzwungenen Lösung nicht zustimmen. Als Chamberlain mit Hitlers neuen Forderungen nach London zurückkehrte, lehnte das Kabinett diese ab (25. September). Die Franzosen lehnten sie auch ab. Und natürlich lehnten die Tschechen sie ebenso ab. Am Abend des 26.September hielt Hitler in einer rasenden Stimmung eine Rede im Berliner Sportpalast: "Und nun steht vor uns das letzte Problem, das gelöst werden muss und gelöst werden wird! Es ist die letzte territoriale Forderung, die ich Europa zu stellen habe, aber es ist die Forderung, von der ich nicht abgehe, und die ich, so Gott will, erfüllen werde."

Hitler setzt alles auf eine Karte

Hitler hatte den Bogen überspannt. Frankreich und die Tschechoslowakei begannen, ihre Armeen zu mobilisieren, die zusammen zahlenmäßig doppelt so stark waren wie die deutsche Wehrmacht. Am 27. September wiederholte der Reichskanzler, dass er von den Tschechen erwarte, die Godesberger Bedingungen anzunehmen. Andernfalls, so drohte er offen, werde er „dieses Land zerschmettern“. Sir Horace Wilson, Londoner Gesandter in Berlin, erwiderte ihm: Wenn das Deutsche Reich Frankreich zwinge, der Tschechoslowakei Waffenhilfe zu gewähren, dann könne das Empire nicht untätig bleiben und werde an Frankreichs Seite in den Krieg eintreten.> Hitler setzte alles auf eine Karte und entgegnete seinem Gast: "Wenn England und Frankreich losschlagen wollen, dann sollen sie es tun. Das ist mir völlig gleichgültig. Ich bin für alle Eventualitäten vorbereitet." Am 28.September lief das Ultimatum an Prag ab, dass es sich den Hitlers Forderungen beugen möge. Während der Premierminister eine Rede im Unterhaus an jenem Tag hielt, überreichte ihm jemand ein Zettel. Chamberlain unterbrach seine Rede und fasste die Note zusammen: "Herr Hitler hat sich soeben bereit erklärt, seine Mobilmachung um 24 Stunden zu verschieben und mich bei einer Konferenz in München gemeinsam mit Signor Mussolini und Signor Daladier zu treffen." Eine Weile herrschte Totenstille. Dann brach das ganze Unterhaus in begeisterten Jubel aus. So trat Chamberlain seine dritte Deutschlandsreise an. Bei der Unterredungen am 29. und 30. September in München, war Hitler mürrisch und brüsk. Sir Douglas-Home, Lord Douglas, der künftige Premierminister, bezeichnete die Verhandlungen als schlimmstes Erlebnis seiner Karriere. Er hatte nie erwartet, dass jemand mit einem britischen Premierminister so umsprang wie Adolf Hitler mit Neville Chamberlain.


Verfasst am 4.10.2020

Luz María de Stéfano Zuloaga de Lenkait ist chilenische Rechtsanwältin und Diplomatin (a.D.). Sie war tätig im Außenministerium und wurde unter der Militärdiktatur aus dem Auswärtigen Dienst entlassen. In Deutschland hat sie sich öffentlich engagiert für den friedlichen Übergang der chilenischen Militärdiktatur zum freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat, u.a. mit Erstellen von Gutachten für Mitglieder des Deutschen Bundestages und Pressearbeit, die Einheit beider deutschen Staaten als ein Akt der Souveränität in Selbstbestimmung der beiden UN-Mitglieder frei von fremden Truppen und Militärbündnissen, einen respektvollen rechtmäßigen Umgang mit dem vormaligen Staatsoberhaupt der Deutschen Demokratischen Republik Erich Honecker im vereinten Deutschland, für die deutsche Friedensbewegung, für bessere Kenntnis des Völkerrechts und seine Einhaltung, vor allem bei Politikern, ihren Mitarbeitern und in Redaktionen. Publikationen von ihr sind in chilenischen Tageszeitungen erschienen (El Mercurio, La Epoca), im südamerikanischen Magazin “Perfiles Liberales”, und im Internet, u.a. bei Attac, Portal Amerika 21, Palästina-Portal. Einige ihrer Gutachten (so zum Irak-Krieg 1991) befinden sich in der Bibliothek des Deutschen Bundestages.


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