NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

zurück  
Druckversion

Literatur
Hannes Hofbauer: "Europa. Ein Nachruf"
Gedanken über eine Welt nach dem Scheitern der EU
Buchtipp von Afsane Bahar

Mitten in der aktuellen schmerzenden, aufrüttelnden und ebenfalls Zuversicht gebenden Corona-Krise erhielt ich den Hinweis auf das neue Buch von Hannes Hofbauer: "Europa. Ein Nachruf". Hannes Hofbauer, 1955 in Wien geboren, studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Er arbeitet als Publizist und Verleger. Sein Buch habe ich mit Dankbarkeit und Hochachtung gelesen. Im Rahmen einer ausführlichen Untersuchung [1] beleuchtet der Autor aus verschiedenen Blickwinkeln [2] die Entwicklungsphasen der "Europäischen Union".

So wie die Sonne
die jeden Tag aufrecht
ohne jegliche Rücksichtnahme
auf vermeintliche Allmächtige
Licht und Wärme spendet
beleuchte du beharrlich
Abläufe und Ereignisse
schenke deiner Umgebung
Zuversicht und Lebensfreude
Täusche dich nicht
denn tausend Sonnen
trägst du in dir [3]


Die zusammenfassende Beschreibung des Buches durch den Verlag lautet [4]:
    „Der herrschende Diskurs erlaubt kein negatives Eigenschaftswort zum Begriff „Europa“. Allenthalben wird über mehr Transparenz, bessere Kommunikation und effektivere Verwaltung debattiert. Das Konstrukt der Europäischen Union wird als alternativlos dargestellt; alternativlos als Großraum im weltweiten wirtschaftlichen Konkurrenzkampf ebenso wie als Garant für eine – angeblich – demokratische Wertegemeinschaft.

    Hannes Hofbauer entlarvt das in Brüssel, Berlin und anderswo gemalte Selbstbild als ideologische Begleiterscheinung ökonomischer Protagonisten, die für ihre Geschäfte einen supranationalen Raum und einen entsprechenden militärischen Flankenschutz brauchen. Und er weist den hegemonial-liberalen Ansatz, wonach eine Infragestellung des „europäischen“ Selbstverständnisses quasi automatisch rechts wäre, entschieden zurück.

    Der Autor verfolgt die Europa-Idee bis ins Hochmittelalter zurück und zeigt, wie die Verschmelzung von Antike und Christentum schon vor 800 Jahren zu einem Drang nach Osten geführt hat. Das Selbstverständnis der Kreuzzüge war weströmisch-europäisch. Auch der Kampf von Herrscherhäusern um Vorherrschaft spielte sich auf dem europäischen Tableau ab. Und die zwei bislang verheerendsten Feldzüge in Richtung Osten, jener Napoleons und jener der Wehrmacht, folgten sehr unterschiedlichen, heute verquer wirkenden Europabildern. Nur wenige Europa-Visionen waren von sozialen Utopie- und Friedensvorstellungen geprägt.

    Der Großteil des Buches beschäftigt sich mit der Geschichte der EU-europäischen Einigung, die vom Kohle-Stahl-Pakt über die Einheitliche Europäische Akte, Maastricht und den Vertrag von Lissabon bis zu den Zerfallsprozessen unserer Tage reicht. Die vielfachen Warnungen an die Brüsseler Ratsherren, ablehnende Referenden in Frankreich, den Niederlanden, Irland und EU-feindliche Stimmungen in vielen Mitgliedsländern, wurden in den Wind geschlagen. Auch das britische Brexit-Votum im Jahr 2016 stellte keinen Weckruf für die Apologeten der Supranationalität dar. Wie stark die nationalen Fliehkräfte entwickelt sind, zeigt der Umgang mit der Bekämpfung eines Virus, dem sich das abschließende Kapitel widmet.

    Es ist Zeit, sich Gedanken über eine Welt nach dem Scheitern der Brüsseler Union zu machen.“

Wie bei jeder Betrachtung ist es auch bei den Beobachtungen und Ergründungen dieses Buches entscheidend zu wissen, im welchen größeren Rahmen die Auseinandersetzung erfolgt und welcher rote Faden vorliegt. Die folgenden Auszüge geben diesbezüglich hilfreiche Hinweise.

3. Kapitel; Nach 1945: Westeuropa wird amerikanisch; Seite 71:

Man kann »Europa« in vielfältiger Hinsicht definieren, wie bereits im einleitenden Kapitel angesprochen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging es jenen, die sich in der Folge als »Europäer« bezeichneten, nicht um geographische Gesichtspunkte, auch nicht um oft strapazierte kulturelle Gemeinsamkeiten; die Europaidee, die letztlich in den Brüsseler Suprastaat mündete, fußte auf ökonomischen und geopolitischen Vorstellungen. Es ging den Gründervätern im Wesentlichen um drei Dinge: die Herstellung einer dauerhaften deutsch-französischen Achse nach zwei gegeneinander geführten Kriegen; den Kampf gegen die kommunistische Sowjetunion, der nach deren Zusammenbruch als antirussische Allianz weitergeführt wurde; und die Unterstellung dieser beiden Ziele unter ein US-geführtes transatlantisches Kommando, wenngleich letzteres in jüngster Zeit EU-europäischen Eliten zunehmend schwer fällt. Um dieses Projekt umsetzen zu können, kam (und kommt) das gesamte Arsenal an Eingriffsmöglichkeiten zum Einsatz: wirtschaftliche, politische, mediale, juristische und – wenn nötig – militärische.“

6. Kapitel; Neoliberaler Durchstart: Kapitalherrschaft im Binnenmarkt; Seite 128 und 129:


„In Maastricht [gemeint sind das Treffen der Staats- und Regierungschefs der Zwölfergemeinschaft im Dezember 1991 und die anschließenden Ereignisse] haben ein Dutzend Staatsführer, ohne dafür gewählt worden zu sein, der künftigen Europäischen Union eine wirtschaftsliberale Ordnung verpasst, die letztlich am radikalen Liberalismus des frühen 19. Jahrhunderts anknüpft und sich an die Neoliberalen der Österreichischen Schule rund um Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek anlehnt.

Die Österreichische Schule der Nationalökonomie, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden ist, stellte das Individuum ins Zentrum ihrer Überlegungen. Jeder einzelne sei es, so ihre radikale Auslegung, der mit seinem Verhalten Angebot und Nachfrage und damit Preise bestimme. Auf dieser Basis sei der Markt eine sich selbst ständig regulierende Einrichtung. Volkswirtschaftliche Bedingtheiten, staatliche Entscheidungen, Kriege und Kriegsfolgen spielen in dieser Theorie keine Rolle … oder sollten zumindest keine spielen. Der Staat ist aus dem Wirtschaftsleben soweit wie möglich fernzuhalten, den Selbstheilungskräften des Marktes nach etwaigen Verzerrungen sei blind zu vertrauen. Am besten gelingt dies, so Hayek in seinem 1948 erschienenen Aufsatz über die Funktion einer Staatenunion, innerhalb einer solchen Wirtschaftsföderation. Denn diese würde allein durch die Tatsache, dass Kapital, Waren und Arbeitskraft sich ungehindert bewegen könnten, den Handlungsspielraum von Nationalstaaten einschränken. Der für den Liberalen notwendige Abbau des Sozialstaates lässt sich in einer Staatengemeinschaft besser bewerkstelligen, weil darin auf soziale, an die einzelnen Nationalstaaten gebundene und dort verwaltete Rechte weniger Rücksicht genommen werden müsse. Für den Soziologen Wolfgang Streeck liest sich die Vision Hayeks aus den späten 1940er-Jahren deshalb »wie ein Konstruktionsplan für die Europäische Union von heute.« Tatsächlich beruht Maastricht auf Hayeks Denke. Zumindest so lange, bis anlässlich der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 und noch mehr der Corona-Krise 2020 die Pragmatik staatlicher Rettungsprogramme die liberale Ideologie kurzzeitig ablöste, wie wir weiter unten sehen werden.“

6. Kapitel; Neoliberaler Durchstart: Kapitalherrschaft im Binnenmarkt; Seite 132 und 133:

„Einen Monat vor dem Beschluss der EWG-Granden zur Unionisierung der Zwölfergemeinschaft und der zeitgleichen Auflösung der Sowjetunion schaltete die NATO von Defensive auf Offensive. Auf ihrem Gipfel vom 8. November 1991 in Rom wurde ein neues strategisches Konzept verabschiedet. Darin trat der Bündnisfall nicht mehr ausschließlich zur Verteidigung gegen Angriffe von außen ein, wie es noch bei der Gründung der Allianz im Jahr 1949 festgelegt worden war, nun dachte man im militärischen Hauptquartier auch an Expansion. In Punkt 13 des neuen Konzeptes kommt dieser Strategiewechsel zum Ausdruck. Dort heißt es: »Die Sicherheit des Bündnisses muss jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen. Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken berührt werden, einschließlich der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen sowie von Terror und Sabotageakten.«

Damit gab sich die NATO just im Moment des Zusammenbruchs der Sowjetunion ein Mandat zum weltweiten Eingriff. Die Gründe dafür waren neu. Massenvernichtungswaffen können, wie die Legitimation zum US-geführten Krieg gegen den Irak im Jahr 2003 gezeigt hat, bei Bedarf rasch erfunden und diese Erfindung via Medien weit verbreitet werden. Und die Sicherung weltweiter Rohstoffe zum Zwecke ihrer ungehinderten Ausbeutung durch westliche Konzerne ist ein klassisches imperialistisches Gehabe und eine Drohung an alle Länder der Welt, die Interessen der NATO-Allianz bei jeder heimischen Entscheidung nicht außer Acht zu lassen.

In den zwei letzten Monaten des Jahres 1991 wurde die Weltkarte neu gezeichnet. Dem implodierenden kommunistischen Osten setzten NATO und EWG eine Stärkung ihrer Strukturen entgegen. Damit waren sie für die kommenden Erweiterungen in Richtung Osten gut gerüstet. Das Bild des europäischen Kontinents hatte sich vor dem Jahreswechsel 1991/1992 nachhaltig geändert.“

7. Kapitel; Die Militarisierung der Europäischen Union; Seite 147 und 148:

„Unter dem Kürzel ESVP, das für »Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik« steht, materialisierte sich seit den frühen 2000er-Jahren die militärische Schlagkraft. Mit dem im Februar 2001 unterzeichneten Vertrag von Nizza war der juristische Rahmen dafür geschaffen. Seit damals überzieht die Europäische Union drei Kontinente mit Militär- und Polizeimissionen, die von Ausbildungslagern bis zu Kampfeinsätzen reichen. Als Beispiele seien erwähnt: die Militäroperation CONCORDIA 2003 in Makedonien, eine ebensolche 2003 und 2016 in der Demokratischen Republik Kongo (ARTEMIS), EUFOR-ALTHEA in Bosnien seit 2004, eine euphemistisch »Überbrückungsoperation« genannte Intervention im Tschad 2007?2009, die Marineoperation EU NAVFOR-Atalanta in Somalia seit 2008 sowie viele militärische Ausbildungseinsätze in Bosnien, Kongo, Sudan, Afghanistan und anderswo.

Die beiden FriedensforscherInnen der Tübinger »Informationsstelle Militarisierung«, Claudia Haydt und Jürgen Wagner, bringen die neue außenpolitische Linie der EU auf die leicht verständliche Formal »Weltmacht = Expansion + Militarisierung«. Die Erweiterung der Brüsseler Union, die seit der Gründung des Kohle-Stahl-Pakts in Schüben erfolgt, wird zunehmend militärisch abgesichert. Dafür bedarf es auch einer kräftigen Erhöhung der einzelnen nationalen Rüstungsbudgets, die im Jahr 2013 durch die EU-Kommission gefordert und zugleich ermöglicht wurde. Artikel 42, Absatz 3 des Lissabonner EU-Vertrages nimmt den Militärbereich vom sonst mit Argusaugen überwachten Sparkurs aus; mehr noch, er verpflichtet die Mitglieder der Gemeinschaft, »ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern«.

Kontrovers diskutiert wird im Zusammenhang mit der Militarisierungsstrategie der Europäischen Union die Frage, inwieweit eine solche Europa unabhängig von der US-geführten NATO machen soll; ebenso umstritten ist der Radius des Einsatzgebietes: 4000 Kilometer rund um Brüssel oder fast rund um die Welt.“

In einem Exkurs, der mit freundlicher Genehmigung des Verlags hier vollständig veröffentlicht wird [5], veranschaulicht der Autor die wesentlichen Institutionen der „Europäischen Union“ und die entsprechenden mangelhaften demokratischen Verhältnisse:

„Mit einem für Außenstehende undurchsichtigen Geflecht an Institutionen hat sich die Europäische Union einen Apparat aufgebaut, der einfachen demokratischen, bürgerlich-parlamentarischen Prinzipien Hohn spricht. Oder, wie es der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim zum Ausdruck brachte: »Demokratie ist in der Europäischen Union in krasser Weise defizitär. (…) Würde ein Beitrittskandidat derartige Defizite aufweisen, hätte er nicht die geringste Chance, in die EU aufgenommen zu werden.«289

Je nach Lesart herrschen vier oder fünf Einrichtungen über die 447 Millionen EinwohnerInnen der Union. Im Viereck zwischen Rat, Kommission, Parlament und Gerichtshof fallen die Entscheidungen, zusätzlich dazu dient der »Europäische Rat« als übergeordnete Instanz im Hintergrund. Laut einer Erhebung des »Centrums für europäische Politik« sind diese vier bis fünf Organe für ca. 80 Prozent aller in den einzelnen EU-Staaten geltenden Gesetze zuständig. Für Deutschland schätzte der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog die Anzahl der von Brüssel ausgegebenen Gesetze bereits im Jahr 2007 auf 84%.290 In Österreich waren es laut die Europarechtsexpertin Alina Lengauer im Jahr 2014 80%.291 Denn es gilt der Vorrang von EU-Recht gegenüber nationalen Gesetzen.“

9. Kapitel; Die Osterweiterung; Seite 187 bis Seite 190:

„War Maastricht 1992 in Vorbereitung auf enorme Erweiterungsschritte passiert, so schloss man in Lissabon 2007 die Institutionenreform als Reaktion auf den Beitritt von zwölf neuen Mitgliedsstaaten ab. Zehn von ihnen (außer Malta und Zypern) waren nach dem Zweiten Weltkrieg in die kommunistische Einflusssphäre geraten. Bevor die große Runde der EU-Osterweitung 2004 über die Bühne ging, zerfielen die drei multinational verfassten kommunistischen Gebilde Sowjetunion, ?SSR und Jugoslawien entlang ethnischer Bruchlinien. Das kam den EU-Managern in Brüssel entgegen, wäre es doch weitaus schwieriger gewesen, allzu große, selbstbewusste Staaten aufzunehmen. Entsprechend wurde eine periphere Integration in kleinen Häppchen angeboten – für drei baltische Republiken, getrennt für Tschechien und die Slowakei sowie für Slowenien. Polen bildete diesbezüglich eine Ausnahme.“ […]

„Nicht unerwähnt soll in diesem Zusammenhang auch bleiben, dass kein einziges der neuen Mitglieder aus dem Osten der EU beitreten durfte, bevor es sich nicht in die Militärallianz der NATO einschrieb. Wie schon öfter im Zuge unserer Beschäftigung mit der europäischen Einigungsbemühung fällt auf, dass auch bei dieser größten Erweiterungswelle Washington zumindest indirekt – diesmal über den Militärpakt NATO – seine Hände im Spiel hatte.

Investitionssuchendes Kapital fand während der EU-Osterweiterung paradiesisch leergeräumte Märkte und Operationsfelder vor. In ökonomischer Hinsicht herrschten Zustände wie nach einem Krieg, wenn der Wiederaufbau gigantische Geschäfte verspricht. Die einzelnen Volkswirtschaften lagen am Boden. In allen osteuropäischen Staaten nahm eine Hyperinflation Geld und damit Konsumversprechen vom Markt, die in kommunistischer Zeit nicht eingelöst werden konnten. So gewärtigte Polen zwischen 1989 und 1990 eine 600 %ige Inflation, Bulgarien und Rumänien kämpften das Jahr darauf mit 320 % bzw. 200 % Inflation, in Slowenien verlor die Währung nach der Unabhängigkeitserklärung 200 % ihres Wertes und selbst Tschechien, dessen Wirtschaft vergleichsweise gut dastand, musste eine 60 %ige Inflation in die Bücher schreiben. Dreistellige Inflationsraten enteigneten alle, die nichts als ein Sparbuch und ihre Arbeitskraft zur Verfügung hatten; und das waren in kommunistischen Gesellschaften tatsächlich alle, bis auf eine Minderheit von Schiebern und Devisenhändlern, die sich zuvor illegal bereichern konnten, sowie einzelne KP- und Betriebsführer, die ihre Position nutzten, um alte politische Privilegien zu kapitalisieren.

Im Inneren der aufnahmebereiten Länder konzentrierte sich Kapital während der Transformationszeit auf wenige Menschen mit entsprechender, manchmal auch krimineller Energie. Viel bedeutender war das über Hyperinflation und Deindustrialisierung nun leergeräumte marktwirtschaftliche Feld allerdings für ausländische Investoren. Diese hatten freie Fahrt. Lohndifferenzen von bis zu 1:30 machten Investments extrem profitabel, risikolos und billig. Mitte der 1990er-Jahre konnten bundesdeutsche Unternehmen mit einer Differenz zum durchschnittlichen deutschen Bruttolohn in der Höhe von 1:10 (in der Slowakei) bis 1:34 (in Bulgarien) rechnen. Und eine ungarische Industriearbeitsstunde kostete 1994 zehnmal weniger als eine westdeutsche. Zehn Jahre später, zur Zeit der großen EU-Osterweiterung 2004, lagen die Lohndifferenzen zwischen den neuen Mitgliedsländern und Deutschland zwischen 1:8 und 1:20.“

10. Kapitel; Von der Weltwirtschaftskrise zum Brexit; Seite 238 und 239:

„Die im September 2019 beschlossene Sicht des EU-Parlaments auf den Zweiten Weltkrieg stellt die historische Wirklichkeit unter dem Eindruck der neuen Russland-Feindschaft auf den Kopf. Der Überfall auf Polen am 1. September 1939 wird als abgekartetes Spiel zwischen zwei Mächten dargestellt, die sich im Vorfeld auf die Aufteilung Europas geeinigt haben. Er fand dem EU-Parlament zufolge nur deshalb statt, weil einer der beiden Bösewichte eben beginnen musste. Es hätte, folgt man der Argumentation aus Straßburg, genauso gut auch die Sowjetunion sein können. Beider gemeinsames Ziel sei es ohnedies gewesen, sich Europa aufzuteilen. Aus der Tatsache, dass die Wehrmacht 1943 in Stalingrad eine vernichtende Niederlage hinnehmen musste, Moskau nicht einnehmen konnte und sowjetische Truppen in der Folge bis Berlin und Wien marschierten, basteln die EU-Parlamentarier post tragoediam ihre Geschichtsklitterung. So wird die Aggression des Nationalsozialismus 80 Jahre später zu einer vereinbarten Aufteilung Europas zwischen zwei autoritären Regimen. Nur wenigen fällt offensichtlich auf, wie sich die (deutsch geführte) Europäische Union 74 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zumindest ideologisch-historisch wieder in die damalige Frontlinie einreiht.

Das Gefühl, von äußeren Feinden und solchen im Inneren umringt zu sein, hat von der Brüsseler Union seit der Jahrtausendwende verstärkt Besitz ergriffen. Neben den am Beispiel Russlands beschriebenen Aktionen werden zunehmend auch Repressionsmaßnahmen gegen Abweichler und Feinde innerhalb der Gemeinschaft erörtert. Die massive Außerkraftsetzung von Grundrechten im Zuge der Virusbekämpfung im Frühling 2020 könnte in den Aufbau autoritärer Strukturen übergeführt werden. Zu vergessen ist dabei jedoch nicht, dass Repressionsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung staatlicher bzw. suprastaatlicher Autorität ein Zeichen von Schwäche sind und eine Herrschaftsstruktur hervorbringen, die leicht erodieren kann.“

11. Kapitel; Brüssels Todesvirus; Seite 241:

„Spätestens der europaweite Umgang mit dem auf Sars-CoV-2 getauften Virus im Jahr 2020 hat gezeigt, dass der Unionsgedanke in der Krise zerschellt. Allen EU-Staaten gemeinsam war der Rückzug aufs Nationalstaatliche. Mit der Ausnahme von Schweden brachte dies zugleich autoritär agierende Regime hervor, wie sie zuvor nicht für möglich gehalten wurden. Die Aufhebung der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive, wie sie für die Brüsseler Union konstitutiv ist, zog nun auch in den einzelnen Mitgliedstaaten ein.

Das Jahr 2020 mit seiner Corona-Krise machte klar, dass die Europäische Union in zweierlei Hinsicht gescheitert ist: zum einen legte der Umgang mit Covid-19 die strukturelle und personelle Unfähigkeit bloß, die größte Herausforderung Europas seit dem Zweiten Weltkrieg zu managen. Das kam einem Offenbarungseid vor dem Publikum gleich, das sich von seinen jeweiligen Regierungen einschüchtern ließ. Und zum anderen zerplatzte die Vorstellung, der EU-europäische Gedanke hätte über die vergangenen Jahrzehnte dazu beigetragen, den Nationalstaat zu überwinden. Das Gegenteil war der Fall.“

11. Kapitel; Brüssels Todesvirus. Seite 249 und 250:

„Die »Corona-Krise« beschleunigte einen Prozess, der bereits lange zuvor begonnen hatte, nämlich den Aufstieg neuer Leitsektoren. Diese bestehen aus biotechnischen, pharmazeutischen, Kontroll- und Informationskonzernen. Die russischen Forscher Leonid und Anton Grinin nennen es den MBNRIC-Komplex (Medizin, Bio, Nano, Robotik, Information und kognitive Bereiche). Dabei geht es um nicht weniger als die – schleichende – Ablösung des industriellen durch ein kybernetisches Zeitalter, das von selbstregulierenden und optimierenden Technologien beherrscht wird. Nicht mehr die Arbeitskraft des Menschen wie unter industriellen Vorzeichen wird in erster Linie ausgebeutet, sondern seine Körperlichkeit mit all ihren Funktionen. Das kann z. B. sein schlechtes bzw. schlecht geredetes Immunsystem gegenüber Virusattacken sein, wie es sich im Kampf gegen Covid-19 zeigt. Mit Testen, Tracken und Impfen lässt sich dabei viel Geld verdienen, umso mehr, wenn es staatlich verordnet und über Steuergelder bezahlt wird. […]

Das aufstrebende digital-kybernetische Zeitalter fällt mit einem geopolitischen Hegemoniewechsel zusammen. Schritt für Schritt können wir die Ablöse des transatlantischen, US-geführten Zentralraums durch den Aufstieg Chinas beobachten. […]

Seit den Zeiten des Merkantilismus im 17. Jahrhundert tritt bei jedem historischen Zykluswechsel der starke Staat in Aktion. Dies ist auch während der Corona-Krise zu beobachten, die den Übergang vom industriellen zum kybernetischen Zeitalter beschleunigt. Zur Überwindung der tiefen wirtschaftlichen Krise und zur Festigung zukünftiger Leitsektoren schöpft der Staat seine finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten aus, um einem neuen Akkumulationsregime den Weg zu ebnen, um Kapitalherrschaft zu organisieren. Das Jahr 2020 sah folgerichtig den Wiederaufstieg des Nationalstaates.“

11. Kapitel; Brüssels Todesvirus; Seite 260 und 261:

„Europa neu gedacht ist also ein Plädoyer für möglichst lokale und regionale Wirtschaftskreisläufe anstelle einer auf globalisierter Arbeitsteilung beruhender Wachstumsideologie. Es bedeutet auch Priorität von nationalstaatlicher Souveränität vor globaler Standortkonkurrenz. Nicht der Sieg im Wettlauf um Konkurrenzvorteile und Investitionen, wie er die Welt seit Jahrzehnten prägt, ist die Zielvorgabe, sondern eine von unten aufgebaute Wirtschaftsstruktur. Diese muss sich auch politisch niederschlagen, indem Entscheidungen möglichst regional vor national und international getroffen werden.

Solche Europagedanken werden sich auch von einem jahrhundertelang vorherrschenden missionarisch-imperialen Anspruch verabschieden müssen, Vorreiter und Maßstab für Gesellschaften überall auf der Welt zu sein. Die Menschen und Völker Europas könnten die Initialzündung dafür geben und den Anfang machen. Die sozialen und ökologischen Gründe dafür liegen auf der Hand und waren noch nie so sichtbar wie im Jahr 2020, dem Erscheinungsjahr dieses Buches.“


Im Sinne des folgenden Gedichtes [6] möchte ich die Lektüre dieses wertvollen Buches herzlich empfehlen:

Wenn du
die natürlichen, wunderschönen Eisgebilde
am Rande der Wasserläufe
mit allen Sinnen erleben willst
musst du zuerst wissen
wann, wo und wie sie entstehen
Dieses Wissen allein
kann dir jedoch die bezaubernde Begegnung
mit diesen Wundern nicht verschaffen
Du musst aufstehen
und dich in Bewegung setzen
So verhält es sich auch
mit der gesellschaftlichen Gerechtigkeit
und den anderen Schönheiten des Lebens


Quellen:

[1] https://amirmortasawi.files.wordpress.com/2020/10/literaturliste-h.pdf
[2] https://amirmortasawi.files.wordpress.com/2020/10/inhaltsverzeichnis-h.pdf
[3] https://afsaneyebahar.com/2020/09/24/20690292/
[4] https://mediashop.at/buecher/europa/
[5] https://amirmortasawi.files.wordpress.com/2020/10/exkurs-h.pdf
[6] https://afsaneyebahar.com/2020/10/18/20690416/


Hannes Hofbauer: Europa. Ein Nachruf



272 Seiten, Promedia Verlag, Wien 2020, ISBN: 978-3-85371-475-1, 22 Euro

Online-Flyer Nr. 756  vom 04.11.2020

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE