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Kultur und Wissen
Menschen mit Mut
Lust zu leben
Mariam Chikava – interviewt von Andrea Drescher
Mut der besonderen Art besitzt die 1983 in Georgien geborene Kunstpädagogin, Malerin, Architektin-Innenarchitektin und Schmuckdesignerin Mariam Chikava, die jahrelang als Kind im Krieg (über)leben musste. Mangel an Klopapier wirft sie nicht aus der Bahn, die Kriegserfahrung zeigt ihr, dass sie mit Schwierigkeiten fertig werden kann. Sie schafft es, immer positiv nach vorne zu schauen, und das mit lachendem Gesicht. Die verwitwete Mutter von zwei Kindern im Alter von drei und sechs lebt inzwischen in Linz und hat ihr Hobby Schmuck zum Beruf gemacht.
Mariam Chikava
Wo und wie haben Sie den Krieg erlebt?
Ich wurde 1983 in Tiflis geboren, meine Mutter war alleinerziehend. 1991, nach dem Ende der Sowjetunion, begann der Krieg. Zunächst für uns unmerklich, aber irgendwann erreichte der Bürgerkrieg auch die Stadt. Tiflis wurde bombardiert, Schulen zerstört, wir hatten immer Angst auf die Straße zu gehen. Schüsse auf Zivilisten waren Normalität, im Bus mussten wir uns bei Schießereien auf den Boden werfen. Ich wusste nie, was los war. Ich war ja nur ein Kind, kann mich aber erinnern, dass wir uns immer wieder verstecken mussten. Die Schule fiel immer wieder aus und wenn sie mal stattfand, saßen wir im Winter dort mit Jacken und Handschuhen, da die Fenster zerstört waren. Meistens blieben wir aber daheim. Das ging in etwa 5 Jahre lang so. Arbeit gab es keine. Strom, Heizung, Wasser fielen immer wieder aus. Das Wasser haben wir uns mit Kübeln vom Hofbrunnen geholt, aufgrund des fehlenden Stroms gab es keine Informationen aus dem Fernsehen. Irgendwann war der Krieg vorbei. Das Elend ging aber weiter.
Was passierte dann?
Es kamen viele einheimische Flüchtlinge in die Stadt. Rund 250.000 Menschen. Daher begann nach dem Krieg die Hungerzeit. Es wurde damals mehr für Flüchtlinge getan als für die Einheimischen. Es gab keine Arbeit, kein Arbeitslosengeld, keine Unterstützung für Familien. Wir standen stundenlang für Brot oder Zucker vor den Geschäften an – es hat nie für alle gereicht. Also standen wir auch mal um zwei Uhr nachts auf, um rechtzeitig in der Schlange zu stehen. Die Hungerzeit dauerte etwa solange, bis ich anfing zu studieren. Die Schulen und Universitäten hat man sehr schnell wieder aufgebaut. Ich erinnere mich, dass ich ca. ab dem 9. Schuljahr wieder in einer renovierten Schule lernen konnte. Mit dem Wechsel der Regierung kehrte langsam die Normalität wieder zurück, aber selbst heute herrscht immer noch eine hohe Arbeitslosigkeit.
Wie überlebt man in solch einer Situation?
In Georgien unterstützen sich die Familien untereinander, wohnen zusammen, alle helfen sich gegenseitig, wer kann, der arbeitet. Ich habe meine Bilder an ein Geschäft verkauft, um meinen Beitrag zu leisten. Während des Colleges und an der Hochschule musste ich als ausgezeichnete Studentin nichts zahlen. Nachdem mein Vater meine Bilder sah, kam erstmals auch von seiner Seite Unterstützung. Man kommt eben irgendwie durch, auch wenn es sehr hart ist.
Sind Sie deshalb nach Österreich gekommen?
Nein, nicht direkt. Man bot mir an, Deutsch zu lernen, um in Deutschland zu studieren. Nachdem ich mir ausreichend Sprachkenntnisse angeeignet hatte, bekam ich auch die Zulassung der Universität. Aber mit 20 – ohne Smartphone, Internet oder Messenger - war ich in Deutschland so isoliert, dass ich sehr großes Heimweh bekam. Ich wollte mein Studium in Georgien beenden und ging – nachdem ich ein bisschen Geld gespart hatte - 2006 zurück. In Tiflis habe ich neben meinem Studium erst als Schmuckdesignerin in einer Werkstatt gearbeitet und mich dann damit selbstständig gemacht.
Eine Zeitlang habe ich als Innendesignerin gearbeitet, aber dann kam 2008 wieder ein Krieg, das normale Leben und meine Möglichkeiten zu arbeiten waren wieder vorbei. Zwei Jahre war erneutes Chaos, das die Menschen enorm belastet hat – die Situation ist heute immer noch kritisch.
Wie haben Sie diesen Krieg wahrgenommen?
Deutlich bewusster als als Kind. Wir saßen zwei Wochen zuhause, gingen nie `raus. Ganz in der Nähe der Wohnung waren eine russischen Tankfabrik und eine Flugzeugfabrik, beide wurden bombardiert. Warum die Russen ihre eigenen Fabriken bombardiert haben, weiß ich nicht. Aber zwischen diesen beiden Fabriken leben zu müssen, war eigentlich das erste Mal, das mir richtig Angst machte. Wir haben immer „gewartet“, dass eine Bombe auf unser Haus fällt. Obwohl ich heute noch Bilder aus dem ersten Krieg im Kopf habe, hatte ich diese Zeit als weniger schlimm empfunden.
Dank meiner Arbeit konnte ich irgendwie überleben. Im Flughafen gab es ein Geschäft, das meine Schmuckstücke anbot. Menschen, die per Flugzeug aus Georgien flohen, wollten irgendetwas Schönes aus der Heimat mitnehmen. Auch Russen und EU-Ausländer waren begeistert und haben gekauft. In der Stadt selbst war Schmuck nicht interessant. Es herrschte tiefste Armut und die großen Firmen waren wegen des Krieges geschlossen, die kleinen Geschäfte waren ausgestorben. Das Leben in Georgien war unfassbar schwer geworden, was dazu führte, dass ich nach Österreich ging.
Wieso Österreich und nicht wieder Deutschland?
Ein guter Freund brachte mich 2009 auf die Idee, doch wieder ins Ausland zu gehen. Da ich schon 26 war, füllte ich die Formulare für Österreich aus, wo man bis 27 als Au Pair vermittelt wird. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich überhaupt etwas ergibt, aber auf einmal kam eine Anfrage und ich landete in Wallern in Oberösterreich.
Wollten Sie aufs Land?
Nein. Ich wollte eigentlich in eine Stadt, fand den Ort nicht mal auf der Karte und habe über Netz gefragt, wo er denn liegt. Aber da hatte ich das Visum schon beantragt, war extra dafür in die Türkei gefahren, also dachte ich mir, dann wechsele ich eben später die Familie – ich kann ja deutsch. Einer meiner Netzkontakte aus Wallern lud mich zum Kaffee ein - und wurde später meine Mann.
In Österreich begann ich mit Malerei, ohne Werkzeug war die Schmuckherstellung nicht möglich, und hatte nach kurzer Zeit meine erste Ausstellung in Ungarn, während ich noch als Au Pair- Mädchen arbeitete. Meinen zukünftigen Mann traf ich täglich – rein freundschaftlich. Erst bei der Fahrt nach Ungarn wurde mir klar, dass es Liebe ist. Sein Heiratsantrag war unkonventionell: Er hat mir ein türkises Kleid gekauft, den 24. Juli 2010 beim Standesamt fixiert und damit vollendete Tatsachen geschaffen. Dem konnte ich mich nicht entziehen – wir heirateten und ich blieb in Österreich.
2014 kam mein erstes Kind zur Welt und ich habe mich kurz nach der Karenz wieder selbstständig gemacht. Ich verkaufte meinen Schmuck und nahm an Ausstellungen und Kunstmärkten teil. Dank der Unterstützung meines Mannes klappte das auch nach der Geburt unseres Sohnes 2017 ganz gut. Aufgrund des Zusammenarbeit mit dem Bund sozialdemokratischer Akademiker_innen, Intellektueller und KünsterInnen BSA:ART wurde ich bekannter und konnte meine Kunst erfolgreich österreichweit präsentieren. Als mein Mann 2018 überraschend starb, brach meine Welt zusammen. In fünf Minuten verliert man alles. Ein Herzanfall und er war auf der Stelle tot. Selbst im schlimmsten Stress waren wir wie frisch verliebt gewesen. Bis zum letzten Moment – bis zur letzten Minute – kein SMS endete ohne „ich liebe dich“.
Wie haben Sie das bewältigt?
Zwei Wochen vorher hatten wir über das Sterben geredet. Er wollte kurz und schmerzlos sterben. Dass es für Angehörige eine Katastrophe ist, wusste er. Ohne mich wollte er nicht leben, aber ich sei stark genug, allein weiter zu machen. Er hatte zu viele Angehörige sterben sehen. Auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, wie es weiter geht, ich musste weiterleben – mein Sohn war 1,5, meine Tochter auch noch klein und ich in Karenz. Das erste halbe Jahr war ich im Schock – ohne Trauer, entweder hysterisch oder gefühllos – und bis auf die Kinder komplett allein.
Half Ihnen wenigstens die Familie weiter?
Nein. Von der Familie gab es kaum Hilfe. Für sie war es wohl ein Problem, dass ich als Ausländerin nicht nur Putzfrau blieb, sondern eine erfolgreiche Künstlerin mit großen Veranstaltungen war. Sie waren vermutlich einfach neidisch. Unterstützung kam von Freunden, seinen Arbeitskollegen und der BSA:Art. Alle seine früheren Mitarbeiter kamen zur Beerdigung, er hatte immer allen geholfen, egal ob Ausländer oder Inländer.
Nach der Beerdigung gab ich einen Malkurs in Narcobaleno – ich habe einfach gearbeitet. Ich wusste, ich muss etwas machen, um zu überleben. Die Konten meines Mannes waren gesperrt, ich erhielt keine Witwenpension, nur Karenzgeld, das reichte nicht für Wohnung, Auto, Versicherungen, Kindergarten und, und, und. … Dann kam erst meine Schwester, später meine Mutter aus Georgien zu Hilfe und ich war nicht mehr ganz allein.
Haben Sie mit dem Gedanken gespielt, nach Georgien zurück zu gehen?
Ja. Ich habe mir überlegt, es auszuprobieren – für fünf Wochen. Ich wusste nicht, ob ich es schaffe, nach 9 Jahren Österreich zurückzukehren, und wie die Kinder damit klarkommen. Sie sind Österreicher, kannten das Land kaum. Mir wurde schnell klar, ich will zurück nach Österreich, die Kinder wollten zurück zu ihren Freunden und ich wollte meinen Mann nicht zurücklassen. Ich wollte den Kindern nicht alles wegnehmen: Papa, Land, Freunde. Also entschied ich mich zu bleiben und endlich auch die Staatsbürgerschaft zu beantragen. Seit Februar 2020 habe ich den österreichischen Pass.
Wie ging es dann weiter?
Ich habe mir eine günstige Wohnung gesucht, ein Freund half mir beim Umzug der großen Möbel. Mit dem Einkommen aus der Witwen- und Halbwaisenpension sowie meiner Selbstständigkeit kamen wir irgendwie durch, speziell nachdem ich mein Auto verkauft hatte. Wir leben sparsam. Ich wollte alles möglichst alleine schaffen, aber mir wurde klar gemacht, dass ich lernen muss, Hilfe anzunehmen.
Es war ein Neustart – die Trauer war und ist natürlich noch da. Aber neue Möbel sind eben frei von Erinnerungen. Ich habe alles verkauft und es für die Kinder gemütlich gemacht – meine Kinder sind fröhlich geblieben. Mir war klar, ich muss mein Leben ändern, Dinge tun, die mir gut tun. Dann habe ich angefangen, in die Natur zu gehen. Das hat mir sehr geholfen. Bis zum Lockdown ging es mir besser, dann wurde es wieder hart.
Wieso?
Der erste Lockdown war für mich Freiheitsberaubung, ich bekam richtig Angst. Als mein Mann starb, hatte ich keine Zukunftsangst, mir war klar, dass ich es irgendwie schaffe. Aber beim Lockdown wurde ich zwangsweise eingesperrt, niemand wusste, wie lange es dauert. Wie erkläre ich das den Kindern? Mein Sohn ist durchgedreht, weil er nicht auf den Spielplatz darf. Er konnte das alles nicht verstehen. Auf den 2. Lockdown war ich dann schon besser vorbereitet. Ich bin vorher nochmal mit den Kindern schwimmen gegangen, war mit ihnen im Kino und habe Ausstellungen besucht. Und ich nutze die Zeit des Lockdowns, um mich für die Zukunft noch besser aufzustellen.
Was tun Sie?
Im Sommer hatte ich kaum Einkommen. Von der Pension allein kann ich nicht leben, will aber auf Dauer keine Abhängigkeit vom Amt. Darum habe ich die Zulassungsprüfung zur Kunst-Universität für bildnerische Erziehung gemacht und bestanden. Jetzt verbessere ich noch meine Sprachkompetenz, um die C1-Prüfung abzulegen und im September 2021 mit dem Studium zu beginnen. Mit meiner Kunst, einem fixen Job, der Selbstständigkeit bin ich hier sicher.
Geben Sie nie auf?
Natürlich habe ich auch depressive Phasen und ziehe mich zurück. Aber wenn ich `rausgehe, lache ich und sage, mir geht es gut. Es gibt immer noch Menschen, die Schlimmeres erlebt haben. Und die haben auch weitergelebt. Wichtig ist doch, dass meine Kinder gesund aufwachsen können. Man muss es wollen. Es braucht nicht viel Geld, es braucht die Lust zu leben. Ich darf im Gegensatz zu meinem Mann weiterleben und mit meinen Kindern Glück empfinden. Ich darf meine Kunst machen. Also geht es mir wirklich gut.
Siehe auch die weiteren Interviews mit "Menschen mit Mut":
Michael Fritsch
Keine Angst vor der Zukunft
NRhZ 761 vom 20.01.2021
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27238
Thomas Stimmel
Geist, Intellekt, Verstand, Vernunft
NRhZ 759 vom 18.12.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27169
Karl Hilz
Aktiv Politik und Demokratie mitgestalten!
NRhZ 758 vom 02.12.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27146
Patricia Philipp
Informieren, recherchieren und nachdenken
NRhZ 756 vom 04.11.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27096
Thomas Gauer (BewegWas)
Lifestreamen statt TV glotzen
NRhZ 755 vom 23.10.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27077
Online-Flyer Nr. 762 vom 24.02.2021
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Kultur und Wissen
Menschen mit Mut
Lust zu leben
Mariam Chikava – interviewt von Andrea Drescher
Mut der besonderen Art besitzt die 1983 in Georgien geborene Kunstpädagogin, Malerin, Architektin-Innenarchitektin und Schmuckdesignerin Mariam Chikava, die jahrelang als Kind im Krieg (über)leben musste. Mangel an Klopapier wirft sie nicht aus der Bahn, die Kriegserfahrung zeigt ihr, dass sie mit Schwierigkeiten fertig werden kann. Sie schafft es, immer positiv nach vorne zu schauen, und das mit lachendem Gesicht. Die verwitwete Mutter von zwei Kindern im Alter von drei und sechs lebt inzwischen in Linz und hat ihr Hobby Schmuck zum Beruf gemacht.
Mariam Chikava
Wo und wie haben Sie den Krieg erlebt?
Ich wurde 1983 in Tiflis geboren, meine Mutter war alleinerziehend. 1991, nach dem Ende der Sowjetunion, begann der Krieg. Zunächst für uns unmerklich, aber irgendwann erreichte der Bürgerkrieg auch die Stadt. Tiflis wurde bombardiert, Schulen zerstört, wir hatten immer Angst auf die Straße zu gehen. Schüsse auf Zivilisten waren Normalität, im Bus mussten wir uns bei Schießereien auf den Boden werfen. Ich wusste nie, was los war. Ich war ja nur ein Kind, kann mich aber erinnern, dass wir uns immer wieder verstecken mussten. Die Schule fiel immer wieder aus und wenn sie mal stattfand, saßen wir im Winter dort mit Jacken und Handschuhen, da die Fenster zerstört waren. Meistens blieben wir aber daheim. Das ging in etwa 5 Jahre lang so. Arbeit gab es keine. Strom, Heizung, Wasser fielen immer wieder aus. Das Wasser haben wir uns mit Kübeln vom Hofbrunnen geholt, aufgrund des fehlenden Stroms gab es keine Informationen aus dem Fernsehen. Irgendwann war der Krieg vorbei. Das Elend ging aber weiter.
Was passierte dann?
Es kamen viele einheimische Flüchtlinge in die Stadt. Rund 250.000 Menschen. Daher begann nach dem Krieg die Hungerzeit. Es wurde damals mehr für Flüchtlinge getan als für die Einheimischen. Es gab keine Arbeit, kein Arbeitslosengeld, keine Unterstützung für Familien. Wir standen stundenlang für Brot oder Zucker vor den Geschäften an – es hat nie für alle gereicht. Also standen wir auch mal um zwei Uhr nachts auf, um rechtzeitig in der Schlange zu stehen. Die Hungerzeit dauerte etwa solange, bis ich anfing zu studieren. Die Schulen und Universitäten hat man sehr schnell wieder aufgebaut. Ich erinnere mich, dass ich ca. ab dem 9. Schuljahr wieder in einer renovierten Schule lernen konnte. Mit dem Wechsel der Regierung kehrte langsam die Normalität wieder zurück, aber selbst heute herrscht immer noch eine hohe Arbeitslosigkeit.
Wie überlebt man in solch einer Situation?
In Georgien unterstützen sich die Familien untereinander, wohnen zusammen, alle helfen sich gegenseitig, wer kann, der arbeitet. Ich habe meine Bilder an ein Geschäft verkauft, um meinen Beitrag zu leisten. Während des Colleges und an der Hochschule musste ich als ausgezeichnete Studentin nichts zahlen. Nachdem mein Vater meine Bilder sah, kam erstmals auch von seiner Seite Unterstützung. Man kommt eben irgendwie durch, auch wenn es sehr hart ist.
Sind Sie deshalb nach Österreich gekommen?
Nein, nicht direkt. Man bot mir an, Deutsch zu lernen, um in Deutschland zu studieren. Nachdem ich mir ausreichend Sprachkenntnisse angeeignet hatte, bekam ich auch die Zulassung der Universität. Aber mit 20 – ohne Smartphone, Internet oder Messenger - war ich in Deutschland so isoliert, dass ich sehr großes Heimweh bekam. Ich wollte mein Studium in Georgien beenden und ging – nachdem ich ein bisschen Geld gespart hatte - 2006 zurück. In Tiflis habe ich neben meinem Studium erst als Schmuckdesignerin in einer Werkstatt gearbeitet und mich dann damit selbstständig gemacht.
Eine Zeitlang habe ich als Innendesignerin gearbeitet, aber dann kam 2008 wieder ein Krieg, das normale Leben und meine Möglichkeiten zu arbeiten waren wieder vorbei. Zwei Jahre war erneutes Chaos, das die Menschen enorm belastet hat – die Situation ist heute immer noch kritisch.
Wie haben Sie diesen Krieg wahrgenommen?
Deutlich bewusster als als Kind. Wir saßen zwei Wochen zuhause, gingen nie `raus. Ganz in der Nähe der Wohnung waren eine russischen Tankfabrik und eine Flugzeugfabrik, beide wurden bombardiert. Warum die Russen ihre eigenen Fabriken bombardiert haben, weiß ich nicht. Aber zwischen diesen beiden Fabriken leben zu müssen, war eigentlich das erste Mal, das mir richtig Angst machte. Wir haben immer „gewartet“, dass eine Bombe auf unser Haus fällt. Obwohl ich heute noch Bilder aus dem ersten Krieg im Kopf habe, hatte ich diese Zeit als weniger schlimm empfunden.
Dank meiner Arbeit konnte ich irgendwie überleben. Im Flughafen gab es ein Geschäft, das meine Schmuckstücke anbot. Menschen, die per Flugzeug aus Georgien flohen, wollten irgendetwas Schönes aus der Heimat mitnehmen. Auch Russen und EU-Ausländer waren begeistert und haben gekauft. In der Stadt selbst war Schmuck nicht interessant. Es herrschte tiefste Armut und die großen Firmen waren wegen des Krieges geschlossen, die kleinen Geschäfte waren ausgestorben. Das Leben in Georgien war unfassbar schwer geworden, was dazu führte, dass ich nach Österreich ging.
Wieso Österreich und nicht wieder Deutschland?
Ein guter Freund brachte mich 2009 auf die Idee, doch wieder ins Ausland zu gehen. Da ich schon 26 war, füllte ich die Formulare für Österreich aus, wo man bis 27 als Au Pair vermittelt wird. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich überhaupt etwas ergibt, aber auf einmal kam eine Anfrage und ich landete in Wallern in Oberösterreich.
Wollten Sie aufs Land?
Nein. Ich wollte eigentlich in eine Stadt, fand den Ort nicht mal auf der Karte und habe über Netz gefragt, wo er denn liegt. Aber da hatte ich das Visum schon beantragt, war extra dafür in die Türkei gefahren, also dachte ich mir, dann wechsele ich eben später die Familie – ich kann ja deutsch. Einer meiner Netzkontakte aus Wallern lud mich zum Kaffee ein - und wurde später meine Mann.
In Österreich begann ich mit Malerei, ohne Werkzeug war die Schmuckherstellung nicht möglich, und hatte nach kurzer Zeit meine erste Ausstellung in Ungarn, während ich noch als Au Pair- Mädchen arbeitete. Meinen zukünftigen Mann traf ich täglich – rein freundschaftlich. Erst bei der Fahrt nach Ungarn wurde mir klar, dass es Liebe ist. Sein Heiratsantrag war unkonventionell: Er hat mir ein türkises Kleid gekauft, den 24. Juli 2010 beim Standesamt fixiert und damit vollendete Tatsachen geschaffen. Dem konnte ich mich nicht entziehen – wir heirateten und ich blieb in Österreich.
2014 kam mein erstes Kind zur Welt und ich habe mich kurz nach der Karenz wieder selbstständig gemacht. Ich verkaufte meinen Schmuck und nahm an Ausstellungen und Kunstmärkten teil. Dank der Unterstützung meines Mannes klappte das auch nach der Geburt unseres Sohnes 2017 ganz gut. Aufgrund des Zusammenarbeit mit dem Bund sozialdemokratischer Akademiker_innen, Intellektueller und KünsterInnen BSA:ART wurde ich bekannter und konnte meine Kunst erfolgreich österreichweit präsentieren. Als mein Mann 2018 überraschend starb, brach meine Welt zusammen. In fünf Minuten verliert man alles. Ein Herzanfall und er war auf der Stelle tot. Selbst im schlimmsten Stress waren wir wie frisch verliebt gewesen. Bis zum letzten Moment – bis zur letzten Minute – kein SMS endete ohne „ich liebe dich“.
Wie haben Sie das bewältigt?
Zwei Wochen vorher hatten wir über das Sterben geredet. Er wollte kurz und schmerzlos sterben. Dass es für Angehörige eine Katastrophe ist, wusste er. Ohne mich wollte er nicht leben, aber ich sei stark genug, allein weiter zu machen. Er hatte zu viele Angehörige sterben sehen. Auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, wie es weiter geht, ich musste weiterleben – mein Sohn war 1,5, meine Tochter auch noch klein und ich in Karenz. Das erste halbe Jahr war ich im Schock – ohne Trauer, entweder hysterisch oder gefühllos – und bis auf die Kinder komplett allein.
Half Ihnen wenigstens die Familie weiter?
Nein. Von der Familie gab es kaum Hilfe. Für sie war es wohl ein Problem, dass ich als Ausländerin nicht nur Putzfrau blieb, sondern eine erfolgreiche Künstlerin mit großen Veranstaltungen war. Sie waren vermutlich einfach neidisch. Unterstützung kam von Freunden, seinen Arbeitskollegen und der BSA:Art. Alle seine früheren Mitarbeiter kamen zur Beerdigung, er hatte immer allen geholfen, egal ob Ausländer oder Inländer.
Nach der Beerdigung gab ich einen Malkurs in Narcobaleno – ich habe einfach gearbeitet. Ich wusste, ich muss etwas machen, um zu überleben. Die Konten meines Mannes waren gesperrt, ich erhielt keine Witwenpension, nur Karenzgeld, das reichte nicht für Wohnung, Auto, Versicherungen, Kindergarten und, und, und. … Dann kam erst meine Schwester, später meine Mutter aus Georgien zu Hilfe und ich war nicht mehr ganz allein.
Haben Sie mit dem Gedanken gespielt, nach Georgien zurück zu gehen?
Ja. Ich habe mir überlegt, es auszuprobieren – für fünf Wochen. Ich wusste nicht, ob ich es schaffe, nach 9 Jahren Österreich zurückzukehren, und wie die Kinder damit klarkommen. Sie sind Österreicher, kannten das Land kaum. Mir wurde schnell klar, ich will zurück nach Österreich, die Kinder wollten zurück zu ihren Freunden und ich wollte meinen Mann nicht zurücklassen. Ich wollte den Kindern nicht alles wegnehmen: Papa, Land, Freunde. Also entschied ich mich zu bleiben und endlich auch die Staatsbürgerschaft zu beantragen. Seit Februar 2020 habe ich den österreichischen Pass.
Wie ging es dann weiter?
Ich habe mir eine günstige Wohnung gesucht, ein Freund half mir beim Umzug der großen Möbel. Mit dem Einkommen aus der Witwen- und Halbwaisenpension sowie meiner Selbstständigkeit kamen wir irgendwie durch, speziell nachdem ich mein Auto verkauft hatte. Wir leben sparsam. Ich wollte alles möglichst alleine schaffen, aber mir wurde klar gemacht, dass ich lernen muss, Hilfe anzunehmen.
Es war ein Neustart – die Trauer war und ist natürlich noch da. Aber neue Möbel sind eben frei von Erinnerungen. Ich habe alles verkauft und es für die Kinder gemütlich gemacht – meine Kinder sind fröhlich geblieben. Mir war klar, ich muss mein Leben ändern, Dinge tun, die mir gut tun. Dann habe ich angefangen, in die Natur zu gehen. Das hat mir sehr geholfen. Bis zum Lockdown ging es mir besser, dann wurde es wieder hart.
Wieso?
Der erste Lockdown war für mich Freiheitsberaubung, ich bekam richtig Angst. Als mein Mann starb, hatte ich keine Zukunftsangst, mir war klar, dass ich es irgendwie schaffe. Aber beim Lockdown wurde ich zwangsweise eingesperrt, niemand wusste, wie lange es dauert. Wie erkläre ich das den Kindern? Mein Sohn ist durchgedreht, weil er nicht auf den Spielplatz darf. Er konnte das alles nicht verstehen. Auf den 2. Lockdown war ich dann schon besser vorbereitet. Ich bin vorher nochmal mit den Kindern schwimmen gegangen, war mit ihnen im Kino und habe Ausstellungen besucht. Und ich nutze die Zeit des Lockdowns, um mich für die Zukunft noch besser aufzustellen.
Was tun Sie?
Im Sommer hatte ich kaum Einkommen. Von der Pension allein kann ich nicht leben, will aber auf Dauer keine Abhängigkeit vom Amt. Darum habe ich die Zulassungsprüfung zur Kunst-Universität für bildnerische Erziehung gemacht und bestanden. Jetzt verbessere ich noch meine Sprachkompetenz, um die C1-Prüfung abzulegen und im September 2021 mit dem Studium zu beginnen. Mit meiner Kunst, einem fixen Job, der Selbstständigkeit bin ich hier sicher.
Geben Sie nie auf?
Natürlich habe ich auch depressive Phasen und ziehe mich zurück. Aber wenn ich `rausgehe, lache ich und sage, mir geht es gut. Es gibt immer noch Menschen, die Schlimmeres erlebt haben. Und die haben auch weitergelebt. Wichtig ist doch, dass meine Kinder gesund aufwachsen können. Man muss es wollen. Es braucht nicht viel Geld, es braucht die Lust zu leben. Ich darf im Gegensatz zu meinem Mann weiterleben und mit meinen Kindern Glück empfinden. Ich darf meine Kunst machen. Also geht es mir wirklich gut.
Siehe auch die weiteren Interviews mit "Menschen mit Mut":
Michael Fritsch
Keine Angst vor der Zukunft
NRhZ 761 vom 20.01.2021
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27238
Thomas Stimmel
Geist, Intellekt, Verstand, Vernunft
NRhZ 759 vom 18.12.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27169
Karl Hilz
Aktiv Politik und Demokratie mitgestalten!
NRhZ 758 vom 02.12.2020
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27146
Patricia Philipp
Informieren, recherchieren und nachdenken
NRhZ 756 vom 04.11.2020
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Lifestreamen statt TV glotzen
NRhZ 755 vom 23.10.2020
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