NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 27. Dezember 2024  

zurück  
Druckversion

Literatur
Aus dem Sammelband "Herrschaft der Angst"
Wolf Wetzel: Die endlose Geschichte der Ausnahmezustände
Buchempfehlung von Afsane Bahar

Die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen werden durch ihr Menschen- und Weltbild beeinflusst. Nach meinem Menschenbild handelt es sich bei den Menschen um soziale Wesen mit dem tiefen Grundbedürfnis nach Nähe und Wärme [1]. Und meinem Weltbild nach ist das gemeinschaftliche Leid nur gemeinsam zu behandeln [2]. Diese Gegebenheit spielt im Umgang mit der fortwährenden Corona-Misere eine entscheidende Rolle. 2020 gaben Hannes Hofbauer und Stefan Kraft das informative Buch „Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern“ heraus [3]. Jetzt ist ihr Sammelband „Herrschaft der Angst. Von der Bedrohung zum Ausnahmezustand“ mit Texten von Diether Dehm, Rainer Fischbach, Farid Hafez, Joachim Hirsch, Michael Meyen, Imad Mustafa, Norman Paech, Dieter Reinisch, Karl Reitter, Birgit Sauer, Christian Schubert, Marlene Streeruwitz, Wolf Wetzel, Maria Wölflingseder und Moshe Zuckermann erschienen [4].
    „Die Machtausübung unserer Tage basiert auf mehreren Säulen. Noch immer scheint jene Definition zu gelten, mit der Antonio Gramsci vor bald 100 Jahren den (bürgerlichen) Staat beschrieb: „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Die jeweiligen Regierenden erkaufen die Akzeptanz zu ihrer Politik mit materiellen Zugeständnissen – so dies ökonomisch möglich ist. Parallel dazu betreiben sie eine Herrschaftstechnik, die immer offener zutage tritt: die Erzeugung von Angst. Dies ermöglicht dem Staat stärkere Befugnisse und lenkt die Aufmerksamkeit der Menschen auf das jeweilige Drohszenario.

    Die vermittelten Gefahren haben reale Ausgangspunkte und reichen von Terroranschlägen bis zur Ausbreitung von Viren. Dem Liberalismus ist das Autoritäre inhärent und er nutzt Bedrohungen, um die Kontrolle des sozialen Lebens auszuweiten und die demokratische Teilhabe weiter einzuschränken. Das Motto der Maßnahmen, seien es zunehmende Überwachung, Anti-Terrorgesetzgebung, Austeritätsregime, Ausgangssperren oder Lockdowns, lautet: Es gibt keine Alternative. Medien transportieren und verstärken diese Botschaft und sorgen dafür, dass die von oben verbreitete Angst nach unten in alle gesellschaftlichen Bereiche durchsickert, sodass Menschen dazu übergehen, sich gegenseitig unter Druck zu setzen, um den politischen Vorgaben Folge zu leisten.

    Der Sammelband „Herrschaft der Angst“ setzt sich mit historischen Beispielen und Auswirkungen dieser – im Zuge der sogenannten Corona-Krise verstärkten – Strategie auseinander. Von den Notstandsverordnungen in der BRD der 1970er-Jahre über das Beispiel der israelischen Politik der Furcht bis zur Islamophobie und den Pandemie-Verordnungen reicht der Bogen der Beiträge. Dazu werden auch kulturelle und psychologische Folgen der Herrschaft durch Angst in den Blick genommen, die wiederum in negativer Weise auf die Gesellschaft zurückwirken.

    Ein emanzipatorischer Aufbruch ist dringend notwendig. Dafür ist eine Kritik an der verordneten Angst unerlässlich.“
Wolf Wetzel [5] beschäftigt sich in dem Kapitel „Die endlose Geschichte der Ausnahmezustände (in Deutschland)“ mit den entsprechenden Gesetzen und Verordnungen in der neueren deutschen Geschichte.
    „Ausnahmezustände sind in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht neu. Trotz recht unterschiedlicher Anlässe haben sie eine gemeinsame Handschrift und helfen wilde Spekulationen darüber einzudämmen, was alles davon bleibt, selbst wenn sich niemand mehr an den eigentlichen Anlass erinnert.

    Wir werden in der Folge sehen, dass alle Anlässe zu der jeweiligen Zeit sehr viele Menschen in Angst und Schrecken versetzen konnten. Je mehr Menschen diesen Angstzustand teilen, je eher sind sie bereit, die zu ihrem angeblichen Schutz notwendigen Maßnahmen zu akzeptieren. In der jeweiligen von Angst geprägten Situation ist es immer schwer, kühlen Kopf zu bewahren, ganz ruhig und umsichtig die Frage zu beantworten, ob die Maßnahmen »angemessen« sind, ob das Versprechen, uns zu helfen, zu beschützen, gehalten oder gebrochen wurde.

    Es ist daher hilfreich, wenn man auf die verschiedenen Ausnahmezustände zurückblickt. In der Regel hat man retroperspektiv weitaus mehr Informationen darüber, was einem im Zustand des Schreckens verborgen geblieben ist. Und ein Zweites ist ganz wichtig: Rückblickend kann man sehr sicher sagen und beurteilen, ob die Maßnahmen tatsächlich der Gefahrenlage galten oder ob diese vor allem dazu genutzt wurden, bestimmte Ziele zu verfolgen, die mit dem Anlass nichts zu tun hatten.

    Für die Einschätzung, wohin Ausnahmezustände führen (können), ist keine Fantasie gefragt. Auch Zukunftsforscher sind hier überflüssig. Ein Blick zurück genügt: Die Weimarer Republik (1918-1933) kann man mit Fug und Recht als Kornkammer von Not(stands-)verordnungen bezeichnen. Dort lässt sich in allen Nuancen und Facetten studieren, worauf sie zusteuern: Ausnahmezustände schützen nicht die Demokratie, sondern ebnen den Weg dafür, sie ganz »legal« abzuschaffen.“
Weiterhin schreibt er:
    „Es gab und gibt Ausnahmezustände, die in das Leben aller eingriffen bzw. eingreifen: Das gilt für das Republikschutzgesetz (1922), für das Ermächtigungsgesetz (1933) und genauso für das Infektionsschutzgesetz (2020).

    Anders sieht es bei den Antiterrorgesetzen in den 1970er-Jahren und in Folge von 9/11 aus: Im ersten Fall waren meist nur Linke betroffen oder jene, die man für Sympathisanten hielt. Der Kreis der Betroffenen war also überschaubar. Wer kein Linker war, hatte im Normalfall nichts zu befürchten, hat kaum etwas bemerkt. An dessen Alltag änderte sich nicht viel.

    Das Infektionsschutzgesetz 2020 hingegen ist in vielerlei Hinsicht besonders: Es hat ein Ziel, das alle vorbehaltlos begrüßen: den Schutz unserer Gesundheit, unseres Lebens, ein geradezu rührendes Anliegen. Und es trifft nicht eine bestimmte, eingrenzbare Gruppe, sondern die ganze Bevölkerung, alle, auch wenn die Einschränkungen und Verbote auf sehr unterschiedliche Lebenswirklichkeiten stoßen.“
Wolf Wetzel beschäftigt sich ausführlich mit der diesbezüglichen Entwicklung in der Weimarer Republik und stellt fest:
    „Schaut man – ausschnittsweise – auf diese Geschichte der Notverordnungen und Ausnahmezustände zurück, so lässt sich ganz sicher eines resümieren: Die bürgerlichen Parteien, einschließlich der SPD, taten alles, um diese Verfassung in einem Maße zu demolieren, dass es nur noch ein kleiner Schritt war, sie zu verschrotten. Die Verfassungsfeinde saßen von Anfang an in der Regierung. […]

    […] Dass nun die NSDAP an der Reihe war, den zweiten gemeinsamen Feind von bürgerlichen und faschistischen Kreisen auszuschalten, die Weimarer Verfassung, ergab sich von selbst. Alle hatten sich längst daran gewöhnt, dass die Weimarer Verfassung eigentlich kaum noch zählte:

    Der Gedanke, die Reichsregierung für eine bestimmte Frist zu ermächtigen, Rechtsvorschriften mit Gesetzeskraft zu erlassen, war daher der neueren deutschen Verfassungsentwicklung nicht fremd. In der Lage des Winters 1932/33 bedeutete die Vergebung solcher Ermächtigungen an die Exekutive auch deswegen nichts Außerordentliches mehr, weil der parlamentarische Gesetzgeber ohnehin durch die Notverordnungspraxis in den Hintergrund getreten war. Im Jahre 1930 waren noch 98 Reichstagsgesetze verabschiedet worden. 1931 wurden bereits 42 Notverordnungen des Reichspräsidenten erlassen gegenüber 34 Reichstagsgesetzen; 1932 ergingen 60 Notverordnungen, aber nur fünf Reichstagsgesetze. […]

    […] Die NSDAP ging bei der Vorstellung des Ermächtigungsgesetzes geschickt vor, nutzte den Gewöhnungseffekt und lehnte sich in der Wortwahl an das Vorbild aus dem Jahre 1923 an. Dennoch gibt es deutliche Unterschiede: »Die grundlegende Verschiedenheit zeigte sich in folgenden Punkten: Die Reichsregierung wurde ermächtigt, nicht bloß ›Verordnungen‹ zu erlassen, sie sollte sogar ›Gesetze‹ beschließen, und zwar auch solche, die von der Reichsverfassung von 1919 abwichen, das bedeutete: ihnen sollte, verglichen mit den einfachen Reichstagsgesetzen, erhöhte Durchschlagskraft zukommen. Der Reichstag sollte ferner seine Befugnis, völkerrechtlichen Verträgen zuzustimmen, den Reichshaushalt zu verabschieden und Kreditaufnahmen zu genehmigen, preisgeben.«“
Und welche Lehren wurden aus der verbrecherischen Herrschaft der Nationalsozialisten nach dem zweiten Weltkrieg gezogen?
    „Kaum war das »Dritte«, das »Tausendjährige Reich« vorzeitig zu Ende, dachten die bürgerlichen Parteien Nachkriegsdeutschlands daran, die verfassungsrechtlich garantierten Rechte zu suspendieren, wenn die Regierung in Not gerät – und dabei Schutzrechte nur eine Last sind.

    Es sei erwähnt, dass die bürgerlichen Parteien über die Notwendigkeit von Notstandsgesetzen diskutierten, als es nicht den Hauch einer Bedrohung gab, die nicht mit dem bestehenden Gewaltmonopol und den vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten hätte bewältigt werden können. Man dachte am Anfang der Beratungen gerade anders herum: Wenn alle mitmachen, ganz vom »Wirtschaftswunder« geblendet sind, dann interessieren sie sich nicht für Gesetze, die eine Rebellion niederschlagen sollen, an die die meisten nicht einmal im Traum denken.

    Nach jahrelangen Beratungen war sich die Große Koalition aus CSU/CDU und SPD am 30. Mai 1968 einig: »Im Fall eines inneren oder äußeren Notstands kann seither ein ›Notparlament‹ als Ersatz für Bundestag und Bundesrat zusammentreten. (…) Die Bundeswehr darf außerdem zur ›Bekämpfung militärisch bewaffneter Aufständischer‹ – also auch gegen die eigene Bevölkerung – eingesetzt werden. Darüber hinaus können die Grundrechte jedes Einzelnen bei einem Ausnahmezustand beschnitten werden: Insbesondere das in Artikel 10 des Grundgesetzes garantierte Post- und Fernmeldegeheimnis ist davon betroffen.« […]

    […] Mit einer deutlichen Zwei-Drittel-Mehrheit stimmten am 30. Mai 1968 die Abgeordneten für die Notstandsgesetze – also auch mit vielen Stimmen der SPD. Die Haltung der SPD, an der sich bis heute nichts geändert hat, brachte Willy Brandt auf den Punkt: »Der Sozialdemokrat bezeichnete die Notstandsgesetze als ›erforderliche Vorsorgegesetzgebung‹, bei der man nur über das ›Wie‹, nicht über das ›Ob‹ streiten könne.«“
1977 ging es dann mit weiteren Einschränkungen der Grundrechte weiter:
    „Anlass für weitreichende Einschränkungen der Grundrechte im Herbst 1977 waren die Anschläge der RAF (Rote Armee Fraktion), die mit ihrem bewaffneten Kampf auch auf führende Köpfe in Regierung und Wirtschaft zielte. Die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und seine Ermordung am 18. Oktober 1977, nachdem die Forderungen nicht erfüllt wurden, waren der Anlass für das, was man später als »Deutschen Herbst« bezeichnete.

    Unter dem Sozialdemokraten und Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde ein Krisenstab eingerichtet, der überparteilich fast alles vereinte: Exekutive, Legislative und Judikative. Nicht ganz unbegründet bekam diese Art der Krisenbewältigung den Namen »Krisenstab-Diktatur«.

    Damit wurde das Grundgesetz gebrochen, das man eigentlich zu verteidigen vorgab: »Um Schmidts Handeln abzusichern, schuf die damalige Bundesregierung zwei Exekutivorgane, die von der Verfassung nicht vorgesehen und insofern weder legal noch legitim waren: Den kleinen und den großen Krisenstab, in denen während der Schleyer-Entführung alle Entscheidungen getroffen wurden.«

    Ziel war es nicht nur, mit allen Mitteln die RAF zu schlagen. Es ging sehr augenscheinlich auch und gerade darum, jede Form der Fundamentalopposition zu schwächen und gezielt zu kriminalisieren.

    Die Grenze war klar gezogen: Wer den Kapitalismus besser/gerechter/schöner machen will, ist willkommen. Wer hingegen den Kapitalismus als Gesellschaftssystem grundsätzlich ablehnt, weil jeder hierzulande »gezähmte« Kapitalismus mörderische Bedingungen woanders einschließt, sollte zum Schweigen gebracht werden.“
Massive Umwälzungen erfolgten nach den Ereignissen vom 11.9.2001:
    „»Nine-eleven« steht für den Terroranschlag in den USA im Jahr 2001. Der Islamismus wurde in der Folge zum neuen Staatsfeind Nr. 1, zu dessen Bekämpfung Folter, Krieg, geheime Foltergefängnisse und verdeckte Kriegshandlungen erlaubt waren.

    Dazu zählt auch der de facto permanente Kriegszustand der NATO (mithilfe ständiger Verlängerungen des Beistandsfalles), bei gleichzeitiger Ausweitung von Kriegshandlungen, die keinen Verteidigungsfall zur Grundlage haben (wie zum Beispiel der Einsatz von Killer-Drohnen). Und nicht zu vergessen die grenzüberschreitende Totalüberwachung, die der Ex-NSA-Mitarbeiter Edward Snowden aufgedeckt hat und die das Magazin Der Spiegel einmal treffend als »Die Weltherrschaft der Spitzel« bezeichnete.

    In Deutschland nutzte der Sozialdemokrat und Innenminister Otto Schily im Anschluss an den Terroranschlag die Gunst der Stunde, um den »Otto-Katalog I und II« zu schnüren und durchs windelweiche Parlament zu peitschen.

    Dazu schreibt Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist und seit 2003 Präsident der »Internationalen Liga für Menschenrechte«:

    Die »Antiterrorgesetze« von 2002 sind die umfangreichsten Sicherheitsgesetze, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind – ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die bereits geltenden Gesetze zur Bewältigung der Gefahren ausgereicht hätten. Schließlich gab es längst ein ausdifferenziertes System von »Antiterrorregelungen« mit zahlreichen Sondereingriffsbefugnissen für Polizei, Justiz und Geheimdienste. (…) Künftig sollen die Geheimdienste noch mehr Befugnisse bekommen und hochsensible Auskünfte bei Banken, Flug- und Telekommunikationsunternehmen nicht nur zur Terrorabwehr abfragen dürfen, sondern auch schon zur Aufklärung verfassungsfeindlicher Bestrebungen im Inland, sofern diese einen Gewaltbezug haben oder die Bereitschaft zu Gewalt erkennen lassen oder fördern könnten. Eigenhändige Gewaltanwendung ist nicht erforderlich – womöglich könnten schon Demonstrationsaufrufe gegen Neonazis oder Castortransporte genügen. Mit dem ursprünglichen Zweck der Terrorabwehr hat diese Ausweitung nur noch wenig zu tun; aus geheimdienstlichen Antiterrorinstrumenten mit Ausnahmecharakter werden so Regelbefugnisse des Alltags zur erweiterten »Vorfelderfassung«. (…) Der »Antiterrorkampf« hat sich als ein enormes Umgestaltungsprogramm herausgestellt – ein Programm der Demontage des Völkerrechts, der Menschen- und Bürgerrechte und des demokratischen Rechtsstaats.“[…]

    […] Als man die zahlreichen, über 30 Gesetzesverschärfungen im deutschen Bundestag 2001/2002 verabschiedete, tat man dies angesichts einer außergewöhnlichen Situation. Bereits damals wusste kaum jemand, was alles mit den Gesetzesverschärfungen zum Tragen kommt und ob sie im Detail tatsächlich den Islamismus bekämpfen helfen. […]

    […] Unter dem Eindruck, dass die Welt im Wanken ist, hat man im Deutschen Bundestag zugestimmt und den wenigen mahnenden Stimmen insoweit Rechnung getragen, dass man diese Verschärfungen befristet hat. Nach fünf Jahren sollte geprüft werden, ob die Gesetzesänderungen tatsächlich ihren Zweck erfüllen, um sie gegebenenfalls rückgängig zu machen.

    Was ist dann im Überprüfungsjahr 2007 passiert? Nichts – oder doch: »Durch die Einführung des ›Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes‹ im Januar 2007 wurden sie dann jedoch verlängert und inhaltlich erweitert.«“
Auf die aktuelle Corona-Misere eingehend stellt der Autor fest:
    „Wenn man auf frühere Ausnahmezustände oder Notverordnungen verweist, dann geht es überhaupt nicht darum, die gesellschaftlichen Umstände außer Acht zu lassen, in denen sie jeweils wirkten. Es geht hier also nicht darum, dass sich ein 1933 wiederholt. Niemals wiederholen sich solch epochalen Ereignisse auf dieselbe Weise. Aber es gibt Lehren, die eine Linke daraus ziehen kann. Dazu gehört die Einsicht, dass durch Anpassung Schlimmeres nicht vermieden wird. […]

    […] Die Auseinandersetzung mit zurückliegenden Ausnahmezuständen würde es ermöglichen, an einen anderen zentralen Punkt von Notzuständen heranzukommen: Die Instrumentalisierung eines Anlasses. Immer, wenn wir Angst um unser Leben, um unser bisheriges Leben haben, suchen wir Schutz, und sind schnell bereit, »Opfer zu bringen«. Das machen alle Menschen. Wer aber den Neoliberalismus, die Ich-AG-Mentalität dieser Gesellschaft kritisiert, sollte das kollektive Gedächtnis bemühen, um mit der eigenen Angst ein wenig kollektiver umzugehen, als das gewollt und erwünscht ist. […]

    […] Man muss der gegenwärtigen Regierung nicht das Schlimmste unterstellen. Es reicht, sich ganz sicher darin zu sein, dass diese Gesetze einen Weg ebnen, der einen Putsch überflüssig macht, der einen Regimewechsel in Anwendung dieser »Ermächtigungsgesetze« möglich macht. Dass die Brücke dorthin nicht unbedingt diejenigen begehen, die sie gebaut haben, belegt die Geschichte der Notverordnungen und der Ermächtigungsgesetze.

    Es gibt gute und sehr verständliche Gründe, das alles als ganz fernes Donnergrollen abzutun. Ich möchte uns alle fragen: Wer hätte vor zwei, drei Jahren vorhersagen wollen, dass wir uns sehr bald mit all dem abfinden, was die Corona-Maßnahmen erzwingen? Und wer wollte orakeln, dass selbst ganz vernünftige Menschen, vielleicht sogar aufgeklärte Linke dabei sein werden, Widerspruch und Ablehnung (gegen die Corona-Maßnahmen) auf eine Weise zu verfolgen und zu denunzieren, die jener staatsautoritären Gesinnung sehr nahekommt, gegen die man in den 1960er- und 1970er-Jahren aufbegehrt hatte.

    Und ein letztes, bitteres Wort: Wenn man Solidarität in den Mund nimmt und damit die Regierungsformel: Wir stehen das gemeinsam durch absegnet, dann verschleiert man Herrschaftsverhältnisse, anstatt sie offenzulegen. Es geht ganz und gar nicht darum, die Kosten der Krise auf alle gerecht zu verteilen, denn eine Krise unter kapitalistischen Bedingungen sorgt nicht für Ausgleich oder gar (mehr) Gerechtigkeit, sondern für deren Verschärfung und Zuspitzung.

    Eine Linke, die angesichts des drohenden Schlimmeren den Jetztzustand hinnimmt (und gar verteidigt), macht sich selbst überflüssig. Es kann und muss darum gehen, im Jetztzustand das lebendig, sichtbar und greifbar zu machen, was dem Jetzt eine Alternative entgegensetzt und so dem Schlimmeren den Weg abschneidet.“
Das Erzeugen von Angst- und Panik unter dem Deckmantel des Gesundheitsschutzes wird nicht der letzte Zug der Herrschenden zur Einschränkung der Grundrechte sein. Der entsprechende Missbrauch des Klimaschutzes ist gegenwärtig voll im Gange [6]. Die Lektüre der Ausführungen von Wolf Wetzel ist zur besseren Orientierung in der anhaltenden Corona-Misere besonders hilfreich.


Mit freundlicher Genehmigung des Promedia-Verlags wird das Kapitel „Die endlose Geschichte der Ausnahmezustände (in Deutschland)“ (Seite 25 bis 57 in der ersten Auflage des Sammelbands) als PDF-Datei hier veröffentlicht.



Quellenangaben:

[1] https://afsaneyebahar.com/2020/10/08/20690388/
[2] https://afsaneyebahar.com/2021/03/03/20691380/
[3] https://mediashop.at/buecher/lockdown-2020/
[4] https://mediashop.at/buecher/herrschaft-der-angst/
[5] https://wolfwetzel.wordpress.com/about/

[6] Lockdown bald auch fürs Klima – die wahre Tragweite des Karlsruher Beschlusses. Grundgesetze nur noch unter Klima-Vorbehalt
Von Dirk Maxeiner
30.4.2021
https://reitschuster.de/post/bundesverfassungsgericht-grundrechte-jetzt-nur-noch-unter-klima-vorbehalt/


Hofbauer, Hannes / Kraft, Stefan: "Herrschaft der Angst. Von der Bedrohung zum Ausnahmezustand"



Promedia, Wien 2021, 320 Seiten, 22 Euro, mit Texten von Wolf Wetzel, Marlene Streeruwitz, Moshe Zuckermann, Norman Paech, Rainer Fischbach, Birgit Sauer, Farid Hafez, Michael Meyen, Diether Dehm, Joachim Hirsch, Maria Wölflingseder, Imad Mustafa, Dieter Reinisch, Karl Reitter und Christian Schubert

Online-Flyer Nr. 767  vom 05.05.2021

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FILMCLIP



Video von Georg Maria Vormschlag
FOTOGALERIE