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Der Versuch einer Analyse: Das Beispiel Algerien
Kolonialmacht vertrieben – Kolonialismus beendet?
Von Markus und Eva Heizmann (Bündnis gegen Krieg, Basel)
Algerien ist ein vom Imperialismus angegriffenes Land. Zwar wird der Maghreb-Staat nicht direkt militärisch attackiert, der Medienkrieg gegen die algerische Regierung ist jedoch in vollem Gang. Von einer «Militärdiktatur» ist die Rede und von einem «Volk, das für seine Freiheit auf die Strasse geht». All das kommt uns seltsam bekannt vor: Analogien zu Jugoslawien, zu Syrien und zu anderen inszenierten «Regenbogenrevolten» fallen uns ein. Auch werden über die Grenzen Algeriens Terroristen ins Land eingeschleust, mit dem Zweck zu destabilisieren.
Ein kurzer Blick in die Geschichte Algeriens
Ursprünglich war das Gebiet des heutigen Algerien von größtenteils nomadischen Volksstämmen bewohnt, namentlich von den Tuareg. Vom 12. Jahrhundert v. Chr. an errichteten die Phönizier an der Küste Handelsstützpunkte und gründeten 814 v. Chr. die Handelsstadt Karthago im heutigen Tunesien. Schon damals war Nordafrika Ziel der europäischen Aggressionen. Berühmt wurde der Ausspruch von Cato dem Älteren (234–149 v. Chr.) im römischen Senat: «Ceterum censeo Carthaginem esse delendam». (1)
Um die Mitte des 7. Jahrhunderts wurde der Maghreb – und damit auch das heutige Algerien – teil des arabischen Weltreiches unter den Kalifen. Nach der so genannten «Reconquista», in Tat und Wahrheit eine europäische Aggression der spanischen Krone gegen al Andalus, flohen zahlreiche BewohnerInnen Andalusiens vor den Spaniern nach Nordafrika, ins heutige Marokko, Tunesien und nach Algerien.
Bereits Anfang des 16. Jahrhunderts versuchten die Spanier auch, an der algerischen Küste Fuss zu fassen. Das Land fiel jedoch 1519 unter die Oberhoheit der Osmanen. Algerien wurde so zu einer Provinz des osmanischen Reiches. Es blieb bis 1830 unter Osmanischer Hoheit, war jedoch ab 1711 faktisch unabhängig. Bis ins 19. Jahrhundert konnte sich Algerien gegen die Aggressionen der Spanier, Niederländer, Briten und Franzosen erfolgreich zur Wehr setzen.
Die Geschichte mit dem Fliegenwedel
Wie dies auch heute der Fall ist, versuchten auch schon damals die Aggressoren ihre Raubzüge vor ihrer eigenen Bevölkerung mit Euphemismen und Lügen zu rechtfertigen. Im Fall Algeriens diente ihnen dazu die Geschichte mit dem Fliegenwedel.
Zur Finanzierung seines Italienfeldzugs hatte sich Napoléon 1796 die damals enorme Summe von einer Million Francs über das in Paris ansässige Handelsunternehmen Bacri und Busnach geliehen. Diese Unternehmer waren gebürtige Algerier. Die Schuld sollte nun endlich getilgt werden. Nach Napoleons Abdankung forderten die algerischen Gläubiger diese Summe wiederholt von Frankreich zurück, allerdings weigerten sich sowohl Ludwig XVIII. als auch Karl X., die Schuld zurückzuzahlen. Am 29. April 1827 gab Dey (2) Hussein einen Empfang aus Anlass des Ramadan, zu dem auch der französische Konsul Pierre Deval erschien. Dey Hussein sprach den Konsul auf die horrenden Schulden an und verlangte einen Grund für die ablehnende Haltung der französischen Regierung. Deval entgegnete daraufhin, „dass seine Regierung auf keinen Fall antworten würde, weil sie das für unnütz hielte“. Auf diesen Affront hin versetzte Dey Hussein dem Konsul drei Schläge mit seinem Fliegenwedel und wies ihn aus dem Gebäude. Schon damals wurde vermutet, dass der französische Konsul diesen diplomatischen Skandal gezielt inszeniert habe, um den Franzosen einen Grund für spätere militärische Aggressionen zu liefern. (3) Ab dem Jahr 1830 begann die kriegerische Aggression Frankreichs gegen Algerien und damit die Kolonialisierung des Landes. Das Land sollte zu einer Art «kolonialer Vorzeigeprovinz» gemacht werden. Spätestens ab 1870 galt Algerien für die Europäer als integraler Bestandteil des französischen Staatsterritoriums. Dem Norden des Landes wurden nach französischem Vorbild Departemente aufgezwungen. In diesen wurden auch Stadt- und Regionalräte sowie Abgeordnete für die Abgeordnetenkammern in Paris gewählt. Bei diesen Wahlen hatte die algerische Bevölkerung keinerlei Mitsprache. Algerien war – neben Südafrika – die größte europäische Siedlerkolonie Afrikas. 1954 befanden sich fast eine Million Europäer im Land. Sie beherrschten die exportierten staatlichen Güter. Ebenso wie die Buren in Südafrika praktizierten auch in Algerien die französischen Rassisten eine radikale Apartheid Politik gegenüber der algerischen Bevölkerung. Der von Beginn an aktive Widerstand des algerischen Volkes gegen die Besatzung hatte Signalwirkung für die spätere Dekolonisation aller afrikanischen Völker.
Der Widerstandskampf der FLN
Der Widerstandskampf gegen die französische Besatzung war von Beginn an aktiv. Militärisch strukturiert und gesellschaftlich breit verankert wurde dieser Kampf jedoch ab 1954 mit der Gründung der FLN. (Front de Libération Nationale)
Bis zum heutigen Tag betont Frankreich gerne, dass «Algerien am 5. Juli 1962 in die Unabhängigkeit entlassen wurde». Das ist eine Lüge. Am 5. Juni 1962 wurde von den KämpferInnen der FLN die Unabhängigkeit Algeriens ausgerufen. Dieser Unabhängigkeit waren 124 Jahre Widerstand gegen die französische Ausbeutung, Unterdrückung, Genozid und 8 Jahre Befreiungskrieg unter Führung der FLN voraus gegangen. Allein dieser Befreiungskrieg, den Frankreich niemals als Krieg bezeichnete, kostete nach konservativen Schätzungen 1.5 Millionen Menschen in Algerien das Leben, ca. 25.000 französische Soldaten kamen bei den Kämpfen in Algerien ums Leben. Mit diesen Zahlen wird jedoch nur ein Buchteil der französischen Verbrechen in Algerien benannt. Nicht erwähnt werden die französischen Konzentrationslager, die überall im Land errichtet wurden. Nicht erwähnt wird die unmenschliche Folter an Millionen von algerischen BürgerInnen. Nicht erwähnt werden die französischen neo-kolonialen Ambitionen, nicht nur auf Algerien, sondern auf weite Teile des afrikanischen Kontinents. Nicht erwähnt werden die französischen Atombombentests auf algerischem Territorium an deren Folgen die Menschen in Algerien bis zum heutigen Tag leiden. In den betroffenen Gebieten Algeriens werden bis zum heutigen Tagen Kinder mit schlimmsten Missbildungen geboren. All dies war keiner französischen Regierung – bis hin zu Emanuel Macron – keine Silbe einer Entschuldigung, geschweige denn eine materielle Wiedergutmachung wert.
Im Gegenteil benimmt sich der französische Staat noch immer als «grande nation» und meint sich arrogant in die Belange anderer Länder, zum Beispiel in Mali oder in Syrien, einmischen zu dürfen.
Konzentrationslager
Die Konzentrationslager sind beileibe keine alleinige Erfindung der deutschen Faschisten unter der NSDAP. Bereits unter der Herrschaft von Kaiser Wilhelm II errichtete die damalige deutsche Besatzungsmacht in Namibia Konzentrationslager. An der Bevölkerung der Herero wurde ein regelrechter Genozid angerichtet. Auch dieses Kapitel der (deutschen) Kolonialgeschichte ist nicht aufgearbeitet.
In Algerien und in anderen von ihnen heimgesuchten Kolonien in Afrika und Asien scheuten auch die Franzosen nicht vor der Errichtung und Betreibung von Konzentrationslagern zurück. In diesen wurden die Gefangenen systematisch gedemütigt, gefoltert und ermordet.
Folter
Systematische Folter, das Verschwinden-lassen und die Ermordung von Menschen gehörten zum Alltag der französischen Besatzer in Algerien. In der Zwischenzeit erscheinen zahlreiche Artikel zur systematischen Folter der französischen Besatzer in Algerien. (4) Das ist wohlfeil und es kostet nichts. Denn wenn noch lebende Folterknechte oder diejenigen, welche Folter angeordnet haben, identifiziert werden sollten, haben sie nichts zu befürchten: Der 14. Art. 1 des Amnestiegesetzes Nr. 68-697 vom 31. Juli 1968 (JORF vom 2. August 1968, S. 7521), der zu Titel I („Generalamnestie für alle Straftaten im Zusammenhang mit den Ereignissen in Algerien“) dieses Gesetzes, bestimmt: «Alle Straftaten, die im Zusammenhang mit den Ereignissen in Algerien begangen wurden, sind von Rechts wegen amnestiert. Als im Zusammenhang mit den Ereignissen in Algerien begangen gelten alle Straftaten, die von in Algerien dienenden Soldaten während des von Abs. 1 abgedeckten Zeitraums begangen wurden.» (5)
Das Recht, die Justiz wird einmal mehr ad absurdum geführt. Die Verbrecher, die Folterer, die Mörder amnestieren sich selbst.
Neo-Koloniale Ambitionen
Wie jede andere Kolonialmacht scheint sich auch Frankreich nicht damit abfinden zu können, dass all ihr Großmachtsgebaren nur noch peinlich ist. «La grande nation» ist in jeder Beziehung Geschichte. Solange sich Frankreich und die anderen EU und NATO Mächte nicht dazu entschließen können, mit allen Völkern der Welt auf friedlicher Basis, fair und auf Augenhöhe zu kommunizieren, können diese Mächte zivilisatorisch nicht ernst genommen werden. Syriens Präsident Bashar al Assad formulierte es so: "Jene, die Terrorismus unterstützen, haben kein Recht über Frieden zu sprechen. Frankreich hat seit den ersten Angriffen gegen uns Blut an den Händen."
Was für Syrien gilt, das gilt ebenso für Mali und für andere Länder, Frankreich mischt sich immer wieder – ebenso wie andere imperialistische und zionistische Mächte – arrogant und aggressiv in die Angelegenheiten souveräner Staaten ein. Betroffen davon ist bis zum heutigen Tag auch Algerien. Von Frankreich finanzierte, bewaffnete und ausgebildete Terroristen gelangen zum Beispiel über die Grenze von Mali nach Algerien um dort das Land zu destabilisieren und um Chaos und Gewalt zu verbreiten.
Französische Atombombentests
Wenn von französischen Atombombentests die Rede ist, dann denken wir meist an die Tests in Polynesien oder im Bikini Atoll. (Ozeanien) Die erste französische Atombombe explodierte jedoch in Algerien.
Vor 60 Jahren, am 13. Februar 1960, explodierte in der Sahara Algeriens eine Atombombe, deren Kraft viermal so stark war wie die Bombe von Hiroshima. Damit wurde Frankreich zur Atommacht. Im selben Jahr folgten drei weitere Atombombentests, alle an der Oberfläche Algeriens. Von 1961 bis 1966 wurden im Hoggar-Bergmassiv im Süden Algeriens weitere 13, diesmal unterirdische Tests durchgeführt. Diese wurden als «sicherer» und als «weniger umweltbelastend» bezeichnet. Bei vier Tests jedoch schlug die Explosion unkontrolliert bis zur Oberfläche durch. Dies verursachte eine große radioaktive Staubwolke, die einen Grossteil der Landschaft, Menschen, Vieh und die Ernten verseuchte. Auch 1962, nachdem sich Algerien die Unabhängigkeit erkämpft hatte, wurden diese Verbrechen noch nicht gestoppt. Die Folgen davon trägt die betroffene Bevölkerung Algeriens bis zum heutigen Tag. Auf verschiedenen Kanälen werden diese Verbrechen mit zum Teil verstörenden Bildern dokumentiert (6) Nach 1962, nach der Erkämpfung der Unabhängigkeit wurden diese Tests selbstverständlich verboten. Aber erst 1966, stoppte Frankreich, gemäß den Verträgen von Évian, die Atombombentests in Algerien endgültig.
Darauf führte Frankreich seine Tests auf den Inseln Polynesiens weiter. Zwischen 1966 und 1974 brachte Frankreich 46 Atombomben zur Explosion – alle an der Oberfläche. Oft bildete sich ein Atompilz über dem Meer, der viele Kilometer weit zu sehen war. Ab 1975 ließen die Franzosen bis 1991 unter dem Moruroa Atoll 141 verschieden starke Atombomben detonieren. Die letzte französische Atombombe detonierte im Januar 1996 unter dem Fangataufa-Atoll. Beide Atolle liegen ebenfalls in Ozeanien, im nach wie vor französisch besetzten Polynesien. Weder die betroffenen Menschen in Algerien, noch die betroffenen Menschen in Polynesien und den Atollen erhielten jemals eine Entschuldigung seitens Frankreich, von einer materiellen Entschädigung ganz zu schweigen. Erinnern wir uns an die Worte von Präsident Assad: «Sie haben kein Recht über Frieden zu sprechen».
Theoretische Grundlagen
Zu keiner Zeit war der Aufstand des algerischen Volkes willkürlich oder spontan. Ein theoretischer Hintergrund und theoretische Schulung war jederzeit gegeben. Einer der ersten Anführer des Kampfes in Theorie und Praxis war Abd El-Kader El Djazairi – Emir von Algerien, Freiheitskämpfer und Gelehrter. Emir Abd El-Kader war das Symbol des algerischen Widerstands gegen den französischen Besatzer und der eigentliche Gründer des algerischen Staates, auch wenn es nach seinem Tod im Jahr 1883 in Damaskus noch 79 Jahre bis zur Unabhängigkeit des Landes dauern sollte. Während seines jahrelangen Exils in Syrien widmete er sich der Lektüre und der Meditation. Seine Lehre – gesammelt in dem Buch „Kitâb el-Mawâqif“ (Das Buch der Stationen) – legt Zeugnis ab von dem Leben eines Gnostikers, der dem sufischen Weg nach Mohammeds Vorbild treu war. Andere, die nach Abd El Kader kamen, setzten seinen Weg der Befreiung des Volkes fort, was schliesslich, unter enormen Blutopfern, zur Befreiung Algeriens führte. Unter den Millionen, die für die Freiheit Algeriens kämpften seien besonders zwei genannt: Ahmed Ben Bella, einer der Gründer der FLN und der spätere langjährige Präsident des freien Algeriens. Sein Programm war geprägt von einer konsequenten Ablehnung des Kapitalismus in allen Bereichen, einer Agrarreform, der Verstaatlichung der Produktionsmittel, der Aufhebung von Privilegien und einer Rückkehr zu den arabischen Traditionen des Landes.
Der vielleicht bekannteste Aktivist der algerischen Revolution ist Frantz Fanon. Fanon wurde 1925 auf der Insel Martinique geboren. Martinique (Eigenname Madinina, d.h. Blumeninsel) gilt bis zum heutigen Tag ebenso wie («französisch» Polynesien als «Übersee-Departement» und somit als Teil Frankreichs – soviel zur «Entkolonialisierung». Frantz Fanon war Arzt und Psychiater. «Die Verdammten dieser Erde» und «Schwarze Haut, weiße Masken» zählen noch heute als Standardwerke der antikolonialen Literatur. 1953 wurde Fanon als Chefarzt in die psychiatrische Klinik von Blida, nahe Algier berufen. Dort kam er vor allem mit Folteropfern in Kontakt. Den Sieg der Revolution erlebte Fanon nicht mehr, er starb im Jahr 1961.
Ungenannte und ungesühnte Verbrechen
Viele der Verbrechen der Kolonialgeschichte müssen in einem kurzen Artikel wie diesem unerwähnt bleiben, oder können nicht gebührend behandelt werden. Doch ein kurzes Wort zur Rekrutierung während den beiden Weltkriegen: So hat zum Beispiel die französische Regierung sowohl während des 1. als auch während des 2. Weltkriegs Soldaten aus den Kolonien, namentlich auch aus Algerien rekrutiert. Den Völkern wurde jeweils die Freiheit vom Joch der Kolonialisierung versprochen, nachdem der Krieg Frankreichs – der weder die Algerier noch sonst jemanden aus den Kolonien etwas anging – siegreich beendet war. Diese Versprechen wurden ausnahmslos alle gebrochen, ja schlimmer noch: Am 8. Mai 1945, also nach der Kapitulation des deutschen Faschismus, gingen die Menschen in ganz Algerien auf die Strasse, um ihre versprochene Freiheit zu feiern. Die französische Luftwaffe bombardierte die feiernden Menschen, die Opferzahlen schwanken zwischen 30‘000 und 45‘000 Menschen. (7) Das war ein Meilenstein. Vor dem 8. Mai 1845 war im algerischen anti kolonialen Widerstand auch die Rede von «Autonomie». Nachdem jedoch die Besatzungsmacht mit diesen Massakern erneut ihre kompromisslose Brutalität unter Beweis gestellt hatte formierte sich der Widerstand. Dies führte im März 1954 u.a. unter Ahmed Ben Bella zur Gründung der Nationalen Befreiungsfront. (FLN), die sofort den bewaffneten Kampf gegen die Kolonialmacht aufnahm.
Ein weiterer Meilenstein ist der 17. Oktober 1961. An diesem Tag liess der Präfekt von Paris, Maurice Papon, durch die Polizei und die Spezialeinheiten der CRS (8) Schätzungen zufolge über 300 algerische Männer, Frauen und Kinder ermorden. Die Menschen waren aus allen Teilen Frankreichs gekommen und einem Aufruf der FLN gefolgt, um friedlich für die Unabhängigkeit Algeriens zu demonstrieren. Viele der Ermordeten und Verletzten wurden in die Seine geworfen, die Leichen fand man noch Wochen später. Im Jahr 1997 wurde Papon nach einem langen juristischen Vorgeplänkel wegen Verbrechens gegen die Menschheit angeklagt. Aber nicht etwa wegen dem Massaker von Paris, das er befohlen hatte. Während der deutschen Besatzung war Papon als Kollaborateur für die Deportation von 1560 Juden verantwortlich. Dafür wurde er zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Drei Jahre davon sass er ab, 1999 trat er die Strafe an, 2002 wurde er «aus gesundheitlichen Gründen» entlassen. Für das Massaker von Paris wurde er nicht belangt, dieses fiel unter die oben erwähnte Generalamnestie. Das wollen wir uns vergegenwärtigen: Am 17. Oktober 1961 werden in Paris in aller Öffentlichkeit 300 Menschen – vielleicht mehr – ermordet. Unzählige werden vor aller Augen verprügelt, verhaftet und deportiert. Phänomenal bleibt das Schweigen und damit die stille Zustimmung der französischen Medien von rechts bis links. Diese Stille zieht sich hin bis in unsere Tage. Erst allmählich wird das Schweigen gebrochen. (9)
Liberté, Égalité, Fraternité?
Liberté, Égalité, Fraternité, also «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», das Motto der Französischen Republik ist mehr als ein Euphemismus, es ist pure Heuchelei. Eine realistische, evidenzbasierte Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit findet nicht statt. Aber selbst dort, wo zaghafte Versuche gemacht werden, die Verbrechen zu thematisieren, geschieht dies meist in geschönter Form und hat keinerlei Auswirkungen auf die aktuelle Politik Frankreichs und der anderen NATO Mächte. Nach wie vor führt Frankreich, gemeinsam als Mitglied der NATO, als Teil des transatlantischen und zionistischen Verbandes Kriege gegen die Völker der Welt. Sei es in Mali, im Jemen, in Syrien, in, Libyen, Libanon oder anderswo: Ebenso wie Deutschland, die USA oder Israel, ist Frankreich ein wesentlicher Teil des Problems und die französische Politik macht keinerlei Anstalten, Teil der Lösung zu werden. « Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» gilt nach wie vor nur in Frankreich und auch dort nur für eine bestimmte Klasse.
Fußnoten:
1 «Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss»
2 Dey ist ein Herrschertitel in Algerien und Tunesien seit dem 16. Jahrhundert.
3 «Meine Reisen und meine fünfjährige Gefangenschaft in Algier» Simon Friedrich Pfeiffer, Giessen 1834
4 u.a. hier: https://www.wsws.or g/de/articles/2001/03/alge - m28.html (Letzter Zugriff Mai 2021)
5 https://lexetius.com/2008,3388 (Letzter Zugriff Mai 2021)
6 https://youtu.be/j2Z4zJ5ZcNQ und https://youtu.be/ZZ0udF-zokM und https://youtu.be/r6vkM1BMWcg (Jeweils letzter Zugriff Mai 2021)
7 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kolonialgeschichte-algerien-8-mai-1945-13576190.html (Letzter Zugriff Mai 2021)
8 Die Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) sind ein kasernierter Verband der Polizei Frankreichs deren Einsatzgebiete mit denen der Bereitschaftspolizei in Deutschland vergleichbar sind. Sie werden vor allem an Demonstrationen und Großveranstaltungen eingesetzt und sind für ihre Brutalität berüchtigt.
9 https://www.youtube.com/watch?v=cv13uDYSTwY (Letzter Zugriff Mai 2021)
Online-Flyer Nr. 768 vom 12.05.2021
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Der Versuch einer Analyse: Das Beispiel Algerien
Kolonialmacht vertrieben – Kolonialismus beendet?
Von Markus und Eva Heizmann (Bündnis gegen Krieg, Basel)
Algerien ist ein vom Imperialismus angegriffenes Land. Zwar wird der Maghreb-Staat nicht direkt militärisch attackiert, der Medienkrieg gegen die algerische Regierung ist jedoch in vollem Gang. Von einer «Militärdiktatur» ist die Rede und von einem «Volk, das für seine Freiheit auf die Strasse geht». All das kommt uns seltsam bekannt vor: Analogien zu Jugoslawien, zu Syrien und zu anderen inszenierten «Regenbogenrevolten» fallen uns ein. Auch werden über die Grenzen Algeriens Terroristen ins Land eingeschleust, mit dem Zweck zu destabilisieren.
Ein kurzer Blick in die Geschichte Algeriens
Ursprünglich war das Gebiet des heutigen Algerien von größtenteils nomadischen Volksstämmen bewohnt, namentlich von den Tuareg. Vom 12. Jahrhundert v. Chr. an errichteten die Phönizier an der Küste Handelsstützpunkte und gründeten 814 v. Chr. die Handelsstadt Karthago im heutigen Tunesien. Schon damals war Nordafrika Ziel der europäischen Aggressionen. Berühmt wurde der Ausspruch von Cato dem Älteren (234–149 v. Chr.) im römischen Senat: «Ceterum censeo Carthaginem esse delendam». (1)
Um die Mitte des 7. Jahrhunderts wurde der Maghreb – und damit auch das heutige Algerien – teil des arabischen Weltreiches unter den Kalifen. Nach der so genannten «Reconquista», in Tat und Wahrheit eine europäische Aggression der spanischen Krone gegen al Andalus, flohen zahlreiche BewohnerInnen Andalusiens vor den Spaniern nach Nordafrika, ins heutige Marokko, Tunesien und nach Algerien.
Bereits Anfang des 16. Jahrhunderts versuchten die Spanier auch, an der algerischen Küste Fuss zu fassen. Das Land fiel jedoch 1519 unter die Oberhoheit der Osmanen. Algerien wurde so zu einer Provinz des osmanischen Reiches. Es blieb bis 1830 unter Osmanischer Hoheit, war jedoch ab 1711 faktisch unabhängig. Bis ins 19. Jahrhundert konnte sich Algerien gegen die Aggressionen der Spanier, Niederländer, Briten und Franzosen erfolgreich zur Wehr setzen.
Die Geschichte mit dem Fliegenwedel
Wie dies auch heute der Fall ist, versuchten auch schon damals die Aggressoren ihre Raubzüge vor ihrer eigenen Bevölkerung mit Euphemismen und Lügen zu rechtfertigen. Im Fall Algeriens diente ihnen dazu die Geschichte mit dem Fliegenwedel.
Zur Finanzierung seines Italienfeldzugs hatte sich Napoléon 1796 die damals enorme Summe von einer Million Francs über das in Paris ansässige Handelsunternehmen Bacri und Busnach geliehen. Diese Unternehmer waren gebürtige Algerier. Die Schuld sollte nun endlich getilgt werden. Nach Napoleons Abdankung forderten die algerischen Gläubiger diese Summe wiederholt von Frankreich zurück, allerdings weigerten sich sowohl Ludwig XVIII. als auch Karl X., die Schuld zurückzuzahlen. Am 29. April 1827 gab Dey (2) Hussein einen Empfang aus Anlass des Ramadan, zu dem auch der französische Konsul Pierre Deval erschien. Dey Hussein sprach den Konsul auf die horrenden Schulden an und verlangte einen Grund für die ablehnende Haltung der französischen Regierung. Deval entgegnete daraufhin, „dass seine Regierung auf keinen Fall antworten würde, weil sie das für unnütz hielte“. Auf diesen Affront hin versetzte Dey Hussein dem Konsul drei Schläge mit seinem Fliegenwedel und wies ihn aus dem Gebäude. Schon damals wurde vermutet, dass der französische Konsul diesen diplomatischen Skandal gezielt inszeniert habe, um den Franzosen einen Grund für spätere militärische Aggressionen zu liefern. (3) Ab dem Jahr 1830 begann die kriegerische Aggression Frankreichs gegen Algerien und damit die Kolonialisierung des Landes. Das Land sollte zu einer Art «kolonialer Vorzeigeprovinz» gemacht werden. Spätestens ab 1870 galt Algerien für die Europäer als integraler Bestandteil des französischen Staatsterritoriums. Dem Norden des Landes wurden nach französischem Vorbild Departemente aufgezwungen. In diesen wurden auch Stadt- und Regionalräte sowie Abgeordnete für die Abgeordnetenkammern in Paris gewählt. Bei diesen Wahlen hatte die algerische Bevölkerung keinerlei Mitsprache. Algerien war – neben Südafrika – die größte europäische Siedlerkolonie Afrikas. 1954 befanden sich fast eine Million Europäer im Land. Sie beherrschten die exportierten staatlichen Güter. Ebenso wie die Buren in Südafrika praktizierten auch in Algerien die französischen Rassisten eine radikale Apartheid Politik gegenüber der algerischen Bevölkerung. Der von Beginn an aktive Widerstand des algerischen Volkes gegen die Besatzung hatte Signalwirkung für die spätere Dekolonisation aller afrikanischen Völker.
Der Widerstandskampf der FLN
Der Widerstandskampf gegen die französische Besatzung war von Beginn an aktiv. Militärisch strukturiert und gesellschaftlich breit verankert wurde dieser Kampf jedoch ab 1954 mit der Gründung der FLN. (Front de Libération Nationale)
Bis zum heutigen Tag betont Frankreich gerne, dass «Algerien am 5. Juli 1962 in die Unabhängigkeit entlassen wurde». Das ist eine Lüge. Am 5. Juni 1962 wurde von den KämpferInnen der FLN die Unabhängigkeit Algeriens ausgerufen. Dieser Unabhängigkeit waren 124 Jahre Widerstand gegen die französische Ausbeutung, Unterdrückung, Genozid und 8 Jahre Befreiungskrieg unter Führung der FLN voraus gegangen. Allein dieser Befreiungskrieg, den Frankreich niemals als Krieg bezeichnete, kostete nach konservativen Schätzungen 1.5 Millionen Menschen in Algerien das Leben, ca. 25.000 französische Soldaten kamen bei den Kämpfen in Algerien ums Leben. Mit diesen Zahlen wird jedoch nur ein Buchteil der französischen Verbrechen in Algerien benannt. Nicht erwähnt werden die französischen Konzentrationslager, die überall im Land errichtet wurden. Nicht erwähnt wird die unmenschliche Folter an Millionen von algerischen BürgerInnen. Nicht erwähnt werden die französischen neo-kolonialen Ambitionen, nicht nur auf Algerien, sondern auf weite Teile des afrikanischen Kontinents. Nicht erwähnt werden die französischen Atombombentests auf algerischem Territorium an deren Folgen die Menschen in Algerien bis zum heutigen Tag leiden. In den betroffenen Gebieten Algeriens werden bis zum heutigen Tagen Kinder mit schlimmsten Missbildungen geboren. All dies war keiner französischen Regierung – bis hin zu Emanuel Macron – keine Silbe einer Entschuldigung, geschweige denn eine materielle Wiedergutmachung wert.
Im Gegenteil benimmt sich der französische Staat noch immer als «grande nation» und meint sich arrogant in die Belange anderer Länder, zum Beispiel in Mali oder in Syrien, einmischen zu dürfen.
Konzentrationslager
Die Konzentrationslager sind beileibe keine alleinige Erfindung der deutschen Faschisten unter der NSDAP. Bereits unter der Herrschaft von Kaiser Wilhelm II errichtete die damalige deutsche Besatzungsmacht in Namibia Konzentrationslager. An der Bevölkerung der Herero wurde ein regelrechter Genozid angerichtet. Auch dieses Kapitel der (deutschen) Kolonialgeschichte ist nicht aufgearbeitet.
In Algerien und in anderen von ihnen heimgesuchten Kolonien in Afrika und Asien scheuten auch die Franzosen nicht vor der Errichtung und Betreibung von Konzentrationslagern zurück. In diesen wurden die Gefangenen systematisch gedemütigt, gefoltert und ermordet.
Folter
Systematische Folter, das Verschwinden-lassen und die Ermordung von Menschen gehörten zum Alltag der französischen Besatzer in Algerien. In der Zwischenzeit erscheinen zahlreiche Artikel zur systematischen Folter der französischen Besatzer in Algerien. (4) Das ist wohlfeil und es kostet nichts. Denn wenn noch lebende Folterknechte oder diejenigen, welche Folter angeordnet haben, identifiziert werden sollten, haben sie nichts zu befürchten: Der 14. Art. 1 des Amnestiegesetzes Nr. 68-697 vom 31. Juli 1968 (JORF vom 2. August 1968, S. 7521), der zu Titel I („Generalamnestie für alle Straftaten im Zusammenhang mit den Ereignissen in Algerien“) dieses Gesetzes, bestimmt: «Alle Straftaten, die im Zusammenhang mit den Ereignissen in Algerien begangen wurden, sind von Rechts wegen amnestiert. Als im Zusammenhang mit den Ereignissen in Algerien begangen gelten alle Straftaten, die von in Algerien dienenden Soldaten während des von Abs. 1 abgedeckten Zeitraums begangen wurden.» (5)
Das Recht, die Justiz wird einmal mehr ad absurdum geführt. Die Verbrecher, die Folterer, die Mörder amnestieren sich selbst.
Neo-Koloniale Ambitionen
Wie jede andere Kolonialmacht scheint sich auch Frankreich nicht damit abfinden zu können, dass all ihr Großmachtsgebaren nur noch peinlich ist. «La grande nation» ist in jeder Beziehung Geschichte. Solange sich Frankreich und die anderen EU und NATO Mächte nicht dazu entschließen können, mit allen Völkern der Welt auf friedlicher Basis, fair und auf Augenhöhe zu kommunizieren, können diese Mächte zivilisatorisch nicht ernst genommen werden. Syriens Präsident Bashar al Assad formulierte es so: "Jene, die Terrorismus unterstützen, haben kein Recht über Frieden zu sprechen. Frankreich hat seit den ersten Angriffen gegen uns Blut an den Händen."
Was für Syrien gilt, das gilt ebenso für Mali und für andere Länder, Frankreich mischt sich immer wieder – ebenso wie andere imperialistische und zionistische Mächte – arrogant und aggressiv in die Angelegenheiten souveräner Staaten ein. Betroffen davon ist bis zum heutigen Tag auch Algerien. Von Frankreich finanzierte, bewaffnete und ausgebildete Terroristen gelangen zum Beispiel über die Grenze von Mali nach Algerien um dort das Land zu destabilisieren und um Chaos und Gewalt zu verbreiten.
Französische Atombombentests
Wenn von französischen Atombombentests die Rede ist, dann denken wir meist an die Tests in Polynesien oder im Bikini Atoll. (Ozeanien) Die erste französische Atombombe explodierte jedoch in Algerien.
Vor 60 Jahren, am 13. Februar 1960, explodierte in der Sahara Algeriens eine Atombombe, deren Kraft viermal so stark war wie die Bombe von Hiroshima. Damit wurde Frankreich zur Atommacht. Im selben Jahr folgten drei weitere Atombombentests, alle an der Oberfläche Algeriens. Von 1961 bis 1966 wurden im Hoggar-Bergmassiv im Süden Algeriens weitere 13, diesmal unterirdische Tests durchgeführt. Diese wurden als «sicherer» und als «weniger umweltbelastend» bezeichnet. Bei vier Tests jedoch schlug die Explosion unkontrolliert bis zur Oberfläche durch. Dies verursachte eine große radioaktive Staubwolke, die einen Grossteil der Landschaft, Menschen, Vieh und die Ernten verseuchte. Auch 1962, nachdem sich Algerien die Unabhängigkeit erkämpft hatte, wurden diese Verbrechen noch nicht gestoppt. Die Folgen davon trägt die betroffene Bevölkerung Algeriens bis zum heutigen Tag. Auf verschiedenen Kanälen werden diese Verbrechen mit zum Teil verstörenden Bildern dokumentiert (6) Nach 1962, nach der Erkämpfung der Unabhängigkeit wurden diese Tests selbstverständlich verboten. Aber erst 1966, stoppte Frankreich, gemäß den Verträgen von Évian, die Atombombentests in Algerien endgültig.
Darauf führte Frankreich seine Tests auf den Inseln Polynesiens weiter. Zwischen 1966 und 1974 brachte Frankreich 46 Atombomben zur Explosion – alle an der Oberfläche. Oft bildete sich ein Atompilz über dem Meer, der viele Kilometer weit zu sehen war. Ab 1975 ließen die Franzosen bis 1991 unter dem Moruroa Atoll 141 verschieden starke Atombomben detonieren. Die letzte französische Atombombe detonierte im Januar 1996 unter dem Fangataufa-Atoll. Beide Atolle liegen ebenfalls in Ozeanien, im nach wie vor französisch besetzten Polynesien. Weder die betroffenen Menschen in Algerien, noch die betroffenen Menschen in Polynesien und den Atollen erhielten jemals eine Entschuldigung seitens Frankreich, von einer materiellen Entschädigung ganz zu schweigen. Erinnern wir uns an die Worte von Präsident Assad: «Sie haben kein Recht über Frieden zu sprechen».
Theoretische Grundlagen
Zu keiner Zeit war der Aufstand des algerischen Volkes willkürlich oder spontan. Ein theoretischer Hintergrund und theoretische Schulung war jederzeit gegeben. Einer der ersten Anführer des Kampfes in Theorie und Praxis war Abd El-Kader El Djazairi – Emir von Algerien, Freiheitskämpfer und Gelehrter. Emir Abd El-Kader war das Symbol des algerischen Widerstands gegen den französischen Besatzer und der eigentliche Gründer des algerischen Staates, auch wenn es nach seinem Tod im Jahr 1883 in Damaskus noch 79 Jahre bis zur Unabhängigkeit des Landes dauern sollte. Während seines jahrelangen Exils in Syrien widmete er sich der Lektüre und der Meditation. Seine Lehre – gesammelt in dem Buch „Kitâb el-Mawâqif“ (Das Buch der Stationen) – legt Zeugnis ab von dem Leben eines Gnostikers, der dem sufischen Weg nach Mohammeds Vorbild treu war. Andere, die nach Abd El Kader kamen, setzten seinen Weg der Befreiung des Volkes fort, was schliesslich, unter enormen Blutopfern, zur Befreiung Algeriens führte. Unter den Millionen, die für die Freiheit Algeriens kämpften seien besonders zwei genannt: Ahmed Ben Bella, einer der Gründer der FLN und der spätere langjährige Präsident des freien Algeriens. Sein Programm war geprägt von einer konsequenten Ablehnung des Kapitalismus in allen Bereichen, einer Agrarreform, der Verstaatlichung der Produktionsmittel, der Aufhebung von Privilegien und einer Rückkehr zu den arabischen Traditionen des Landes.
Der vielleicht bekannteste Aktivist der algerischen Revolution ist Frantz Fanon. Fanon wurde 1925 auf der Insel Martinique geboren. Martinique (Eigenname Madinina, d.h. Blumeninsel) gilt bis zum heutigen Tag ebenso wie («französisch» Polynesien als «Übersee-Departement» und somit als Teil Frankreichs – soviel zur «Entkolonialisierung». Frantz Fanon war Arzt und Psychiater. «Die Verdammten dieser Erde» und «Schwarze Haut, weiße Masken» zählen noch heute als Standardwerke der antikolonialen Literatur. 1953 wurde Fanon als Chefarzt in die psychiatrische Klinik von Blida, nahe Algier berufen. Dort kam er vor allem mit Folteropfern in Kontakt. Den Sieg der Revolution erlebte Fanon nicht mehr, er starb im Jahr 1961.
Ungenannte und ungesühnte Verbrechen
Viele der Verbrechen der Kolonialgeschichte müssen in einem kurzen Artikel wie diesem unerwähnt bleiben, oder können nicht gebührend behandelt werden. Doch ein kurzes Wort zur Rekrutierung während den beiden Weltkriegen: So hat zum Beispiel die französische Regierung sowohl während des 1. als auch während des 2. Weltkriegs Soldaten aus den Kolonien, namentlich auch aus Algerien rekrutiert. Den Völkern wurde jeweils die Freiheit vom Joch der Kolonialisierung versprochen, nachdem der Krieg Frankreichs – der weder die Algerier noch sonst jemanden aus den Kolonien etwas anging – siegreich beendet war. Diese Versprechen wurden ausnahmslos alle gebrochen, ja schlimmer noch: Am 8. Mai 1945, also nach der Kapitulation des deutschen Faschismus, gingen die Menschen in ganz Algerien auf die Strasse, um ihre versprochene Freiheit zu feiern. Die französische Luftwaffe bombardierte die feiernden Menschen, die Opferzahlen schwanken zwischen 30‘000 und 45‘000 Menschen. (7) Das war ein Meilenstein. Vor dem 8. Mai 1845 war im algerischen anti kolonialen Widerstand auch die Rede von «Autonomie». Nachdem jedoch die Besatzungsmacht mit diesen Massakern erneut ihre kompromisslose Brutalität unter Beweis gestellt hatte formierte sich der Widerstand. Dies führte im März 1954 u.a. unter Ahmed Ben Bella zur Gründung der Nationalen Befreiungsfront. (FLN), die sofort den bewaffneten Kampf gegen die Kolonialmacht aufnahm.
Ein weiterer Meilenstein ist der 17. Oktober 1961. An diesem Tag liess der Präfekt von Paris, Maurice Papon, durch die Polizei und die Spezialeinheiten der CRS (8) Schätzungen zufolge über 300 algerische Männer, Frauen und Kinder ermorden. Die Menschen waren aus allen Teilen Frankreichs gekommen und einem Aufruf der FLN gefolgt, um friedlich für die Unabhängigkeit Algeriens zu demonstrieren. Viele der Ermordeten und Verletzten wurden in die Seine geworfen, die Leichen fand man noch Wochen später. Im Jahr 1997 wurde Papon nach einem langen juristischen Vorgeplänkel wegen Verbrechens gegen die Menschheit angeklagt. Aber nicht etwa wegen dem Massaker von Paris, das er befohlen hatte. Während der deutschen Besatzung war Papon als Kollaborateur für die Deportation von 1560 Juden verantwortlich. Dafür wurde er zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Drei Jahre davon sass er ab, 1999 trat er die Strafe an, 2002 wurde er «aus gesundheitlichen Gründen» entlassen. Für das Massaker von Paris wurde er nicht belangt, dieses fiel unter die oben erwähnte Generalamnestie. Das wollen wir uns vergegenwärtigen: Am 17. Oktober 1961 werden in Paris in aller Öffentlichkeit 300 Menschen – vielleicht mehr – ermordet. Unzählige werden vor aller Augen verprügelt, verhaftet und deportiert. Phänomenal bleibt das Schweigen und damit die stille Zustimmung der französischen Medien von rechts bis links. Diese Stille zieht sich hin bis in unsere Tage. Erst allmählich wird das Schweigen gebrochen. (9)
Liberté, Égalité, Fraternité?
Liberté, Égalité, Fraternité, also «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», das Motto der Französischen Republik ist mehr als ein Euphemismus, es ist pure Heuchelei. Eine realistische, evidenzbasierte Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit findet nicht statt. Aber selbst dort, wo zaghafte Versuche gemacht werden, die Verbrechen zu thematisieren, geschieht dies meist in geschönter Form und hat keinerlei Auswirkungen auf die aktuelle Politik Frankreichs und der anderen NATO Mächte. Nach wie vor führt Frankreich, gemeinsam als Mitglied der NATO, als Teil des transatlantischen und zionistischen Verbandes Kriege gegen die Völker der Welt. Sei es in Mali, im Jemen, in Syrien, in, Libyen, Libanon oder anderswo: Ebenso wie Deutschland, die USA oder Israel, ist Frankreich ein wesentlicher Teil des Problems und die französische Politik macht keinerlei Anstalten, Teil der Lösung zu werden. « Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» gilt nach wie vor nur in Frankreich und auch dort nur für eine bestimmte Klasse.
Fußnoten:
1 «Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss»
2 Dey ist ein Herrschertitel in Algerien und Tunesien seit dem 16. Jahrhundert.
3 «Meine Reisen und meine fünfjährige Gefangenschaft in Algier» Simon Friedrich Pfeiffer, Giessen 1834
4 u.a. hier: https://www.wsws.or g/de/articles/2001/03/alge - m28.html (Letzter Zugriff Mai 2021)
5 https://lexetius.com/2008,3388 (Letzter Zugriff Mai 2021)
6 https://youtu.be/j2Z4zJ5ZcNQ und https://youtu.be/ZZ0udF-zokM und https://youtu.be/r6vkM1BMWcg (Jeweils letzter Zugriff Mai 2021)
7 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kolonialgeschichte-algerien-8-mai-1945-13576190.html (Letzter Zugriff Mai 2021)
8 Die Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) sind ein kasernierter Verband der Polizei Frankreichs deren Einsatzgebiete mit denen der Bereitschaftspolizei in Deutschland vergleichbar sind. Sie werden vor allem an Demonstrationen und Großveranstaltungen eingesetzt und sind für ihre Brutalität berüchtigt.
9 https://www.youtube.com/watch?v=cv13uDYSTwY (Letzter Zugriff Mai 2021)
Online-Flyer Nr. 768 vom 12.05.2021
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