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Kultur und Wissen
Die Jerusalemer Erklärung zur Kampagne "Boykott, Desinvestition, Sanktionen"
Antisemitismus im Definitions-Karussell
Von Rudolph Bauer
Was ist Antisemitismus? Der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno (1903-1969) lieferte in seiner Schrift „Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ eine knappe Antwort. Sie lautet: „Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.“ Adornos Beschreibung erfährt gegenwärtig eine paradoxe Verkehrung. Antisemitismus ist heute nicht nur ein Gerücht über Juden, sondern auch eine Zuschreibung, die dazu dient, Individuen (auch Jüdinnen und Juden) und Gruppierungen wie die „Jüdische Stimme für den Frieden“ als rassistisch zu brandmarken, auszugrenzen und in eine Reihe zu stellen mit den Nazi-Verbrechen an Juden.
Die Gleichsetzung des Antisemitismus mit der NS-Rassenideologie und den millionenfachen Judenmorden ist tief im kollektiven Bewusstsein verankert – nicht nur bei der deutschen Bevölkerung. Die Vorhaltung, jemand sei Antisemit oder eine Gruppierung verfolge antisemitische Ziele, dient als Mittel zur sozialen oder politischen Ausgrenzung. Der Vorwurf des Antisemitismus wirkt wie eine gesellschaftliche Ausstoßung und politische Ächtung.
„Antisemitismus“ ist eine Waffe in der politischen Auseinandersetzung. Bekanntes Beispiel ist die Partei-Suspendierung von Jeremy Corbyn, des ehemaligen Vorsitzenden der britischen Labour Party, wegen angeblicher Duldung von Antisemitismus.
Vom antisemitischen Selbstverständnis zum Antisemitismus-Vorwurf
Ursprünglich bekannten sich die Anhänger nationalistischer Bewegungen im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Antisemitismus. Die Wurzeln dieser irrationalen, vorurteilsgeprägten Geisteshaltung beruhten auf religiösen Vorbehalten gegenüber Juden, deren Vorfahren für den Kreuzestod Jesu verantwortlich gemacht wurden.
In der Nazi-Bewegung und bei den faschistischen Strömungen weltweit erlangte der ursprünglich religiös und dann auch ökonomisch motivierte Antisemitismus eine rassistische Stoßrichtung. Juden wurden als „rassisch minderwertig“ und als eine Bedrohung des „reinen Volkskörpers“ diffamiert, verfolgt und „ausgemerzt“, ermordet.
Die Gegenüberstellung des arischen Antisemitismus rassistischer Prägung einerseits und der aktuellen Antisemitismus-Vorwürfe andererseits lässt Folgendes erkennen: Als Antisemit wird heute ein Gegenüber, eine andere Person oder eine andere Gruppe, bezeichnet, während der Begriff früher eine Selbstbezeichnung war, ein Label des Selbstverständnisses und zur Selbstverständigung der „echten“ Antisemiten.
Historisch war Antisemitismus also ein persönliches bzw. kollektives Eigenattribut – gründend auf einer Geisteshaltung, deren irrationale Anteile unter den Nazis zum mörderischen Rassenwahn mutierten. Heute hingegen dient der Begriff hauptsächlich als Anschuldigung und zur Kennzeichnung anderer.
„Jude“ und „Antisemit“: strukturell zwei gesellschaftliche Vorurteile
Kaum jemand tritt heute offen als „Antisemit“ oder mit „antisemitischen“ Parolen auf (wobei mit dieser Feststellung die Existenz von offenem und verborgenem „echtem“ Antisemitismus nicht bestritten werden soll). Hinzu kommt aber eine Verkehrung des Begriffs: Ähnlich wie „Jude“ aus antisemitischer Sicht, so gilt heute „Antisemit“ aus Sicht des Common Sense als ein Label zur Ausgrenzung von Anderen, zu ihrer Abstempelung als einer gesellschaftlich geächteten Minderheit.
Es handelt sich um eine Art spiegelbildliche Verkehrung: Wo früher „Jude“ ein Schimpfwort war (und in bestimmten Kreisen noch oder wieder ist), da lautet eine der verächtlichen Beschimpfungen heute „Antisemit“. Das gesellschaftliche Vorurteil hat gewissermaßen den Adressaten geändert. Strukturell erfüllt das Etikett „Antisemit“ den gleichen Zweck wie das Etikett „Jude“.
Da es einem Skandal gleichkommt, „Antisemit“ und „Jude“ als zwei austauschbare Vorurteile zu bezeichnen, werden Anstrengungen unternommen, die Kategorie Antisemitismus exakt zu definieren. Offizielle und offiziell anerkannte Antisemitismus-Definitionen sollen dazu beitragen, das Etikett „Antisemit“ vom Verdacht zu befreien, ein irrationales Vorurteil zu sein. Die Definition soll dem Antisemitismus-Verdikt die Bedeutung eines rationalen Urteils verleihen.
Der „erweiterte Antisemitismusbegriff“ der IHRA-Definition
Eine erste offizielle Antisemitismus-"Arbeitsdefinition" geht zurück auf einen 2016 gefassten Beschluss von 31 Staaten, die sich zur IHRA, dem Internationalen Bündnis zum Holocaustgedenken (International Holocaust Rememberance Alliance), zusammengeschlossen hatten. Die IHRA-Definition sollte Polizei und Gerichten der beteiligten Länder als Richtschnur dienen, um gegen Antisemitismus vorzugehen. In dieser Absicht wurde sie am 20. September 2017 auch vom deutschen Bundeskabinett verabschiedet. Seither berufen sich Kommunen und Veranstalter auf die IHRA-Definition, um Versammlungsräume zu verweigern oder Vorträge abzusagen.
Die Definition lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Der „erweiterte Antisemitismusbegriff“ der IHRA-Definition dient – so die Kritik – der Beeinflussung und Lenkung der öffentlichen Meinung im Interesse derjenigen, denen an der uneingeschränkten Akzeptanz israelischer Regierungs-, Militär- und Besatzungspolitik gelegen ist. Das betrifft sowohl den israelischen Staat und seine gegenwärtige Regierung als auch all diejenigen Staaten, welche der israelischen Politik nichts entgegensetzen und sie vielmehr durch Waffenlieferungen militärisch unterstützen, wie etwa die Bundesrepublik.
BDS und die Jerusalem Declaration on Antisemitism
Die IHRA-Definition stößt nicht zuletzt deshalb auf Widerstand, weil sie in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedliche Interpretationen offen ist. Insbesondere wird ihr vorgeworfen, dass sie mit Blick auf Israel die Meinungsfreiheit einschränkt und jene gewaltlosen politischen Aktionen für nicht legitim erklärt, deren Teilnehmer sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen.
Dies trifft insbesondere auf die BDS-Bewegung zu. Die von Palästinensern und Juden gemeinsam gegründete und unterstützte Kampagne ruft auf zum Boykott, zur Desinvestition und zu Sanktionen gegenüber Israel. In blinder Befolgung der unpräzisen IHRA-Definition wurde BDS auch vom Deutschen Bundestag im Mai 2019 per Beschluss pauschal als antisemitisch eingestuft.
Im Sinne einer Verbesserung und Ergänzung bzw. Korrektur der IHRA-Definition wurde im März 2021 eine neue Begriffsdefinition veröffentlicht. Niedergelegt in der Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) wird festgestellt, die BDS-Aktionen seien als „gängige, gewaltfreie Formen des Protestes … nicht per se antisemitisch“. Die Jerusalemer Erklärung definiert Antisemitismus als „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Institutionen als jüdische)“ und liefert zusätzlich 15 Leitlinien zur Präzisierung.
Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus war von zwanzig, vor allem jüdischen bzw. israelischen Wissenschaftlern erarbeitet und von rund zweihundert internationalen Wissenschaftlern unterzeichnet worden. Die meisten von ihnen arbeiten n in der Antisemitismusforschung und in verwandten Bereichen.
Die Erklärung differenziert zwischen Antizionismus und Antisemitismus. Ein weiterer wichtiger Unterschied der Jerusalemer Erklärung zur Arbeitsdefinition der IHRA ist, dass sie den Kampf gegen Antisemitismus als untrennbar vom größeren Kampf gegen andere Formen von Rassismus und Diskriminierung versteht.
Das Definitions-Karussell und die „Bekämpfung“ des Antisemitismus
Seit Veröffentlichung der JDA-Definition reißt die Debatte nicht ab, ob sie mehr Klarheit ermöglicht oder die gleichen Schwächen wie die IRHA-Definition aufweist. Uwe Becker, der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft bezeichnet die Jerusalemer Erklärung sogar als „Freibrief zur geradezu grenzenlosen ‚Israelkritik‘“ sowie als „Zertifikat für Israelhass“.
Auf der anderen Seite wird betont, dass Forscherinnen und Forscher, die sich zum Teil seit Jahrzehnten mit dem Holocaust und Judenhass beschäftigen, besser als Parlamentarier und Regierungen in der Lage seien, eine Antisemitismus-Definition vorzulegen und objektiv einzuschätzen, ob BDS als antisemitisch anzuprangern sei.
Ralph Lewini, der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeinderats, sieht den Zweck jeder Antisemitismus-Definition darin, dass sie als „Werkzeug“ geeignet zu sein hat, wenn „Antisemitismus effizient und effektiv bekämpft werden“ soll.
Die „Bekämpfung“ des Antisemitismus mittels einer Definition führt allerdings in die Irre und löst das Problem nicht. Denn auf diese Weise werden nicht die psychologischen Wurzeln und die sozialen Entstehungsbedingungen antisemitischer Vorurteile und Handlungsmuster erforscht. Vielmehr hat die „Bekämpfung“ zur Folge, Ausgrenzungen vorzunehmen, gesellschaftliche Spaltungen zu zementieren und Kritik im Keim zu unterdrücken.
Um Vorurteile wie den „echten“ Antisemitismus als unbegründet zu widerlegen, ist es in den meisten Fällen der falsche Ansatz, ihn zu „bekämpfen“. Es ist stattdessen vor allem erforderlich, seine Genese zu analysieren und gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die ein Zusammenleben der Menschen und der Völker in Freundschaft möglich machen. Im Konkurrenz- und Profitkapitalismus ist das allerdings schwer umsetzbar.
Schon heute aber ist es tunlich, die beabsichtigte Brandmarkung immer dann als demokratieschädigend zurückzuweisen, wenn jeglicher politischen Kritik an der israelischen Militär- und Besatzungspolitik der Stempel „antisemitisch“ aufgedrückt wird, um sie zum Schweigen zu bringen.
Erstveröffentlichung in der Wochenzeitung "Unsere Zeit" vom 21.5.2021
Online-Flyer Nr. 770 vom 29.05.2021
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Kultur und Wissen
Die Jerusalemer Erklärung zur Kampagne "Boykott, Desinvestition, Sanktionen"
Antisemitismus im Definitions-Karussell
Von Rudolph Bauer
Was ist Antisemitismus? Der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno (1903-1969) lieferte in seiner Schrift „Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ eine knappe Antwort. Sie lautet: „Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.“ Adornos Beschreibung erfährt gegenwärtig eine paradoxe Verkehrung. Antisemitismus ist heute nicht nur ein Gerücht über Juden, sondern auch eine Zuschreibung, die dazu dient, Individuen (auch Jüdinnen und Juden) und Gruppierungen wie die „Jüdische Stimme für den Frieden“ als rassistisch zu brandmarken, auszugrenzen und in eine Reihe zu stellen mit den Nazi-Verbrechen an Juden.
Die Gleichsetzung des Antisemitismus mit der NS-Rassenideologie und den millionenfachen Judenmorden ist tief im kollektiven Bewusstsein verankert – nicht nur bei der deutschen Bevölkerung. Die Vorhaltung, jemand sei Antisemit oder eine Gruppierung verfolge antisemitische Ziele, dient als Mittel zur sozialen oder politischen Ausgrenzung. Der Vorwurf des Antisemitismus wirkt wie eine gesellschaftliche Ausstoßung und politische Ächtung.
„Antisemitismus“ ist eine Waffe in der politischen Auseinandersetzung. Bekanntes Beispiel ist die Partei-Suspendierung von Jeremy Corbyn, des ehemaligen Vorsitzenden der britischen Labour Party, wegen angeblicher Duldung von Antisemitismus.
Vom antisemitischen Selbstverständnis zum Antisemitismus-Vorwurf
Ursprünglich bekannten sich die Anhänger nationalistischer Bewegungen im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Antisemitismus. Die Wurzeln dieser irrationalen, vorurteilsgeprägten Geisteshaltung beruhten auf religiösen Vorbehalten gegenüber Juden, deren Vorfahren für den Kreuzestod Jesu verantwortlich gemacht wurden.
In der Nazi-Bewegung und bei den faschistischen Strömungen weltweit erlangte der ursprünglich religiös und dann auch ökonomisch motivierte Antisemitismus eine rassistische Stoßrichtung. Juden wurden als „rassisch minderwertig“ und als eine Bedrohung des „reinen Volkskörpers“ diffamiert, verfolgt und „ausgemerzt“, ermordet.
Die Gegenüberstellung des arischen Antisemitismus rassistischer Prägung einerseits und der aktuellen Antisemitismus-Vorwürfe andererseits lässt Folgendes erkennen: Als Antisemit wird heute ein Gegenüber, eine andere Person oder eine andere Gruppe, bezeichnet, während der Begriff früher eine Selbstbezeichnung war, ein Label des Selbstverständnisses und zur Selbstverständigung der „echten“ Antisemiten.
Historisch war Antisemitismus also ein persönliches bzw. kollektives Eigenattribut – gründend auf einer Geisteshaltung, deren irrationale Anteile unter den Nazis zum mörderischen Rassenwahn mutierten. Heute hingegen dient der Begriff hauptsächlich als Anschuldigung und zur Kennzeichnung anderer.
„Jude“ und „Antisemit“: strukturell zwei gesellschaftliche Vorurteile
Kaum jemand tritt heute offen als „Antisemit“ oder mit „antisemitischen“ Parolen auf (wobei mit dieser Feststellung die Existenz von offenem und verborgenem „echtem“ Antisemitismus nicht bestritten werden soll). Hinzu kommt aber eine Verkehrung des Begriffs: Ähnlich wie „Jude“ aus antisemitischer Sicht, so gilt heute „Antisemit“ aus Sicht des Common Sense als ein Label zur Ausgrenzung von Anderen, zu ihrer Abstempelung als einer gesellschaftlich geächteten Minderheit.
Es handelt sich um eine Art spiegelbildliche Verkehrung: Wo früher „Jude“ ein Schimpfwort war (und in bestimmten Kreisen noch oder wieder ist), da lautet eine der verächtlichen Beschimpfungen heute „Antisemit“. Das gesellschaftliche Vorurteil hat gewissermaßen den Adressaten geändert. Strukturell erfüllt das Etikett „Antisemit“ den gleichen Zweck wie das Etikett „Jude“.
Da es einem Skandal gleichkommt, „Antisemit“ und „Jude“ als zwei austauschbare Vorurteile zu bezeichnen, werden Anstrengungen unternommen, die Kategorie Antisemitismus exakt zu definieren. Offizielle und offiziell anerkannte Antisemitismus-Definitionen sollen dazu beitragen, das Etikett „Antisemit“ vom Verdacht zu befreien, ein irrationales Vorurteil zu sein. Die Definition soll dem Antisemitismus-Verdikt die Bedeutung eines rationalen Urteils verleihen.
Der „erweiterte Antisemitismusbegriff“ der IHRA-Definition
Eine erste offizielle Antisemitismus-"Arbeitsdefinition" geht zurück auf einen 2016 gefassten Beschluss von 31 Staaten, die sich zur IHRA, dem Internationalen Bündnis zum Holocaustgedenken (International Holocaust Rememberance Alliance), zusammengeschlossen hatten. Die IHRA-Definition sollte Polizei und Gerichten der beteiligten Länder als Richtschnur dienen, um gegen Antisemitismus vorzugehen. In dieser Absicht wurde sie am 20. September 2017 auch vom deutschen Bundeskabinett verabschiedet. Seither berufen sich Kommunen und Veranstalter auf die IHRA-Definition, um Versammlungsräume zu verweigern oder Vorträge abzusagen.
Die Definition lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Der „erweiterte Antisemitismusbegriff“ der IHRA-Definition dient – so die Kritik – der Beeinflussung und Lenkung der öffentlichen Meinung im Interesse derjenigen, denen an der uneingeschränkten Akzeptanz israelischer Regierungs-, Militär- und Besatzungspolitik gelegen ist. Das betrifft sowohl den israelischen Staat und seine gegenwärtige Regierung als auch all diejenigen Staaten, welche der israelischen Politik nichts entgegensetzen und sie vielmehr durch Waffenlieferungen militärisch unterstützen, wie etwa die Bundesrepublik.
BDS und die Jerusalem Declaration on Antisemitism
Die IHRA-Definition stößt nicht zuletzt deshalb auf Widerstand, weil sie in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedliche Interpretationen offen ist. Insbesondere wird ihr vorgeworfen, dass sie mit Blick auf Israel die Meinungsfreiheit einschränkt und jene gewaltlosen politischen Aktionen für nicht legitim erklärt, deren Teilnehmer sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen.
Dies trifft insbesondere auf die BDS-Bewegung zu. Die von Palästinensern und Juden gemeinsam gegründete und unterstützte Kampagne ruft auf zum Boykott, zur Desinvestition und zu Sanktionen gegenüber Israel. In blinder Befolgung der unpräzisen IHRA-Definition wurde BDS auch vom Deutschen Bundestag im Mai 2019 per Beschluss pauschal als antisemitisch eingestuft.
Im Sinne einer Verbesserung und Ergänzung bzw. Korrektur der IHRA-Definition wurde im März 2021 eine neue Begriffsdefinition veröffentlicht. Niedergelegt in der Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) wird festgestellt, die BDS-Aktionen seien als „gängige, gewaltfreie Formen des Protestes … nicht per se antisemitisch“. Die Jerusalemer Erklärung definiert Antisemitismus als „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Institutionen als jüdische)“ und liefert zusätzlich 15 Leitlinien zur Präzisierung.
Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus war von zwanzig, vor allem jüdischen bzw. israelischen Wissenschaftlern erarbeitet und von rund zweihundert internationalen Wissenschaftlern unterzeichnet worden. Die meisten von ihnen arbeiten n in der Antisemitismusforschung und in verwandten Bereichen.
Die Erklärung differenziert zwischen Antizionismus und Antisemitismus. Ein weiterer wichtiger Unterschied der Jerusalemer Erklärung zur Arbeitsdefinition der IHRA ist, dass sie den Kampf gegen Antisemitismus als untrennbar vom größeren Kampf gegen andere Formen von Rassismus und Diskriminierung versteht.
Das Definitions-Karussell und die „Bekämpfung“ des Antisemitismus
Seit Veröffentlichung der JDA-Definition reißt die Debatte nicht ab, ob sie mehr Klarheit ermöglicht oder die gleichen Schwächen wie die IRHA-Definition aufweist. Uwe Becker, der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft bezeichnet die Jerusalemer Erklärung sogar als „Freibrief zur geradezu grenzenlosen ‚Israelkritik‘“ sowie als „Zertifikat für Israelhass“.
Auf der anderen Seite wird betont, dass Forscherinnen und Forscher, die sich zum Teil seit Jahrzehnten mit dem Holocaust und Judenhass beschäftigen, besser als Parlamentarier und Regierungen in der Lage seien, eine Antisemitismus-Definition vorzulegen und objektiv einzuschätzen, ob BDS als antisemitisch anzuprangern sei.
Ralph Lewini, der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeinderats, sieht den Zweck jeder Antisemitismus-Definition darin, dass sie als „Werkzeug“ geeignet zu sein hat, wenn „Antisemitismus effizient und effektiv bekämpft werden“ soll.
Die „Bekämpfung“ des Antisemitismus mittels einer Definition führt allerdings in die Irre und löst das Problem nicht. Denn auf diese Weise werden nicht die psychologischen Wurzeln und die sozialen Entstehungsbedingungen antisemitischer Vorurteile und Handlungsmuster erforscht. Vielmehr hat die „Bekämpfung“ zur Folge, Ausgrenzungen vorzunehmen, gesellschaftliche Spaltungen zu zementieren und Kritik im Keim zu unterdrücken.
Um Vorurteile wie den „echten“ Antisemitismus als unbegründet zu widerlegen, ist es in den meisten Fällen der falsche Ansatz, ihn zu „bekämpfen“. Es ist stattdessen vor allem erforderlich, seine Genese zu analysieren und gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die ein Zusammenleben der Menschen und der Völker in Freundschaft möglich machen. Im Konkurrenz- und Profitkapitalismus ist das allerdings schwer umsetzbar.
Schon heute aber ist es tunlich, die beabsichtigte Brandmarkung immer dann als demokratieschädigend zurückzuweisen, wenn jeglicher politischen Kritik an der israelischen Militär- und Besatzungspolitik der Stempel „antisemitisch“ aufgedrückt wird, um sie zum Schweigen zu bringen.
Erstveröffentlichung in der Wochenzeitung "Unsere Zeit" vom 21.5.2021
Online-Flyer Nr. 770 vom 29.05.2021
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