NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

zurück  
Druckversion

Aktuelles
WANTED - Julian Assange, ein Leben
Folge 4: DIE INTERNATIONALE SUBVERSIVE (1991)
Von Delphine Noels (Belgium4Assange) in Zusammenarbeit mit Marc Molitor, Pascale Vielle und Bogdan Zamfir - ins Deutsche übersetzt von Claudia Daseking

Ab Ende Oktober 2021 geht es in London wieder um den Antrag der USA auf Auslieferung von Wikileaks-Gründer Julian Assange. Am 27. Oktober 2021 wird das Berufungsgericht zum ersten Mal tagen. Die Zeit bis dahin begleitet die NRhZ mit einem CountDown von 34 Folgen über das Leben von Julian Assange. Sie wiederholt damit den Countdown von Belgium4Assange, der zum 4. Januar 2021 führte, als die britische Justiz ihr Urteil im Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange in der ersten Instanz gesprochen hatte. Belgium4Assange schrieb dazu: "Was steht bei diesem Prozess auf dem Spiel? Inwiefern betrifft uns das persönlich? Schwierig, hierzu klare Vorstellungen zu haben, da so viele Falschmeldungen und Desinformationen kursieren... Tag für Tag zeichnen wir seinen Weg voller Überraschungen und Enthüllungen nach und richten den Blick auf die näheren Umstände einer der fundamentalsten Kämpfe unserer Zeit." (Auf der website pour.press auf Französisch nachzulesen). Hier jetzt Folge 4:


Mit zwei Freunden, Trax und Prime Suspect, hatte Julian eine kleine total geheime Hackergruppe geschaffen, die noch viel politisierter war als The Realm. Sie nannten sich "Die Subversive Internationale" (IS). Trax ist ein genialer Phreaker (to phreak: Kofferwort bestehend aus "Freak" - "das Monster" - und „telefonieren“ und bedeutet das Hacken von Telefonleitungen, um Zugang zu freien Verbindungen zu erhalten). Er fand einen Weg, für IS einen völlig unauffindbaren Zugang zu Telefonleitungen zu ermöglichen. Julian hattte inzwischen ein Programm entwickelt, Cycophant, mit der die IS die Passwörter von Computern „absaugen“ konnte.



Dank dieses Programms und ihres außergewöhnlichen Talents als Hacker können die drei Freunde in Netzwerke eindringen, die viel geheimer und sensibler sind als die der NASA ... Jede Nacht dringen sie in Websites wie die der Citybank, des Pentagon, der US Navy oder des Atomkraftwerks Los Alamos. Sie schafften es, in die des US Military National Coordination Center zu gelangen, dessen Aufgabe es war, das gesamte amerikanische Computersystem zu schützen. Sobald sie auf den Websites sind, versuchen sie zu verstehen, wie die Website strukturiert ist, was dort vor sich geht, und sie versuchen, vertrauliche und geheime Dateien zu finden. Nur besuchen, niemals intervenieren, ist dabei ihre strenge Hackerethik.

Diese Nachthacks sollten sich für Julian als wahre politische Schule erweisen. Er verstand allmählich, dass der Repressionsapparat seine Macht aus seiner Fähigkeit bezieht, Dinge zu verbergen und geheim zu halten. Er ahnt, dass der Kampf dagegen diese Bereiche wieder ans Licht bringen könnte, und spürt, dass dies wahrscheinlich eine viel effizientere Art des Aktivismus wäre als die seiner Eltern. Er beginnt im Internet eine mögliches Wiederaufleben des Aufstandsmodells zu sehen. Er sagte: "Regierungen fürchten die Offenlegung dieser Geheimnisse mehr als Demonstrationen oder Barrikaden."

Die Subversive Internationale begann, ein hypervertrauliches Magazin zu führen. (siehe Foto), in dem sie die Computerschlüssel ihrer Hacks aufzeichnen. Nur wer hochrangige Artikel über Hacking veröffentlicht, konnte auf dieses Magazin zugreifen. Also hypervertraulich. Die Festplatten, auf denen Julian seine Funde, die Passwörter und die Informationen, die er in seinen Nächten gesammelt hat, aufzeichnet, versteckt er in seinem Bienenstock. Julian verbrachte Stunden damit, Akzeptanz bei seinen Bienen zu erlangen. Dank ihnen sind sie sicher. Jeder, der sich dem Bienenstock nähert, wird wahrscheinlich von Tausenden von Bienen angegriffen…!

Anonymität ist das Herzstück des Hacking-Prozesses. Darüber hinaus ist es eine Daseinsform geworden, ein Rahmen, der diesen politischen Aktivismus ermöglicht. Für Julian ist ein Pseudonym eine Maske, die es ermöglicht, "authentischer wahrhaftig zu sein". Er wird später sagen: "Wenn man ein Hacker ist, lebt man über, unter oder außerhalb der Reichweite seiner alltäglichen Freunde. Man lebt anders als die Norm, indem man nicht nur ein Pseudonym oder einen Decknamen verwendet, sondern eine ganze Reihe von Masken hinter den Masken. Deine Identität ist deine Aktivität. dein Wissen ist dein Gesicht."

Während eines Hacks in das Computersystem des kanadischen Telekommunikationsunternehmens Nortel wird ihre Piraterie erstmals entdeckt. Die australische Bundespolizei hat lange Zeit Ermittlungen zu den Internationalen Subversiven durchgeführt, der Codename dieser Operation: „Weather“.

Am 29. Oktober 1991, wenige Tage nach der Verhaftung seiner Freunde, wurde Julian ebenfalls in Melbourne verhaftet. (Es ist eine Zeit, in der Julian in einem besetzten Haus lebt. Er hat sogar eine kleine gemeinnützige Online-Immobilienagentur für leerstehende Wohnungen gegründet, die er katalogisiert, um Leuten bei der Wohnungssuche zu helfen.) Diese Verhaftung fällt mit einer sehr schmerzhaften Trennung zusammen. Julian gerät in eine schwere Depression, wegen der er für eine Weile in eine psychiatrische Klinik kommt. In ihrem Buch „Underground“ hebt Suelette Dreyfus hervor, dass viele Hacker unter psychischen Störungen leiden, sobald sie ihres Computers und ihrer Hacking-Aktivität beraubt sind. Julians Freunde kennen das alle. Prime Suspect ersetzt seine ihm genommenen Hacking-Sessions durch Drogen. Trax bekommt Anfälle von Paranoia und Agoraphobie, Störungen, die sie nicht kannten, als sie ihre Zeit vor ihrem Computer verbrachten. Dies gibt uns die Möglichkeit, die stabilisierende Funktion zu verstehen, die das Hacken in ihrem psychischen Gleichgewicht ausübte.

Während des Auslieferungsprozesses wurde die Frage nach der Asperger-Autismusdiagnose von Julian Assange von Anwälten der Verteidigung aufgeworfen. Christine Assange, Julians Mutter, bestätigt, dass es in der Familie mehrere Fälle von Autismus gibt, und verheimlicht nicht, dass sie Julian immer als autistisch angesehen hat. (Siehe auch seine Beziehung zu Maschinen, als er ein Kind war). Im Rahmen des Prozesses ist die Diagnose von Julian mit Asperger-Autismus von entscheidender Bedeutung, da dies allein schon nach der Rechtsprechung die Auslieferung verhindern würde. Die britische Justiz weigerte sich, den Hacker Lauri Love auszuliefern, wegen seines Autismus, da ihn seine mentale Fragilität im Falle einer Auslieferung selbstmordanfällig machen würde.

Julian, Trax und Prime Suspect mussten drei lange Jahre warten, bis sie ihre Anklage für den Prozess erhielten (1994) ... Der Prozess endete erst im Dezember 1996. Julian bekennt sich schuldig. Er kommt knapp um eine Gefängnisstrafe herum, erhält eine hohe Geldstrafe und muss Sozialstunden ableisten. In seinem Blog IQ.org erklärt Julian, inwieweit diese erste Konfrontation mit der Justiz dazu beigetragen hat, dass seine politische Vision Gestalt annahm.

Dieser Prozess sollte auch dazu führen, dass Julian Assange definitiv auf die Praxis des Hackens verzichtete.

Dies war der vierte Teil unserer Serie WANTED - Julian Assange, ein Leben, die in Belgien verfasst wird und vom 1.12. 20 bis 4.1.21 in drei Sprachen täglich erscheint. Morgen werden wir lesen, wie Julian nach diesem Prozeß weitermacht, ….


Quellen:

Dieser kleine Text basiert auf den entsprechenden Kapiteln zu IS aus Underground, Juliette Dreyfus & Julian Assange, Canongate Books Ltd, 2012
The most dangerous man in the world, Andrew Fowler, Skyhorse Publishing, 2011
Eine Ausgabe des Magazins IS ist auf Cryptome.org:
http://cryptome.org/2013/01/International_Subversive__Volume1.txt.gz


Wer mehr wissen will:

The most dangerous man in the world, Andrew Fowler, Skyhorse Publishing, 2011
The unauthorized autobiography, Julian Assange, Canongate Books Ltd, 2011.
L’Utopie déchue, Une contre histoire d’Internet, Felix Tréguer, Fayard, 2019
Zu Lauri Love:
https://www.ouest-france.fr/europe/royaume-uni/soupconne-d-etre-un-hacker-l-autiste-britannique-ne-sera-pas-extrade-aux-usa-5547011
Interview Lauri Love über Julian Assange:
https://www.youtube.com/watch?v=rHW_S5z-cWI


Link zu Folge 3: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27666
Link zu Folge 5: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27668



Siehe auch:

In einer Zeit, in der unter dem Deckmantel der Gesundheitsvorsorge eine ungeahnte digitale Überwachungsstruktur etabliert wird, fehlt WikiLeaks
Julian Assange: dem kommenden Überwachungsregime trotzen!
Von Erich Sturm
NRhZ 777 vom 22.09.2021
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27648

Online-Flyer Nr. 777  vom 25.09.2021

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE