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Globales
60. Jahrestag des Massakers von Paris
Paris, 17. Oktober 1961
Gedanken von Markus Heizmann (Bündnis gegen Krieg, Basel)

Mit Jahrestagen, mit Gedenktagen ist es so eine Sache... Sei es dass wir im Geschichtsunterricht dazu gezwungen wurden, sei es aus persönlichem Interesse oder aus persönlicher Betroffenheit, es gibt Daten im Jahr, an denen wir nicht vorbei kommen. Das allseits bekannteste Datum dürfte wohl der 1. Mai sein. Ein anderer Tag, der auch weltweit begangen wird, ist der 1. September (Weltfriedenstag). Nur unter GenossInnen, und wohl auch dort nur in bestimmten Kreisen, wird der Oktoberrevolution im zaristischen Russland gedacht. (25. Oktober). Viele Jahrestage werden verschämt verschwiegen, so zum Beispiel der 8. Mai des Jahres 1945. Nein, wir sprechen nicht von der offiziellen Kapitulation der deutschen Faschisten, welche ebenfalls an diesen Tag erfolgte. Die Rede ist vom Massaker von Sétif in Algerien. Den Massakern von Sétif und Guelma, die am 8. Mai 1945 begannen und bis Ende Juni 1945 andauerten, fielen bis zu 60.000 AlgerierInnen zum Opfer – ermordet von der französischen Armee, von französischen Milizen sowie von französischen Siedlerkolonialisten in Algerien. Diese ermordeten Menschen zählen, nach imperialistischer Zählung, nicht zu den Opfern des zweiten Weltkriegs. In Algerien hingegen gedenkt man der Opfer der Massaker. Frankreich indes, kann sich noch immer nicht dazu durchringen, seine kolonialen Verbrechen endlich nahtlos aufzuklären und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Wie auch? «La grande nation» hat seine kolonialen Ambitionen ja noch keineswegs auf dem Misthaufen der Geschichte entsorgt. Von Algerien bis Mali, von Guinea bis Syrien, vom Libanon bis nach Libyen oder nach Haiti: Frankreich wähnt sich noch immer als Großmacht. So wird denn in Frankreich der 14. Juli ausgiebig gefeiert, der Tag an dem das Volk 1789 die Bastille in Paris erstürmte und so die bürgerliche französische Revolution auslöste. Deren Motto «liberté, égalité, fraternité» (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), welches Frankreich bis heute vor sich her trägt, muss all den Opfern des französischen Kolonialismus rund um den Globus wie ein höhnischer Schlag ins Gesicht vorkommen.

Nicht nur Frankreich...

Nicht nur Frankreich weigert sich hartnäckig, sich mit den Verbrechen seiner Vergangenheit zu konfrontieren. Diese Art der Geschichtsklitterung ist bei sämtlichen europäischen Mächten courant normal. Ob Spanien oder Portugal, ob die Niederlande oder England, ob Italien, Deutschland, oder eben Frankreich, die kolonialen Verbrechen kommen im Diskurs entweder gar nicht vor oder sie werden geschönt. Während z.B. für die deutsche Politik die «bedingungslose Solidarität mit Israel» zur Staatsräson zählt, dürfen andere Opfer des deutschen Imperialismus und Faschismus nicht auf so viel Großmut hoffen. Das Abkommen welches der deutsche Staat mit Namibia schloss, wird nach Meinung der Herero, welche die hauptsächlichen Opfer des damaligen Völkermordes waren, dem Ausmaß des Verbrechens keinesfalls gerecht. Kritisiert wurde u.a. die Höhe der Reparationszahlungen von 1,1 Milliarden Euro, verteilt auf 30 Jahre. Auch wurden die Vertreter der Stämme nicht in die Verhandlungen einbezogen. (1) So soll mutmaßlich Missgunst geschürt werden, gemäß dem alten imperialistischen Grundsatz «divide et impera».

Spanien mischt sich in die Angelegenheiten Marokkos ein und hetzt nebenbei gegen Algerien. England beteiligt sich an den Angriffen gegen Irak und Afghanistan und über allem herrscht das Angriffsbündnis der NATO, immer bestrebt, die kolonialen und neo-kolonialen Strukturen seiner Mitglieder zu zementieren.

...Aber Frankreich ganz besonders

Wir müssen also, wenn wir Frankreich anklagen, das Ganze im Auge behalten. Frankreich steht mit seiner Aggressivität und mit seinen neo-kolonialen Kriegsgelüsten als NATO-Mitglied nicht allein da, sondern bewegt sich und politisiert im Verbund der NATO.

So können wir auch keinesfalls erwarten, dass irgendeine Regierung Frankreichs die in der Vergangenheit begangenen kolonialen Verbrechen aufarbeitet und sich um ein wahres, freundschaftliches Verhältnis mit den Völkern der Erde bemüht. Zu groß ist die Arroganz, zu verinnerlicht die Gewissheit, dass «die Kultur» aus Europa und die «Barbarei» aus dem Osten käme. Frankreich als Atommacht besetzt einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und fühlt sich möglicherweise auch deshalb bestärkt, sich in die Belange anderer Länder einzumischen. Am Ende des Tages erkennen wir jedoch nur noch die alte koloniale Gier nach den Reichtümern, die in den heimgesuchten Ländern geraubt werden. Sei es in Mali, in Syrien, in Algerien oder in Indochina: Nach Piratenmanier wurde und wird geraubt, gebrandschatzt und massakriert. Hinterher darf nach Belieben über diese Länder hergezogen werden: So wurde zum Beispiel Algerien von diversen französischen Machthabern als «Militärregime» bezeichnet. Der aktuelle offizielle Chef des französischen Regimes, Emanuel Macron, hetzt kontinuierlich gegen Algerien und liess sich sogar zu der Frage hinreißen «ob es vor der französischen Kolonialisierung überhaupt eine algerische Nation gab?» (2)

Es lässt sich nun darüber spekulieren, ob Macron eine solche Frage stellt, weil er provozieren will oder weil sein Wissen über die Geschichte der beiden Länder wirklich unter jedem erträglichen Niveau liegt.
 
Die Vorgeschichte zum 17. Oktober 1961

Die Ereignisse des 17. Oktober 1961 in Paris lassen sich nicht isoliert vom Befreiungskampf des algerischen Volkes betrachten. (3) Dieser Befreiungskampf dauerte von 1830 bis hin zur endgültigen Unabhängigkeit im Jahr 1962. also 132 (!) Jahre. Diese Zahl – 132 Jahre – beinhaltet 132 Jahre menschliche Opfer, Leid, Ausbeutung, Zerstörung und Widerstandskampf für das algerische Volk. Sie beinhaltet aber auch 132 Jahre rassistischen Dünkel, weisses Herrenmenschentum und unzählige Verbrechen seitens der französischen Besatzer. Es ist unmöglich, an dieser Stelle alle kolonialen Verbrechen, welche die französische Besatzung in Algerien begangen hat, aufzuzählen. Daher nur soviel: Widerstand gegen die französische Besatzung wurde von Beginn an geleistet, u.a. unter dem algerischen Freiheitshelden Emir Abd el Kader. (4)

Koordiniert und über ganz Algerien hinaus organisiert wurde der Kampf ab 1954 durch die FLN (Front de Libération Nationale, Nationale Befreiungsfont). Somit begann am 1. November 1954 der algerische Unabhängigkeitskrieg unter Führung der FLN in ganz Algerien. 1962 endete der Krieg mit dem Sieg der FLN und mit der Unabhängigkeitserklärung Algeriens. Das algerische Volk beklagte allein für die Zeit von 1954 bis 1962 eineinhalb Millionen Menschen, welche durch die französische Armee, durch deren Fremdenlegion oder durch die Siedlerkolonialisten ermordet wurden. Nicht eingerechnet sind dabei die Opfer vor 1954. Nicht eingerechnet sind auch nicht die menschlichen Tragödien, Verstümmelungen und Traumata, verursacht durch Folter und andere Gräueltaten. Noch heute werden in Algerien Kinder mit Missbildungen, verursacht durch die atomaren Versuche der französischen «force de frappe» in der algerischen Wüste, geboren. (5)

Was geschah am 17. Oktober in Paris?

Die FLN agierte als Befreiungsbewegung nicht nur in Algerien, wo sie den bewaffneten Kampf im Land gegen die Besatzer führte. Auch in Frankreich selbst waren Kräfte der FLN aktiv, dort allerdings kam es nur selten zu militanten Aktionen, obwohl die französische Regierung die FLN natürlich als „Terrororganisation“ bezeichnete. Bevorzugt agierte die FLN in Frankreich unter den zahlreichen algerischen MigrantInnen, wo sie große Sympathie genoss.

So kam es in ganz Frankreich immer wieder zu vereinzelten Demonstrationen der algerischen Gemeinde Frankreichs gegen die Besatzung ihrer Heimat. Maurice Papon, der Präfekt der Region Paris, erliess in der Folge ein Ausgangsverbot für «alle muslimischen Franzosen aus Algerien». [sic!]

Als Antwort auf dieses rassistische Dekret rief die FLN in Frankreich zu einer Demonstration in Paris auf. Algerische MigrantInnen aus dem ganzen Land folgten dem Aufruf. Sie wurden von den Polizeikräften Papons und von der CRS (6) bereits erwartet.

Was nun folgte, hatte niemand, der zu der Demonstration nach Paris gereist war, erwartet. Menschen, auch diejenigen, welche eigentlich gar nicht an der Demonstration teilnahmen, wurden allein weil sie «arabisch» aussahen, verhaftet, verprügelt oder hingemordet.

Raoul Létard, einer der Polizisten, die damals im Einsatz waren, bezeugt: «Man schoss auf alles, was sich bewegte, das war ein Horror. Die Körper verletzter oder toter Menschen häuften sich im Polizeieinsatzwagen an.» Létard erinnerte sich auch daran, dass seine Einheit bei ihrer Rückkehr aufs Kommissariat vom Kommandanten abgekanzelt worden sei, weil sie die Verletzten und die Leichen nicht einfach auf der Strasse liegen gelassen habe. (7)

In der Tat wurden die meisten der Ermordeten und der Verletzten nicht auf der Strasse liegen gelassen. Sie wurden in die Seine geworfen. Noch Wochen nach dem Massaker trieben Leichen und Leichenteile in der Seine. Die FLN zählte allein in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 200 ermordete DemonstrantInnen. Die Zahl erhöhte sich später auf fast 400. Die französischen Behörden sprachen anfangs von drei Toten, später erhöhten sie diese Zahl auf 32.

In der gleichen Nacht verhafteten die Sicherheitskräfte über 4000 Menschen. Deren einziges Delikt war es arabisch, oder eben wie NordafrikanerInnen auszusehen. Die Verhafteten wurden mehrere Tage unter brutalsten Bedingungen festgehalten und oft gefoltert. Als Kerker dienten Polizeiposten, Kasernen, aber auch Sportanlagen wie der Palais des Sports in Paris. Am 20. Oktober wurde dieser wieder geräumt und gereinigt, denn am Abend fand dort ein Konzert mit Ray Charles statt. Sämtliche Spuren wurden vernichtet, die blutige Nacht sollte geheim gehalten werden. Wie viele Menschenleben Ray Charles unwissentlich gerettet hat, weil sein Konzert ausgerechnet im Palais des Sports stattfand, kann nur spekuliert werden.

Vor dem Cinéma Rex im Zentrum von Paris wurden die DemonstrantInnen ebenso zusammen getrieben, verprügelt und erschlagen wie an der Brücke von Saint-Michel. Diese Brücke liegt nahe bei der Polizeipräfektur, in deren Innenhof viele der Opfer, oft nach Folterungen, erschlagen wurden. Viele von ihnen wurden an Händen und Füssen gefesselt oder betäubt durch die Schläge, ins kalte Wasser der Seine geworfen. Vieles davon geschah unter den Augen der Pariser Öffentlichkeit. Wie also kann etwas «geheim» gehalten werden, was vor aller Augen geschehen ist? Das Wort kollektive Verdrängung ist wohl eher angebracht.

Über 500 der Verhafteten wurden später in Konzentrationslager nach Algerien deportiert, einige auch in die französische Kolonie von Neukaledonien. Bis zum heutigen Tag ist das Massaker vom 17. Oktober in Frankreich weitgehend tabuisiert. Ausgerechnet an der „Passerelle de la fraternité“ wurde jedoch eine Gedenktafel angebracht, die an «die zahlreichen Algerier, die Opfer der blutigen Unterdrückung einer friedlichen Demonstration wurden» erinnert.

Die Konsequenzen für den Verantwortlichen

Maurice Papon, der Hauptverantwortliche für das Massaker wurde dafür niemals belangt. Dies weil ihm und allen anderen Tätern Straffreiheit gewährt wurde. General Charles de Gaulle anerkannte 1962 die Unabhängigkeit Algeriens. Gleichzeitig erließ er aber eine vollständige Amnestie für alle Straftaten französischer Soldaten in Zusammenhang mit dem Algerienkrieg. Papon wurde trotzdem vor Gericht gestellt: Nein, nicht für seine Verbrechen gegenüber dem algerischen Volk: 1998 wurde er wegen «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» angeklagt. Papon war während der deutschen Besatzung maßgeblich an der Deportation französischer Juden in die Konzentrationslager beteiligt. Dafür wurde er zu einer 20-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Bereits im Jahr 2002 kam er «aufgrund seines Gesundheitszustandes» wieder frei. Nach seiner Entlassung lebte Papon in seinem Geburtsort Gretz-Armainvilliers wo er im Jahr 2007 eines natürlichen Todes starb.
 
In Gedenken an den 17. Oktober 1961

Geschichte wird von den Herrschenden, von den Gewinnern geschrieben. Das dürfen wir nicht zulassen. Ereignisse wie das Massaker von Paris im Oktober 1961 dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Diese orwell‘sche Art der Geschichtsverfälschung muss ein Ende haben. Eine Nation, ein Land, welches Massaker verübt, von denen das hier behandelte in Paris ja nur ein Beispiel von vielen ist, hat jedes Recht verwirkt, sich «zivilisiert» zu nennen. Die barbarischen kolonialen Verbrechen – nicht nur in Frankreich – müssen aufgearbeitet und historisch korrekt dargestellt werden. Die neo-kolonialen Verbrechen Frankreichs und seiner imperialistischen NATO Kumpane müssen ein Ende haben! Die Rede ist von kontinuierlichen Angriffen und offenen oder latenten Einmischungen in die Belange souveräner Staaten. Die Rede ist von Hungerblockaden und einer aggressiven, kapitalistischen Wirtschaftspolitik. All das muss ein Ende haben! Der Kampf des algerischen Volkes ist ein Beispiel dafür, dass Kolonialismus und Unterdrückung keinen Bestand haben. Auch wenn der Kampf noch so lange dauern mag, die Gerechtigkeit und die Solidarität werden am Ende siegen!

Sehen wir uns noch an, wie der algerische Poet Kateb Yacine das Massaker von Paris beschreibt. Kateb Yacine (1929 - 1989) entstammte einer alten algerischen Familie. Seine Ausbildung am Collège de Sétif wurde 1945 unterbrochen, als er verhaftet wurde. Er hatte an der oben beschriebenen Demonstration in Sétif teilgenommen, in deren Folge es zu einem der Massaker des französischen Militärs und der französischen Polizei an Algeriern in Algerien gekommen war.


Schweigen

Französisches Volk, du hast alles gesehen
Ja, du hast mit deinen eigenen Augen alles gesehen
Du hast gesehen, wie unser Blut floss
Du hast die Polizei gesehen, wie sie die
Demonstranten niedergemacht hat
Und nachher in die Seine geworfen hat.
Die Seine hat nicht aufgehört, sich rot
zu verfärben
Um in den folgenden Tagen das Volk der Commune
An die Oberfläche heraus zu würgen
Gemarterte Körper, welche das Volk von Paris
An ihre eigenen Revolutionen, an ihre eigenen Widerstandskämpfe erinnerten.
Französisches Volk, du hast alles gesehen
Ja, du hast alles mit deinen eigenen Augen gesehen
Und jetzt, wirst du sprechen
Und jetzt, wirst du schweigen?

Kateb Yacine


Fußnoten:


1 https://de.rt.com/afrika/118323-verbaende-von-herero-und-nama-lehnen-vereinbarung-namibias-mitdeutschland-ab/ (Zugriff Oktober 2021)
2 https://de.rt.com/international/125181-streit-zwischen-algerien-und-frankreich/ (Zugriff Oktober 2021)
3 http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27427 (Zugriff Oktober 2021)
4 Abd el-Kader,‚Abd el-Kader, geboren 6. September 1808 in Guetna bei Mascara; gestorben 26. Mai 1883 im Exil in Damaskus) war ein algerischer Freiheitskämpfer und Gelehrter.
5 Ebenda: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27427 (Zugriff Oktober 2021)
6 Die Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS; deutsch Republikanische Sicherheitskompanien) sind ein kasernierter Verband der nationalen Polizeikräfte Frankreichs. Sie sind für ihre Brutalität berüchtigt. In unseren Tagen kamen sie vor allen bei den Protesten der „Gelbwesten“ zum Einsatz.
7 https://www.woz.ch/-2855 (Zugriff Oktober 2021)

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