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Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

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Kommentar
Albert Schweitzers „Appell an die Menschheit“ damals und heute
„Friede oder Atomkrieg“
Von Rudolf Hänsel

Der deutsch-französische Friedensnobelpreisträger, Pazifist und „Urwaldarzt“ Albert Schweitzer war einer der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts. Sein philosophisches Denken ging davon aus, dass sich Menschen beim Nachdenken über sich selbst und ihre Grenzen wechselseitig als Brüder erkennen, die über sich selbst und ihre Grenzen nachdenken. Im Zuge des Zivilisationsprozesses würde die Solidarität, die ursprünglich nur auf den eigenen Stamm bezogen war, nach und nach auf alle, auch unbekannte Menschen übertragen. In den 1950er-Jahren war Schweitzers Lehre der „Ehrfurcht vor dem Leben“ eine moralische Instanz, ein Leitbild im Kampf gegen die atomare Bewaffnung der Völker.

Doch das allgemeine Bewusstsein des einzelnen und der Völker fand bis heute keine Antwort auf die „Kain-Frage“ aus der biblischen Urgeschichte: „Bin ich der Hüter meines Bruders? Wieder bedroht uns die Katastrophe eines Atomkriegs wie zu Albert Schweitzers Zeiten vor nahezu 70 Jahren. Deshalb hat sein „Appell an die Menschheit“ – nachzulesen in der Schriftensammlung „Friede oder Atomkrieg“ (1) – nichts von seiner Aktualität eingebüßt.

Bertha von Suttner: „Die Waffen nieder!“

Noch nie konnten Probleme der Völker durch die Methode der Gewalt, den Krieg gelöst werden. Das ist heute nicht anders als in der bisherigen Menschheitsgeschichte. Der Rückfall in den Krieg ist ein Rückfall in die Barbarei, der sich auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens bemerkbar macht: er verursacht im Leben des Einzelnen wie der Völker unsägliches Leiden. Die täglichen TV-Bilder über den Krieg in der Ukraine gewähren uns einen nachhaltigen Eindruck dieses Leidens.

Die heutigen Kriege sind nicht mehr verantwortbar, sie sind obsolet geworden. Schon der Erste Weltkrieg war kein konventioneller Krieg mehr, er war Genozid, Völkermord, Volksmord. Und seither sind die illegalen Angriffskriege noch mörderischer, hinterhältiger, flächendeckender, genozidaler geworden.

Für den österreichischen Kultur-Historiker Friedrich Heer sind diese Kriege Vorbereitungen zur „Endlösung der Menschheitsfrage“ oder wie Bertha von Suttner in ihrem Roman „Die Waffen nieder!“ prophezeit: „Der Untergang für alle“ (2). Dies trifft für einen allseits befürchteten Krieg mit Atomwaffen ganz sicher zu.

Mahatma Gandhi schrieb nach dem Erscheinen des Romans in einem Brief an Bertha von Suttner: „Gott möge es so fügen, dass die Abschaffung des Krieges Ihrem Werke folge.“ (3) Alfred Nobel ließ sich durch Bertha von Suttner in seinem Testament zur Stiftung des Friedensnobelpreises anregen (4).

Die Geschichte – ein Werk des Menschen

Wir wissen heute, dass der Krieg ein Verhängnis ist. Auch wissen wir, dass seine Ursache nicht in der „menschlichen Natur“, sondern in der Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit unserer Sozialordnung begründet ist. Dieser Umstand darf uns nicht vergessen lassen, dass die Geschichte ein Werk des Menschen ist und dass man den Menschen ändern muss, wenn man die Welt ändern will. Demgemäß sind Aufklärung und Erziehung die wichtigsten Maßnahmen, die gegen den Krieg ergriffen werden können.

Noch können wir nicht sagen, wann sich das Menschheitsgewissen, dessen Mahnruf durch die Jahrhunderte geht, endgültig Gehör verschaffen wird. Aber wir zweifeln nicht daran, dass an der Frage, ob sich die Menschen in weit höherem Maße als bis heute zur allmenschlichen Solidarität bekennen werden, der Bestand des Menschengeschlechtes hängt.


Fußnoten:


(1) Schweitzer, A. (1984). Friede oder Atomkrieg. München
(2) Heer, F. In: Von Suttner, B. (1977). Die Waffen nieder! Einführung, S. VII
(3) A.a.O., S. XIV
(4) A. a. O.



English version:
Albert Schweitzer's "Appeal to Humanity" then and today
"Peace or Nuclear War"

By Dr. Rudolf Hänsel

The German-French Nobel Peace Prize winner, pacifist and "jungle doctor" Albert Schweitzer was one of the most important thinkers of the 20th century. His philosophical thinking was based on the assumption that when people reflect on themselves and their limits, they mutually recognise each other as brothers who reflect on themselves and their limits. In the course of the process of civilisation, solidarity, which was originally only related to one's own tribe, would gradually be transferred to all, including unknown people. In the 1950s, Schweitzer's doctrine of "reverence for life" was a moral authority, a guiding principle in the struggle against the nuclear armament of nations.

But the general consciousness of individuals and peoples has not yet found an answer to the "Cain question" from biblical prehistory: "Am I my brother's keeper? Once again, the catastrophe of a nuclear war threatens us as it did in Albert Schweitzer's time almost 70 years ago. That is why his "Appeal to Humanity" – which can be read in the collection of writings "Peace or Nuclear War" (1) – has lost none of its topicality.

Bertha von Suttner: "Lay Down Your Arms!"

Never before could the problems of peoples be solved by the method of violence, war. This is no different today than in the history of mankind so far. The backslide into war is a backslide into barbarism, which makes itself felt in all areas of social life: it causes unspeakable suffering in the lives of individuals as well as peoples. The daily TV images of the war in Ukraine give us a lasting impression of this suffering.

Today's wars are no longer responsible, they have become obsolete. Even the First World War was no longer a conventional war, it was genocide. Since then, the illegal wars of aggression have become even more murderous, more insidious, more widespread, more genocidal.

For the Austrian cultural historian Friedrich Heer, these wars are preparations for the "final solution of the human question" or, as Bertha von Suttner prophesies in her novel "Lay down your arms!": "The downfall for all" (2). This is certainly true for a universally feared war with nuclear weapons.

Mahatma Gandhi wrote in a letter to Bertha von Suttner after the publication of the novel: "God grant that the abolition of war may follow your works." (3) Alfred Nobel was inspired by Bertha von Suttner to endow the Nobel Peace Prize in his will (4).

History – a work of man

We know today that war is a calamity. We also know that its cause is not "human nature" but the injustice and inhumanity of our social order. This fact must not make us forget that history is a work of man and that man must be changed if the world is to be changed. Accordingly, enlightenment and education are the most important measures that can be taken against war.

We cannot yet say when the conscience of humanity, whose cry of admonition goes through the centuries, will finally make itself heard. But we have no doubt that the existence of the human race hangs on the question of whether people will profess all-human solidarity to a far greater extent than they have done up to now.


Footnotes:

(1) Schweitzer, A. (1984). Peace or nuclear war. Munich
(2) Heer, F. In: Von Suttner, B. (1977). Lay down your arms! Introduction, p. VII
(3) op. cit., p. XIV
(4) op. cit.



Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Lehrer (Rektor a. D.), Doktor der Pädagogik (Dr. paed.) und Diplom-Psychologe (Schwerpunkte: Klinische-, Pädagogische- und Medien-Psychologie). Als Pensionär arbeitete er viele Jahre als Psychotherapeut in eigener Praxis. In seinen Büchern und pädagogisch-psychologischen Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung und eine Erziehung zum Gemeinsinn und Frieden.

Dr. Rudolf Lothar Hänsel is a teacher (retired headmaster), doctor of education (Dr. paed.) and graduate psychologist (specialising in clinical, educational and media psychology). As a retiree, he worked for many years as a psychotherapist in his own practice. In his books and educational-psychological articles, he calls for a conscious ethical-moral values education and an education for public spirit and peace.




Online-Flyer Nr. 789  vom 20.04.2022

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