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Kommentar
Offener Brief an den Präsidenten der Russischen Föderation Vladimir Putin und an das russische Volk zum "Tag des Sieges" am 8./9. Mai
Warum wird der sozialistische Gedanke, die Idee der Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit immer wieder verraten?
Von Rudolf Hänsel

Präsident, mein Herr! Am 9. Mai finden in Ihrem Land und vielen anderen Ländern die Feierlichkeiten zum Ende des „Großen Vaterländischen Krieges“ statt – „mit Tränen in den Augen“. Eine Gelegenheit, dem russischen Volk und Ihnen, mein Herr, zu gratulieren. Aber auch die Gelegenheit, Sie persönlich, das russische Volk und die ganze Menschheit zu fragen, warum der sozialistische Gedanke, diese schöne Idee des Zusammenlebens in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, diese ehemalige Hoffnung der Proletarier der Welt, der Internationale, immer wieder verraten wird? 

Mein Herr, Sie wissen es besser als ich, ein „nachgeborener“ deutscher Wissenschaftler, welches unermessliche Leid Deutschland im Zweiten Weltkrieg dem russischen Volk zugefügt hat. Deshalb verfasste ich mit meinem Freund zum 8./9. Mai 2018 eine Öffentliche Erklärung in fünf Sprachen „Wir Europäer sagen NEIN zu einem Krieg gegen Russland!“, die von unzähligen namhaften Friedensforschern, Wissenschaftlern und anderen Bürgern unterschrieben wurde und auf der Homepage der „Neuen Rheinischen Zeitung“ immer noch unterschrieben werden kann.

Doch heute treibt Amerika Europa in einen Atomkrieg, wie es der ehemalige Linken-Politiker Oskar Lafontaine in RT Deutsch kürzlich formulierte. Und die Dämonisierung von allem Russischen gefährdet den Fortbestand der gemeinsamen Kultur des Westens mit Russland – einer nicht wieder gut zu machenden kulturellen Vereinsamung und Verarmung.

Die meisten Menschen sind verhetzt, fanatisch oder antikommunistisch, ohne überhaupt zu wissen, was das ist. Einem „echten“ Kommunisten ist unbehaglich in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung; er möchte das ändern. Unter der Fahne der braunen und schwarzen Diktatur – und der anderen Farben – ist Gewalt, Tod und Verderben. Sie fangen schon an mit dem Tod – bringen den Menschen um. Immer wieder werden Millionen von Menschen erschlagen wegen ihrer Gesinnung. Das wissen wir – aber das wird in unseren Zeitungen verschwiegen.

Das Prinzip im ehemaligen Russland war das Gerechtigkeitsprinzip. Man wollte die Ungerechtigkeit abschaffen. Aber die Natur des Menschen wurde noch nicht erkannt. Zur Zeit der russischen Revolution 1917 hat man weltweit noch nicht gewusst, wie der Mensch fühlt, denkt und reagiert. Vorgeherrscht hat die Angst vor dem Menschen. Die Exponenten des sozialistischen Gedankens waren eben Kinder ihrer Zeit. Sie haben den Zarismus erlebt, die Diktatur, das konservative Denken und die Kirche. Ihr Ziel war sehr schön und ideal. Es war von einem großen Ethos getragen. Sie waren davon überzeugt, dass andere Verhältnisse eintreten müssen und waren ehrlich bemüht, das zu ändern. Aber sie wussten nicht, wie sie die Gesellschaftsordnung umgestalten können. Als Kinder ihrer Zeit handelten sie noch nach dem Prinzip der Gewalt und des Zwangs.

Gewaltlosigkeit und Freiheit für den anderen konnten sie sich nicht vorstellen. Sie glaubten – und das ist bis heute so –, dass sie die Menschen zwingen müssen. Und das, obwohl es zur Zeit, als der sozialistische Gedanke wach wurde, bereits reife Menschen gab, die erkannt hatten, dass man die Gesellschaft nach der Revolution nur dann wirklich ändern kann, wenn man den Menschen absolut frei lässt. Keiner habe das Recht, über den anderen zu herrschen, ihm zu diktieren. Jeder Mensch soll – gemäß der Erkenntnis der menschlichen Natur – sich mit dem anderen zusammensetzen, sich mit ihm assoziieren und mit ihm aushandeln, wie er leben will. Das heißt, im Gespräch den Mitmenschen als Seinesgleichen ansehen.

Diejenigen, die das bereits erahnt und erkannt haben, waren die freiheitlichen Sozialisten und Anarchisten, die im Gegensatz zu den autoritären Sozialisten, den so genannten Marxisten, gestanden haben und von ihnen ständig bekämpft und verunglimpft wurden.
Wäre das russische Experiment geglückt und hätte die Gegenrevolution und die Verunglimpfung der freiheitlichen Sozialisten nicht stattgefunden, hätte sich Russland ruhig entwickeln können und es hätte möglicherweise keinen Zweiten Weltkrieg gegeben. Der rumänische Schriftsteller Panait Istrati (1884-1935) gab seinem politischen Reisebericht in die damalige Sowjetunion den Titel: „Auf falscher Bahn“.

Mein Herr, warum wird die schöne sozialistische Idee sowohl von Ihnen als auch von uns allen immer wieder verraten? Heute führen Sie einen erbarmungslosen Krieg gegen das ukrainische Volk, obwohl es zur rechten Zeit wohl andere, gewaltfreie Möglichkeiten der „feindlichen Abwehr“ gegeben hätte. Und auch das russische Volk ist nicht zufrieden, ist nicht frei. Die Menschen haben Angst vor dem anderen.

Die Idee des Sozialismus kann eben nur in Frieden und Freiheit gedeihen. Geben wir ihr wieder eine Chance!

Rudolf Hänsel
Doktor der Pädagogik, Lehrer, Diplom-Psychologe
11040 Belgrad / Serbien




English version:
Open letter to the President of the Russian Federation Vladimir Putin and to the Russian people on "Victory Day" on 8/9 May.
Why is the Socialist Idea, the Idea of Freedom, Peace and Justice Betrayed Again and Again?

By Rudolf Hänsel

President, Sir! On 9 May, your country and many other countries will be celebrating the end of the "Great Patriotic War" – "with tears in their eyes". An opportunity to congratulate the Russian people and you, sir. But also an opportunity to ask you personally, the Russian people and all humanity, why the socialist idea, this beautiful idea of living together in peace, freedom and justice, this former hope of the proletarians of the world, the International, is betrayed again and again? 

Sir, you know better than I, a "post-born" German scientist, what immeasurable suffering Germany inflicted on the Russian people during the Second World War. That is why, on 8/9 May 2018, together with my friend, I wrote a Public Declaration in five languages "We Europeans say NO to war against Russia!", which was signed by countless renowned peace researchers, scientists and other citizens and can still be signed on the homepage of the "Neue Rheinische Zeitung".

But today America is driving Europe into a nuclear war, as the former left-wing politician Oskar Lafontaine recently put it in RT Deutsch. And the demonisation of everything Russian endangers the continuation of the West's common culture with Russia – an irreparable cultural isolation and impoverishment.

Most people are rabid, fanatical or anti-communist without even knowing what that is. A "real" communist is uncomfortable with the capitalist social order; he wants to change that. Under the banner of the brown and black dictatorship – and the other colours – is violence, death and ruin. They already start with death – kill people. Again and again, millions of people are killed because of their beliefs. We know that – but that is not mentioned in our newspapers.

The principle in the former Russia was the principle of justice. They wanted to abolish injustice. But the nature of man was not yet recognised. At the time of the Russian Revolution in 1917, people all over the world did not yet know how people felt, thought and reacted. Fear of the human being prevailed. The exponents of socialist thought were children of their time. They had experienced czarism, dictatorship, conservative thinking and the church. Their goal was very beautiful and ideal. It was supported by a great ethos. They were convinced that other conditions had to occur and were honestly striving to change that. But they did not know how to transform the social order. As children of their time, they still acted according to the principle of force and of coercion.

They could not imagine non-violence and freedom for the other. They believed – and this is still the case today – that they had to force people. And this, although at the time when the socialist idea was awakened, there were already mature people who had realised that you can only really change society after the revolution if you leave people absolutely free. No one had the right to rule over the other, to dictate to him. Each person should – in accordance with the realisation of human nature – sit down with the other, associate with him and negotiate with him how he wants to live. That is, in conversation, to regard one's fellow human being as one's equal.

Those who had already divined and recognised this were the liberal socialists and anarchists, who stood in opposition to the authoritarian socialists, the so-called Marxists, and were constantly fought and denigrated by them. If the Russian experiment had succeeded and if the counter-revolution and the denigration of the liberal socialists had not taken place, Russia could have developed calmly and there might not have been a Second World War. The Romanian writer Panait Istrati (1884-1935) gave his political travelogue to the then Soviet Union the title: "On the wrong track".

Sir, why is the beautiful socialist idea betrayed again and again both by you and by all of us? Today you are waging a merciless war against the Ukrainian people, although there would probably have been other, non-violent possibilities of "enemy defence" at the right time. And the Russian people are not satisfied either, are not free. The people are afraid of the other.

The idea of socialism can only flourish in peace and freedom. Let us give it a chance again!

Rudolf Hänsel
Doctor of Education, Teacher, Graduate Psychologist
11040 Belgrade / Serbia


Online-Flyer Nr. 790  vom 04.05.2022

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