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Globales
Jean-Luc Mélenchon könnte ein linker Regierungschef unter Emmanuel Macron werden
Renaissance der Sozialpolitik
Von Hermann Ploppa
Für linke Politik ist auch Frankreich ein raues Pflaster. Als Vertreter linker Positionen sieht man sich umringt von Rechtspopulisten einerseits und den Staat entkernenden Neoliberalen vom Schlag eines Emmanuel Macron andererseits. Während sich die französischen Wähler bei der letzten Wahl zwischen diesen beiden Extrempolen entscheiden mussten, keimt nun bei der Besetzung der Nationalversammlung ein Hoffnungsschimmer in der Mitte auf. Der Sozialist Jean-Luc Mélenchon hätte eine Chance, Regierungschef zu werden, so sich ausreichend Abgeordnete in der Nationalversammlung hinter ihm vereinigen. Mélenchon steht für eine Abkehr von dem antidemokratischen, neoliberalen Kurs von Macron. Auf dem Weg zu seiner Einflussgewinnung liegen ihm allerdings noch einige Steine im Weg. Unabhängig von seinem etwaigen Erfolg stellt sich hierzulande die Frage, warum es in Deutschland kein Pendant zu Mélenchon gibt?
Frankreich kann sich jetzt auf fünf weitere Jahre Präsidentschaft mit Macron freuen. Zwar hassen die meisten Franzosen diesen wendigen Staubsaugervertreter im Präsidentenpalais. Macron hat aber die gequälten Franzosen erfolgreich erpresst: wenn Ihr mich nicht wählt, dann kommt diese schreckliche rechtsextreme Populistin Marine Le Pen!
Und obwohl in der ersten Runde der Präsidentenwahlen sich nur etwa ein Viertel der abgegebenen Wahlstimmen auf Macron lenken ließen, fanden sich in der wenig kurzweiligen Finalrunde viele Franzosen bereit, die Kröte Macron zu schlucken.
Pest oder Cholera.
Pest: Emmanuel Macron, der glitschige Jesuitenschüler und Absolvent des Young Leader-Programms des Weltwirtschaftsforums unter der gütigen Ägide des Ravensburger Professors Klaus Schwab. Das waren schon einmal fünf Jahre unter Präsident Macron, mit der Abschaffung der Vermögensteuer und der unternehmerfreundlichen Arbeitsmarktreform. Dazu zwei Jahre in Gefangenschaft unter dem Corona-Regime.
Cholera: Marine Le Pen. Sie steht für Abschaffung Erneuerbarer Energien, Förderung von Atomkraft und fossilen Energien. Senkung der Hilfe für Asylsuchende. Senkung oder Abschaffung der Mehrwertsteuer für Dinge des täglichen Gebrauchs. Das wäre in letzter Konsequenz die Zerschlagung des Nationalstaats durch Entzug wichtiger Einkommensquellen. Anarcho-Kapitalismus. Also in der Tendenz ein und dasselbe Elend, wahlweise serviert von Macron oder Le Pen.
Dabei sind die Franzosen um Haaresbreite an einer Finalrunde im Präsidentschaftswahlkampf mit einer echten Alternative vorbeigeschlittert. Der Sozialist Jean-Luc Mélenchon hätte nur einen Prozentpunkt mehr gebraucht, um anstelle von Le Pen ins Finish zu rauschen. Dann hätten die Franzosen sich für einen Kandidaten entscheiden können, der folgendes im Angebot hat: Wiedereinführung der Vermögensteuer; einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 1.400 Euro im Monat; Herabsetzung des Renteneintrittsalters auf sechzig Jahre. Mélenchon hätte als Präsident da weitergemacht, wo de Gaulle aufhören musste: nämlich beim Austritt aus dem Kriegsbündnis Nato sowie Austritt aus der Europäischen Union. Stattdessen sind die Franzosen jetzt zu fünf Jahren Macron verurteilt.
Nach guter alter Sitte
Vielleicht auch nicht. Denn nach den Präsidentschaftswahlen, die immer mit viel Tamtam abgefeiert werden, folgen sozusagen als Katerfrühstück sechs Wochen später die Parlamentswahlen. Und da rechnet sich der Linke Mélenchon realistische Chancen aus, Regierungschef unter Macron zu werden. Wie das? Sollte es Mélenchon gelingen, Chef der stärksten Fraktion in der neuen Nationalversammlung zu werden, muss ihn der Staatspräsident nach guter alter Sitte zu seinem Premierminister ernennen. Diese gute alte Sitte nennt man in Frankreich: Cohabitation.
Das gab es schon dreimal in den letzten vier Jahrzehnten. Zweimal musste der damalige sozialistische Staatspräsident Francois Mitterand seine Macht mit einem bürgerlich-konservativen Ministerpräsidenten teilen. Und einmal musste auch der konservative Gaullist Jacques Chirac sich mit einem sozialistischen Premier arrangieren. Hat ganz gut geklappt, fanden die Franzosen. Und so könnte das auch diesmal gut gehen. Nun sitzen allerdings in der französischen Nationalversammlung 577 Abgeordnete.
Für eine Teilhabe an der Macht bräuchte Mélenchon in etwa 270 Abgeordnete. Die Demoskopen bescheinigen ihm allerdings im Moment nur etwa 130 Abgeordnete für sein Wahlbündnis. Jedoch werden die Abgeordneten nach dem sogenannten Mehrheitswahlrecht gekürt. Das heißt: nur der kommt in das Parlament, der tatsächlich in seinem Wahlkreis die meisten Wahlstimmen ergattern konnte.
Dieses System ist ungerecht. Denn das macht es kleineren Parteien fast unmöglich, jemals in das Parlament zu kommen. Mélenchon allerdings hat rund um seine Sammlungsplattform La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) die Kommunistische Partei, die französischen Grünen und auch die Sozialdemokraten der PS unter seinen Fittichen vereinigen können. Und diese Partner haben jetzt schon längst ziemlich harmonisch die Wahlkreise unter sich aufgeteilt, sodass sie vereint erheblich bessere Chancen haben, in die Nationalversammlung gewählt zu werden.
Dieses Bündnis heißt Nouvelle Union Populaire Ecologiste et Sociale (NUPES), also: Neue volkstümliche ökologische und soziale Vereinigung. Die harmonische Zusammenarbeit motiviert möglicherweise auch Nichtwähler, diesmal zu den Urnen zu eilen. Und das Mehrheitswahlrecht ist immer wieder für Überraschungen gut. Im Jahre 1907 erlitt die SPD einen erheblichen Verlust der Mandate im deutschen Reichstag, obwohl die Sozialdemokraten einen bemerkenswerten Zuwachs an Wählerstimmen verzeichnen konnten. Der Labour-Regierung erging es nach dem Zweiten Weltkrieg ganz genauso. Warum sollten die Linken nicht diesmal zufällig auch von den Kuriositäten des Mehrheitswahlrechts profitieren?
Parteien vieler Couleur
Und Mélenchon dürfte sich als alter Hase im Politikgeschäft ganz gut gegen den Steilaufsteiger Macron behaupten. Mélenchons Politikerkarriere begann 1972 als trotzkistischer Studentenvertreter. Mitte der 1970er Jahre tritt er allerdings der von Francois Mitterand neu zusammengeklebten Parti Socialiste bei. Nun sind die Rahmenbedingungen französischer Parteien erheblich anders als in Deutschland. Es gibt links des Rheins keine ewig bestehenden Volksparteien wie bei uns SPD oder CDU/CSU. Seit dem Kriegsende wurden in Frankreich Parteien aller Couleur immer wieder aufgelöst und neu gegründet. Und immer handelt es sich bei diesen Wahlbündnissen um fragile Gebilde. Eigentlich eher dünne Außenhäute halten wenig geeinte In-Groups mühsam zusammen.
Und so gab es auch immer unzählige Strömungen innerhalb der Sozialistischen Partei Frankreichs. Mélenchon finden wir dabei stets am äußersten linken Rand. Mit seinen politischen Verbündeten betreibt er eigene Diskussionsforen und Zeitschriften. Seine parlamentarische Laufbahn beginnt er gleich ganz oben, nämlich im Senat, dem französischen Oberhaus. Später lässt er sich in das Europa-Parlament wählen.
Zunächst stimmt er für den Vertrag von Maastricht, weil er eine starke europäische Währung als Gegengewicht gegen den imperialistischen US-Dollar ansieht. Doch begreift er rasch, dass es hier nicht um die Stärkung der Rechte der europäischen Völker geht. So stimmt er konsequent gegen die Unterordnung der französischen Zentralbank in die neu geschaffene EZB in Frankfurt. Und auch die Ersetzung des Franc durch den Euro findet nicht seine Zustimmung.
Im September 2007 rechnet Mélenchon mit der Politik seiner Parti Socialiste erbarmungslos ab in seinem Bestseller En Quete de Gauche. Es ist nicht zu übersehen, dass die französischen Sozialisten mit ihrer Anbiederung an die britische New Labour und die deutsche Schröder-Agenda langfristig keinen Blumentopf gewinnen und dass sie ihrer eigenen Auslöschung entgegentaumeln.
Also gründet Mélenchon im Jahre 2008 nach dem Vorbild der deutschen Partei Die Linke seine eigene Parti de Gauche. Bei der Gründung ist auch Oskar Lafontaine dabei. Politisch klug dabei, ökologische Ansätze gleich mit aufzunehmen in die klassisch-sozialistische Farbpalette: „Kapitalismus und Ökologie sind inkompatibel!“ Auch das im klassischen Sozialismus sakrosankte Wachstumsdogma in der Wirtschaftspolitik wird infrage gestellt durch die Integration der Decroissance-Bewegung, die heute leider weitgehend der Vergessenheit anheimgefallen ist. Die politischen Neulinge erhalten bei den Wahlen zum Europaparlament im Jahre 2009 aus dem Stand 8,15 Prozent der Wählerstimmen in Frankreich.
So gestärkt, kandidiert Mélenchon 2012 bei der Präsidentschaftswahl und wird Vierter mit 11 Prozent der Stimmen. Und Mélenchon kann die Massen mobilisieren. Er macht sich stark für eine neue Verfassung, die von ihm so genannte Sechste Republik. Die Allmacht des Präsidenten soll geschleift werden und an die Stelle des präsidialen Roi Soleil soll die Basisdemokratie treten. Am 18. März 2012 scharen sich 120.000 Demonstranten um Mélenchon, um ihre Unterstützung für eine basisdemokratische Verfassung zum Ausdruck zu bringen. Am 5. Mai 2013 demonstrieren sogar 180.000 Menschen für die Sechste Republik.
Kampf gegen die Diktatur pur
2016 will Präsident Macron eine Arbeitsmarktreform durchsetzen, die, Sie ahnen es schon, eine „Flexibilisierung“ zuungunsten der Arbeiter und Angestellten durchpeitschen wollte. Da Macron dafür keine parlamentarische Zustimmung erhalten kann, peitscht er diese Verschlechterungen ganz kaltblütig mithilfe des Notverordnungsparagraphen 49.3 durch. Diktatur pur.
Auch im Kampf gegen diese antidemokratische und unsoziale Zumutung sehen wir Mélenchon ganz vorne. So ist es auch kein Wunder, dass Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2017 seinen Stimmenanteil glatt verdoppeln kann auf nunmehr fast 20 Prozent. Trotzdem ist er auch diesmal nur Vierter und das Finish gestalten Marine Le Pen und der Aufsteiger Macron. Der sozialistische Präsident Francois Hollande rechnete sich keine Chancen auf eine Wiederwahl aus und machte so den Weg frei für Macron, der schon als Wirtschafts-Superminister Hollande auf der Nase herumtanzte.
Um seinen gefährlichsten Widersacher loszuwerden, inszenierte Macron im Jahre 2019 eine schäbige Hausdurchsuchung in den Büros von La France Insoumise. Anlass der Kriminalisierung Mélenchons waren angebliche Unregelmäßigkeiten bei der Wahlkampfkostenerstattung und der heimlichen Besoldung von Mélenchon-Vertrauten durch die LFI. Natürlich hatten die Vorwürfe keine Substanz. Das Spektakel reichte aber aus, um die nervlich angegessenen LFI-Politiker öffentlich als Radaubrüder vorzuführen. Die Presse zeigte genüsslich einen sehr erregten Mélenchon. Bei der nachfolgenden Wahl zum Europa-Parlament verlor die LFI einige Prozentpunkte, und Mélenchon zog sich einstweilen aus der Öffentlichkeit zurück.
Wir kennen diese Praktiken aus der Corona-Kampagne, als Protagonisten der Protestbewegung ähnlich unfair angegangen wurden. Und selbstverständlich wird auch Mélenchon von der ehemals linken Presse wie Libération als Rechter geframed. Und die rechte Tageszeitung Le Figaro brandmarkt ihn wiederum als „wahnhaften Apostel der revolutionären Diktaturen“. Der uns nur allzu bekannte Zangengriff von pseudolinks und rechts also. Und selbstverständlich ist Mélenchon auch noch Antisemit, weil er sich für die Rechte der Palästinenser einsetzt. Zudem ist er ein Putin-Versteher, was ja nun gar nicht mehr geht.
Ein zweifelhaftes Gütesiegel
Nach einer kleinen Verschnaufpause warf Mélenchon also vor Kurzem seinen Hut erneut in den Ring, als es um die Kür des französischen Präsidenten ging. Und während ihn die Meinungsforscher nach dem altbewährten Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung in den demoskopischen Orkus von 15 Prozent entsorgen wollten, schnitt Mélenchon mit annähernd 22 Prozent überraschend gut ab. Das nimmt Mélenchon mit Humor: Er habe sich jetzt über die Jahrzehnte als „Wahlschildkröte“ langsam nach oben herangearbeitet. Er habe noch Zeit, so der mittlerweile Einundsiebzigjährige. Und er könnte jetzt bei den Parlamentswahlen noch einmal an Statur gewinnen.
Ob ihn Macron tatsächlich in den Wigwam der Cohabitation einladen würde, darf bezweifelt werden. Macron hat den klaren Auftrag, die Abwicklung des französischen Nationalstaats zugunsten der Globalkonzerne weiter gnadenlos fortzuführen. Er hat in der Vergangenheit im Rahmen der Arbeitsreform gezeigt, dass ihm demokratische Gepflogenheiten vollkommen gleichgültig sind. Und es ist ihm egal, dass die Mehrheit der Franzosen ihn hasst und verachtet. Das ist wohl eher ein Gütesiegel für ihn.
Uns hier in Deutschland sollte das Beispiel Mélenchon allerdings Mut machen. Die Positionen des „linkspopulistischen Demagogen“, so Der Spiegel, sind offensichtlich perspektivisch mehrheitsfähig: außenpolitische Blockfreiheit, Wiederherstellung der nationalen Souveränität. Neben gesetzlichem Mindestlohn von 1.400 Euro und garantierter Rente nach vierzig Erwerbsjahren setzt sich Mélenchon für eine komplette Kostendeckung in der Gesundheitsversorgung ein. Dabei sollte uns besonders ermutigen, dass der Senior in der Gruppe der Erstwähler im Alter zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren die meisten Anhänger hat. Mélenchons Positionen gehört also die Zukunft.
Es ist unglaublich, dass es in Deutschland keine einzige Partei im medialen Sichtbarkeitsbereich gibt, die dessen Programmatik auch nur in Spurenelementen vorweisen kann. Vielleicht sollte sich so mancher politische Stratege einmal überlegen, wer sich hinter der größten Partei bei den letzten Landtagswahlen verbirgt? Die größte Partei ist in Nordrhein-Westfalen die Partei der Nichtwähler mit über 40 Prozent. Könnte es daran liegen, dass es in Deutschland keine einzige Partei gibt, die die Positionen von Mélenchon und seinen Mitstreitern vertritt?
Hermann Ploppa ist Politologe und Publizist. Er hat zahlreiche Artikel über die Eliten der USA veröffentlicht, unter anderem über den einflussreichen Council on Foreign Relations. 2008 veröffentlichte er „Hitlers Amerikanische Lehrer“, in dem er bislang nicht beachtete Einflüsse US-amerikanischer Stiftungen und Autoren auf den Nationalsozialismus offenlegte. Sein Bestseller „Die Macher hinter den Kulissen – Wie transatlantische Netzwerke heimlich die Demokratie unterwandern“ sorgt nach wie vor für angeregte öffentliche Diskussionen.
Erstveröffentlichung am 19. Mai 2022 bei Rubikon
Online-Flyer Nr. 791 vom 25.05.2022
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Globales
Jean-Luc Mélenchon könnte ein linker Regierungschef unter Emmanuel Macron werden
Renaissance der Sozialpolitik
Von Hermann Ploppa
Für linke Politik ist auch Frankreich ein raues Pflaster. Als Vertreter linker Positionen sieht man sich umringt von Rechtspopulisten einerseits und den Staat entkernenden Neoliberalen vom Schlag eines Emmanuel Macron andererseits. Während sich die französischen Wähler bei der letzten Wahl zwischen diesen beiden Extrempolen entscheiden mussten, keimt nun bei der Besetzung der Nationalversammlung ein Hoffnungsschimmer in der Mitte auf. Der Sozialist Jean-Luc Mélenchon hätte eine Chance, Regierungschef zu werden, so sich ausreichend Abgeordnete in der Nationalversammlung hinter ihm vereinigen. Mélenchon steht für eine Abkehr von dem antidemokratischen, neoliberalen Kurs von Macron. Auf dem Weg zu seiner Einflussgewinnung liegen ihm allerdings noch einige Steine im Weg. Unabhängig von seinem etwaigen Erfolg stellt sich hierzulande die Frage, warum es in Deutschland kein Pendant zu Mélenchon gibt?
Frankreich kann sich jetzt auf fünf weitere Jahre Präsidentschaft mit Macron freuen. Zwar hassen die meisten Franzosen diesen wendigen Staubsaugervertreter im Präsidentenpalais. Macron hat aber die gequälten Franzosen erfolgreich erpresst: wenn Ihr mich nicht wählt, dann kommt diese schreckliche rechtsextreme Populistin Marine Le Pen!
Und obwohl in der ersten Runde der Präsidentenwahlen sich nur etwa ein Viertel der abgegebenen Wahlstimmen auf Macron lenken ließen, fanden sich in der wenig kurzweiligen Finalrunde viele Franzosen bereit, die Kröte Macron zu schlucken.
Pest oder Cholera.
Pest: Emmanuel Macron, der glitschige Jesuitenschüler und Absolvent des Young Leader-Programms des Weltwirtschaftsforums unter der gütigen Ägide des Ravensburger Professors Klaus Schwab. Das waren schon einmal fünf Jahre unter Präsident Macron, mit der Abschaffung der Vermögensteuer und der unternehmerfreundlichen Arbeitsmarktreform. Dazu zwei Jahre in Gefangenschaft unter dem Corona-Regime.
Cholera: Marine Le Pen. Sie steht für Abschaffung Erneuerbarer Energien, Förderung von Atomkraft und fossilen Energien. Senkung der Hilfe für Asylsuchende. Senkung oder Abschaffung der Mehrwertsteuer für Dinge des täglichen Gebrauchs. Das wäre in letzter Konsequenz die Zerschlagung des Nationalstaats durch Entzug wichtiger Einkommensquellen. Anarcho-Kapitalismus. Also in der Tendenz ein und dasselbe Elend, wahlweise serviert von Macron oder Le Pen.
Dabei sind die Franzosen um Haaresbreite an einer Finalrunde im Präsidentschaftswahlkampf mit einer echten Alternative vorbeigeschlittert. Der Sozialist Jean-Luc Mélenchon hätte nur einen Prozentpunkt mehr gebraucht, um anstelle von Le Pen ins Finish zu rauschen. Dann hätten die Franzosen sich für einen Kandidaten entscheiden können, der folgendes im Angebot hat: Wiedereinführung der Vermögensteuer; einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 1.400 Euro im Monat; Herabsetzung des Renteneintrittsalters auf sechzig Jahre. Mélenchon hätte als Präsident da weitergemacht, wo de Gaulle aufhören musste: nämlich beim Austritt aus dem Kriegsbündnis Nato sowie Austritt aus der Europäischen Union. Stattdessen sind die Franzosen jetzt zu fünf Jahren Macron verurteilt.
Nach guter alter Sitte
Vielleicht auch nicht. Denn nach den Präsidentschaftswahlen, die immer mit viel Tamtam abgefeiert werden, folgen sozusagen als Katerfrühstück sechs Wochen später die Parlamentswahlen. Und da rechnet sich der Linke Mélenchon realistische Chancen aus, Regierungschef unter Macron zu werden. Wie das? Sollte es Mélenchon gelingen, Chef der stärksten Fraktion in der neuen Nationalversammlung zu werden, muss ihn der Staatspräsident nach guter alter Sitte zu seinem Premierminister ernennen. Diese gute alte Sitte nennt man in Frankreich: Cohabitation.
Das gab es schon dreimal in den letzten vier Jahrzehnten. Zweimal musste der damalige sozialistische Staatspräsident Francois Mitterand seine Macht mit einem bürgerlich-konservativen Ministerpräsidenten teilen. Und einmal musste auch der konservative Gaullist Jacques Chirac sich mit einem sozialistischen Premier arrangieren. Hat ganz gut geklappt, fanden die Franzosen. Und so könnte das auch diesmal gut gehen. Nun sitzen allerdings in der französischen Nationalversammlung 577 Abgeordnete.
Für eine Teilhabe an der Macht bräuchte Mélenchon in etwa 270 Abgeordnete. Die Demoskopen bescheinigen ihm allerdings im Moment nur etwa 130 Abgeordnete für sein Wahlbündnis. Jedoch werden die Abgeordneten nach dem sogenannten Mehrheitswahlrecht gekürt. Das heißt: nur der kommt in das Parlament, der tatsächlich in seinem Wahlkreis die meisten Wahlstimmen ergattern konnte.
Dieses System ist ungerecht. Denn das macht es kleineren Parteien fast unmöglich, jemals in das Parlament zu kommen. Mélenchon allerdings hat rund um seine Sammlungsplattform La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) die Kommunistische Partei, die französischen Grünen und auch die Sozialdemokraten der PS unter seinen Fittichen vereinigen können. Und diese Partner haben jetzt schon längst ziemlich harmonisch die Wahlkreise unter sich aufgeteilt, sodass sie vereint erheblich bessere Chancen haben, in die Nationalversammlung gewählt zu werden.
Dieses Bündnis heißt Nouvelle Union Populaire Ecologiste et Sociale (NUPES), also: Neue volkstümliche ökologische und soziale Vereinigung. Die harmonische Zusammenarbeit motiviert möglicherweise auch Nichtwähler, diesmal zu den Urnen zu eilen. Und das Mehrheitswahlrecht ist immer wieder für Überraschungen gut. Im Jahre 1907 erlitt die SPD einen erheblichen Verlust der Mandate im deutschen Reichstag, obwohl die Sozialdemokraten einen bemerkenswerten Zuwachs an Wählerstimmen verzeichnen konnten. Der Labour-Regierung erging es nach dem Zweiten Weltkrieg ganz genauso. Warum sollten die Linken nicht diesmal zufällig auch von den Kuriositäten des Mehrheitswahlrechts profitieren?
Parteien vieler Couleur
Und Mélenchon dürfte sich als alter Hase im Politikgeschäft ganz gut gegen den Steilaufsteiger Macron behaupten. Mélenchons Politikerkarriere begann 1972 als trotzkistischer Studentenvertreter. Mitte der 1970er Jahre tritt er allerdings der von Francois Mitterand neu zusammengeklebten Parti Socialiste bei. Nun sind die Rahmenbedingungen französischer Parteien erheblich anders als in Deutschland. Es gibt links des Rheins keine ewig bestehenden Volksparteien wie bei uns SPD oder CDU/CSU. Seit dem Kriegsende wurden in Frankreich Parteien aller Couleur immer wieder aufgelöst und neu gegründet. Und immer handelt es sich bei diesen Wahlbündnissen um fragile Gebilde. Eigentlich eher dünne Außenhäute halten wenig geeinte In-Groups mühsam zusammen.
Und so gab es auch immer unzählige Strömungen innerhalb der Sozialistischen Partei Frankreichs. Mélenchon finden wir dabei stets am äußersten linken Rand. Mit seinen politischen Verbündeten betreibt er eigene Diskussionsforen und Zeitschriften. Seine parlamentarische Laufbahn beginnt er gleich ganz oben, nämlich im Senat, dem französischen Oberhaus. Später lässt er sich in das Europa-Parlament wählen.
Zunächst stimmt er für den Vertrag von Maastricht, weil er eine starke europäische Währung als Gegengewicht gegen den imperialistischen US-Dollar ansieht. Doch begreift er rasch, dass es hier nicht um die Stärkung der Rechte der europäischen Völker geht. So stimmt er konsequent gegen die Unterordnung der französischen Zentralbank in die neu geschaffene EZB in Frankfurt. Und auch die Ersetzung des Franc durch den Euro findet nicht seine Zustimmung.
Im September 2007 rechnet Mélenchon mit der Politik seiner Parti Socialiste erbarmungslos ab in seinem Bestseller En Quete de Gauche. Es ist nicht zu übersehen, dass die französischen Sozialisten mit ihrer Anbiederung an die britische New Labour und die deutsche Schröder-Agenda langfristig keinen Blumentopf gewinnen und dass sie ihrer eigenen Auslöschung entgegentaumeln.
Also gründet Mélenchon im Jahre 2008 nach dem Vorbild der deutschen Partei Die Linke seine eigene Parti de Gauche. Bei der Gründung ist auch Oskar Lafontaine dabei. Politisch klug dabei, ökologische Ansätze gleich mit aufzunehmen in die klassisch-sozialistische Farbpalette: „Kapitalismus und Ökologie sind inkompatibel!“ Auch das im klassischen Sozialismus sakrosankte Wachstumsdogma in der Wirtschaftspolitik wird infrage gestellt durch die Integration der Decroissance-Bewegung, die heute leider weitgehend der Vergessenheit anheimgefallen ist. Die politischen Neulinge erhalten bei den Wahlen zum Europaparlament im Jahre 2009 aus dem Stand 8,15 Prozent der Wählerstimmen in Frankreich.
So gestärkt, kandidiert Mélenchon 2012 bei der Präsidentschaftswahl und wird Vierter mit 11 Prozent der Stimmen. Und Mélenchon kann die Massen mobilisieren. Er macht sich stark für eine neue Verfassung, die von ihm so genannte Sechste Republik. Die Allmacht des Präsidenten soll geschleift werden und an die Stelle des präsidialen Roi Soleil soll die Basisdemokratie treten. Am 18. März 2012 scharen sich 120.000 Demonstranten um Mélenchon, um ihre Unterstützung für eine basisdemokratische Verfassung zum Ausdruck zu bringen. Am 5. Mai 2013 demonstrieren sogar 180.000 Menschen für die Sechste Republik.
Kampf gegen die Diktatur pur
2016 will Präsident Macron eine Arbeitsmarktreform durchsetzen, die, Sie ahnen es schon, eine „Flexibilisierung“ zuungunsten der Arbeiter und Angestellten durchpeitschen wollte. Da Macron dafür keine parlamentarische Zustimmung erhalten kann, peitscht er diese Verschlechterungen ganz kaltblütig mithilfe des Notverordnungsparagraphen 49.3 durch. Diktatur pur.
Auch im Kampf gegen diese antidemokratische und unsoziale Zumutung sehen wir Mélenchon ganz vorne. So ist es auch kein Wunder, dass Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2017 seinen Stimmenanteil glatt verdoppeln kann auf nunmehr fast 20 Prozent. Trotzdem ist er auch diesmal nur Vierter und das Finish gestalten Marine Le Pen und der Aufsteiger Macron. Der sozialistische Präsident Francois Hollande rechnete sich keine Chancen auf eine Wiederwahl aus und machte so den Weg frei für Macron, der schon als Wirtschafts-Superminister Hollande auf der Nase herumtanzte.
Um seinen gefährlichsten Widersacher loszuwerden, inszenierte Macron im Jahre 2019 eine schäbige Hausdurchsuchung in den Büros von La France Insoumise. Anlass der Kriminalisierung Mélenchons waren angebliche Unregelmäßigkeiten bei der Wahlkampfkostenerstattung und der heimlichen Besoldung von Mélenchon-Vertrauten durch die LFI. Natürlich hatten die Vorwürfe keine Substanz. Das Spektakel reichte aber aus, um die nervlich angegessenen LFI-Politiker öffentlich als Radaubrüder vorzuführen. Die Presse zeigte genüsslich einen sehr erregten Mélenchon. Bei der nachfolgenden Wahl zum Europa-Parlament verlor die LFI einige Prozentpunkte, und Mélenchon zog sich einstweilen aus der Öffentlichkeit zurück.
Wir kennen diese Praktiken aus der Corona-Kampagne, als Protagonisten der Protestbewegung ähnlich unfair angegangen wurden. Und selbstverständlich wird auch Mélenchon von der ehemals linken Presse wie Libération als Rechter geframed. Und die rechte Tageszeitung Le Figaro brandmarkt ihn wiederum als „wahnhaften Apostel der revolutionären Diktaturen“. Der uns nur allzu bekannte Zangengriff von pseudolinks und rechts also. Und selbstverständlich ist Mélenchon auch noch Antisemit, weil er sich für die Rechte der Palästinenser einsetzt. Zudem ist er ein Putin-Versteher, was ja nun gar nicht mehr geht.
Ein zweifelhaftes Gütesiegel
Nach einer kleinen Verschnaufpause warf Mélenchon also vor Kurzem seinen Hut erneut in den Ring, als es um die Kür des französischen Präsidenten ging. Und während ihn die Meinungsforscher nach dem altbewährten Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung in den demoskopischen Orkus von 15 Prozent entsorgen wollten, schnitt Mélenchon mit annähernd 22 Prozent überraschend gut ab. Das nimmt Mélenchon mit Humor: Er habe sich jetzt über die Jahrzehnte als „Wahlschildkröte“ langsam nach oben herangearbeitet. Er habe noch Zeit, so der mittlerweile Einundsiebzigjährige. Und er könnte jetzt bei den Parlamentswahlen noch einmal an Statur gewinnen.
Ob ihn Macron tatsächlich in den Wigwam der Cohabitation einladen würde, darf bezweifelt werden. Macron hat den klaren Auftrag, die Abwicklung des französischen Nationalstaats zugunsten der Globalkonzerne weiter gnadenlos fortzuführen. Er hat in der Vergangenheit im Rahmen der Arbeitsreform gezeigt, dass ihm demokratische Gepflogenheiten vollkommen gleichgültig sind. Und es ist ihm egal, dass die Mehrheit der Franzosen ihn hasst und verachtet. Das ist wohl eher ein Gütesiegel für ihn.
Uns hier in Deutschland sollte das Beispiel Mélenchon allerdings Mut machen. Die Positionen des „linkspopulistischen Demagogen“, so Der Spiegel, sind offensichtlich perspektivisch mehrheitsfähig: außenpolitische Blockfreiheit, Wiederherstellung der nationalen Souveränität. Neben gesetzlichem Mindestlohn von 1.400 Euro und garantierter Rente nach vierzig Erwerbsjahren setzt sich Mélenchon für eine komplette Kostendeckung in der Gesundheitsversorgung ein. Dabei sollte uns besonders ermutigen, dass der Senior in der Gruppe der Erstwähler im Alter zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren die meisten Anhänger hat. Mélenchons Positionen gehört also die Zukunft.
Es ist unglaublich, dass es in Deutschland keine einzige Partei im medialen Sichtbarkeitsbereich gibt, die dessen Programmatik auch nur in Spurenelementen vorweisen kann. Vielleicht sollte sich so mancher politische Stratege einmal überlegen, wer sich hinter der größten Partei bei den letzten Landtagswahlen verbirgt? Die größte Partei ist in Nordrhein-Westfalen die Partei der Nichtwähler mit über 40 Prozent. Könnte es daran liegen, dass es in Deutschland keine einzige Partei gibt, die die Positionen von Mélenchon und seinen Mitstreitern vertritt?
Hermann Ploppa ist Politologe und Publizist. Er hat zahlreiche Artikel über die Eliten der USA veröffentlicht, unter anderem über den einflussreichen Council on Foreign Relations. 2008 veröffentlichte er „Hitlers Amerikanische Lehrer“, in dem er bislang nicht beachtete Einflüsse US-amerikanischer Stiftungen und Autoren auf den Nationalsozialismus offenlegte. Sein Bestseller „Die Macher hinter den Kulissen – Wie transatlantische Netzwerke heimlich die Demokratie unterwandern“ sorgt nach wie vor für angeregte öffentliche Diskussionen.
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