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Aktueller Online-Flyer vom 30. Dezember 2024  

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Literatur
Weihnachtsaktion des Bonner Friedensbündnisses
Ein Lesezeichen fürs Gesangbuch
Von Ulrike Vestring

„Die Situation in Palästina ist ausweglos, was nicht heißt, dass ich die Menschen dort vergessen hätte – im Gegenteil. Aber ich kann nicht mehr von Hoffnung sprechen, wenn ich selbst nicht mehr daran glauben kann... Aber vielleicht können Gedanken und Aktionen über Meere und Grenzen hinweg unseren Freunden helfen durchzuhalten und nicht aufzugeben; denn wer aufgibt, sagt auch Bert Brecht, der hat schon verloren.“ Diese Zeilen einer Kölner Friedensfreundin erreichten mich während der Vorbereitungen zu unserer Weihnachtsaktion. Vielleicht waren es ähnliche Gedanken in den Köpfen von uns mehr und weniger frommen Bonner Friedensfreunden, die beim letzten Treffen zu einem schnell erreichten Konsens führten: ja, wir wollen wie schon im vergangenen Jahr an den Türen einiger Bonner Kirchen stehen und den Menschen, die zu den Weihnachtsgottesdiensten kommen, etwas in die Hand geben. Aber was? Ein Lesezeichen fürs Gesangbuch!

Später saßen wir zu dritt vor 200 farbigen Kartonkärtchen – aus einem Din A4-Bogen waren kostengünstig je neun Stück kopiert worden. Auf der Vorderseite Picassos Taube und darunter „Friede auf Erden“ mit Fragezeichen, und eine Aufzählung gegenwärtiger Kriegsschauplätze. Auf der Rückseite das Logo des Bonner Friedensbündnisses „Stoppt den Krieg.“ Und schließlich: „Wir suchen Antworten“. Blieb uns nur noch, die Kärtchen, um sie zu echten Lesezeichen zu machen, mit 'Bembeln' zu bestücken. Das ist sächsisch und bedeutete, wie wir von unserer Freundin Dagmar lernten, dass wir jedes Kärtchen mit einem Loch und einem durchgezogenen farbigen Bändchen zu versehen hatten.

Und nun also Heiligabend 2006, 22:30 Uhr, Treffen zur „Spätschicht“. Die für 18:00 Uhr geplante Schicht war wegen Erkrankung der Freiwilligen ausgefallen. Können wir nun doppelten Einsatz machen, drei mehr oder weniger angejahrte Friedensweiblein?

Erst einmal stellen wir aufatmend fest: der Platz vor dem romanischen Münster ist wieder frei vom unsäglichen Gewusel des Weihnachtsmarktes, Kinderkarrussell und Riesenrad sind verschwunden, Bratfisch und Rievkooche (rheinisch für Reibekuchen) sämtlich verschlungen. Kunst und Kitsch, unter Weihnachtslieder-Gedudel feilgeboten, müssen nun bis nächstes Jahr auf Käufer warten. Nur hier und da findet die Nase auf dem Platz noch eine Spur von fuselig-würzigem Glühweingeruch.

Am Hauptportal des Münsters tun wir einen Blick ins ehrwürdige Innere und sehen die dort bereits gedrängt stehenden Menschen. Sind wir zu spät? Aber nein, beruhigt uns der Mann an der Kirchentür. Er gehört zur Zunft der sozusagen akkreditierten Türhüter, die Kirchenbesuchern mit der einen Hand den schweren Türflügel öffnen und die andere für eine Spende offenhalten. Oh nein, Bettler sind sie nicht.

Solchen Türdienst hat heute Abend dieser gerade und aufrecht stehende Mittdreißiger, in dessen Gesicht Obdachlosigkeit und das Bemühen, sich darüber zu trösten, noch kaum Spuren hinterlassen haben. Er wird uns später empört erzählen: „Da hat doch eben einer zu mir gesagt: Hau ab, Du Penner. Die Leute werden immer unleidlicher …“ Wir quittieren’s mit zustimmendem Kopfschütteln, zwischen ihm und uns hat sich stillschweigend eine Solidarität entwickelt. Schließlich stehen auch wir draußen und erleben nicht nur Freundlichkeit von den zum Gottesdienst hastenden Menschen. Karin, die ganz allein am Seiteneingang Position bezogen hat, macht sich zwischendurch bei uns Luft: „Wie die drängeln, unfassbar. Eben hat mich eine Gruppe von Frauen richtiggehend umgerannt – ich glaub, die waren vom Kirchenchor.“ „Kann schon sein,“ murmele ich lakonisch und erinnere mich, wie man als chorsingende Hausfrau am Weihnachtsabend unter Druck gerät.

Mit den Körbchen, aus denen wir jeweils ein Lesezeichen am Bembel herausziehen, stehen Eva und ich am Fuß der Stufen, die zum Hauptportal hinunterführen. Dabei respektieren wir die mit dem Türhüter getroffene Abmachung und verdecken den Ankommenden nicht die Sicht auf seine Tür öffnenden und Obolus heischenden Hände.

„Guten Abend. Wir sind vom Bonner Friedensbündnis und schenken Ihnen ein Lesezeichen“, oder: „Ein Lesezeichen vom Friedensbündnis zum Fest des Friedens.“ Dabei unbedingt lächeln und Blickkontakt aufnehmen. Nicht alle der Angesprochenen reagieren abweisend und hasten vorbei. Viele nehmen das Kärtchen mit kurzem Dank, einige wollen sich mit einer Geldspende revanchieren. Wir weisen auf den Mann an der Türklinke, auch die paar Münzen, die sich zum Schluss doch in unseren Körbchen finden, gehen an ihn. Sehe ich das richtig, dass die am besten gekleideten Gottesdienstbesucher am wenigsten freundlich sind? Keine Hand frei für unsere Lesezeichen haben auch die Christmessenprofis, die mit Klappstühlen unterm Arm ins Kircheninnere streben. Zum Glück ist es heute Abend nicht wirklich kalt, aber ich frage mich doch langsam, wann mir das Lächeln auf meinem Gesicht gefrieren wird. Schlag elf, als die große Glocke schweigt, wird die Tür von innen geschlossen, der Türsteher nimmt seine Hand von der Klinke, wir tauschen Weihnachtswünsche, und er geht seiner Wege.

Unser zweiter Einsatz soll vor der evangelischen Kreuzkirche sein. Bis dahin bleibt uns eine knappe halbe Stunde. Die Stadt scheint ausgestorben. Aussichtslos, hier irgendwo einen Kaffee oder heißen Tee zu bekommen. Vor der Buchhandlung an der Ecke zwischen Universität und Kaiserplatz nehme ich die Thermosflasche und drei Becher aus meinem Rucksack, und auf den Eingangsstufen stehend stoßen wir mit Glühwein auf unseren Weihnachtsabend an.

Das ist wohl ein seltsamer Anblick, diese drei alten Schachteln Glühwein süffelnd vor der Buchhandlung. Mancher der Vorübergehenden dreht sich nach uns um, Kopf schüttelnd und mit neugierig-mitleidigem Blick. Von zwei männlichen Begleitern eingerahmt schreitet auch eine stadtbekannte Künstlerin und Feministin vorbei. Sie müsste mich kennen, aber sie sieht durch mich hindurch. Hätte ich das an ihrer Stelle vielleicht auch getan? Na ja.

Am unteren Ende des Kaiserplatzes verabschieden wir uns von Karin. Sie will nach Hause, reist morgen früh zu ihren Eltern. Eva und ich gehen zur Kreuzkirche am Rande des Hofgartens. Die Tür ist bereits geöffnet, wenige Menschen sitzen in dem weiten, von Kerzen matt erhellten Säulenraum. Im Vorraum der Küster. Er bietet uns freundlich ein Heft mit Weihnachtsliedern an „damit Sie gleich mitsingen können.“

Wir überreichen ihm ein Lesezeichen und erklären, weshalb wir gekommen sind. Ich finde es überhaupt nicht selbstverständlich, dass er antwortet: „Aber natürlich können Sie das machen … Bleiben Sie doch hier drinnen.“ Doch wir stellen uns lieber vor die weit geöffnete Kirchentür. Diesmal spüren wir nichts von dem Gegensatz zwischen draußen und drinnen, der uns vor dem Münster frösteln ließ. Kaum ein Kirchenbesucher, der unser bescheidenes Geschenk nicht annimmt. „Ein Lesezeichen vom Bonner Friedensbündnis … ein Lesezeichen zum Fest des Friedens“ - ich gebe mir Mühe, die Worte nicht herunterzuleiern, und fühle mich belohnt durch ein Lächeln, ein zustimmendes Wort. Die vier Leute, die jetzt vor uns stehen, sagen, sie seien nur zu Besuch hier, ja, Amerikaner seien sie, Quäker. Wir erzählen einander, wie es war, hier bei uns und bei ihnen drüben, als wir und so viele demonstrierten gegen den Krieg im Irak. Hat nichts gebracht, sagen wir, also versuchen wir‘s wieder, beim nächsten Krieg. Ich weise auf Eva, die seit fünf Jahren an jedem Samstag auf dem Bonner Münsterplatz zum Frieden mahnt.

Es schlägt Mitternacht, unsere Körbchen sind leer. Zweihundert bebänderte Lesezeichen verteilt an Menschen, die vielleicht merken, dass da hinter den Worten „Friede auf Erden“ ein deutliches Fragezeichen steht. Eva und ich sitzen nebeneinander auf der Kirchenbank. Wir singen die lieb gewordenen Lieder und hören die Geschichte von der Krippe in Bethlehem. Ist das wirklich der Ort in Palästina, an dem heute Menschen von Existenzverlust, Vertreibung, Tod bedroht sind, einfach weil dieses Bethlehem ihre Heimat ist?

Die Musik von der Empore, Chor, Orchester, Orgel, diese Musik schenkt mir einen Raum, in dem meine Gedanken zur Ruhe kommen. Vor mir auf den Bänken haben die Menschen Lesezeichen liegen. Ich denke, sie werden sie mitnehmen, wenn sie nach Hause gehen.

Eva und ich gehen zusammen die paar Schritte bis zur Tiefgarage der Universität. Nein danke, sage ich, als sie anbietet, mich nach Hause zu fahren, und wir umarmen uns zum Abschied. Ich genieße den nächtlichen Heimweg zu Fuß: in welcher anderen Stadt könnte ich so unbehelligt allein durch die Nacht gehen? Frieden, denke ich. Ein guter Abend. Aber was, bitte, haben die Menschen an den Kriegsorten davon, die wir auf unserem Kärtchen aufgezählt haben – die Menschen in Irak, in Afghanistan, in Darfur, im bitterarmen Somalia, das nun wieder, wie wir heute hörten, im Krieg liegt mit seinem ebenso bitterarmen Nachbarn Äthiopien? Und immer wieder Palästina/Israel: Besatzung, Krieg und Leid seit vierzig Jahren. Was hätte ich einem dieser Menschen heute Nacht zu sagen?

„Wer aufgibt, hat schon verloren“, schreibt die Kölner Freundin, und in einem anderen Brief heißt es: „Auch wenn so vieles verloren geht. Verliert die Hoffnung nicht...“ Auf unserem Lesezeichen steht „Wir suchen Antworten“. Ich habe keine gefunden, bisher nicht, und auch heute Abend nicht. Aber ich weiß, dass es sie gibt: Antworten von Frieden gegen Krieg, von Leben gegen Tod. Wir müssen weiter suchen.


Verfasst im Dezember 2007 - Entnommen aus dem Band "Hiergeblieben - Texte und Notizen aus Bonn" von Ulrike Vestring (erschienen im Dezember 2020)



Online-Flyer Nr. 793  vom 22.06.2022

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