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Seit dem 2. Juli 2022 auf seinem persönlichen "Long Walk 4 Assange"
Zu Fuß von Hamburg nach London für Julian Assange
Nikolai "Kolja" Rewin – interviewt von Andrea Drescher
Im September entscheidet endgültig der High Court in London über die Auslieferung von Wikileaks-Gründer Julian Assange in die USA. Was kann man tun, diesen mutigen Journalisten und Publizisten zu unterstützen? In einigen Städten gibt es Mahnwachen, es gibt Unterstützungskomitees, Petitionen und journalistische Unterstützung - meist jenseits der Mainstream-Medien. Allgemein herrscht die Vorstellung: "Der Einzelne kann ja eh nichts tun!". Nikolai "Kolja" Rewin aus Hamburg sieht das anders und startete am 2. Juli seinen persönlichen "Long Walk 4 Assange" – Hashtag longwalk4assange. Im Interview erzählt er warum und wie die Aktion bisher verlief.
Kolja am 5. August 2022 bei der freeAssange-Mahnwache in Köln (Fotos: arbeiterfotografie.com)
Wer ist der Mensch, der von Hamburg nach London läuft? Ein Verrückter? Kannst Du Dich kurz vorstellen, bitte?
Ein Verrückter, der sein Leben lebt, das kann man schon so sagen. Es ist vielleicht die große Angst, irgendwann im Sterbebett zu liegen und mich zu fragen: „Habe ich mein Leben gelebt? Ich hätte doch noch so viel erledigen können.“ Vor allem in der jetzigen Zeit finde ich es unglaublich wichtig, dafür einzustehen, was mir wichtig erscheint.
Aber ich bin auch ein ganz normaler Mensch, gehe auf die 40 zu, habe eine Partnerin und einen Sohn, der auch bei der Reise zeitweise mit dabei ist. Ich war seit meiner Schulzeit in der Pflege tätig, meine Studien-Versuche musste ich aus familiären Gründen immer wieder abbrechen. Zuletzt habe ich Vollzeit mit Menschen mit Behinderung gearbeitet, war dort die „Nachteule“. Aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen wurde ich leider krank. Der Umgang meiner Kollegen und der Gesellschaft mit der Situation haben mich richtig krank gemacht.
Mit „der Situation“ meinst Du Corona?
Ja, genau. Die Maßnahmen der letzten 2,5 Jahre, dass die Menschen, die wir betreuten, faktisch eingesperrt wurden, die Unterbesetzung, dauernd mit Maske arbeiten müssen … Die Kommunikation mit Menschen mit Behinderung ist ohne Mimik unheimlich anstrengend. Menschen, die in ihrer eigenen Wohnung leben und nur zeitweise von uns betreut werden, hat mein Arbeitgeber verboten, Besuch zu empfangen. War eine Wohnung von diesem Träger gemietet, durften die Menschen nicht für sich entscheiden, wie sie es handhaben. Besuch wurde – wenn überhaupt – nur getestet und mit Maske erlaubt, obwohl gerade bei Menschen mit Behinderung Selbstbestimmung ganz großgeschrieben wird. Dieser K(r)ampf um mich und die Menschen im Team, das hat mich einfach krank gemacht, ich konnte einfach nicht mehr.
Du bist jetzt krankgeschrieben?
Zunächst war ich krankgeschrieben, aber dann habe ich im Mai nach Rücksprache mit meiner Ärztin gekündigt. Es ist sinnlos, in dem Beruf bei diesen Voraussetzungen weiterzumachen, zumal die einrichtungsbezogene Impfpflicht auch im Raum stand. Ich sehe einfach keine Chance mehr, da weiterzuarbeiten. Ich musste mich neu sortieren.
Trotz der Belastungen bist Du aber in der Zeit auch aktiv auf der Straße gewesen?
Ja, seit fast zwei Jahren. Ich bin im Zuge der Demokratiebewegung auf die Mahnwache für Assange gestoßen und habe die Leute von der Mahnwache kennengelernt, die sich ein paar Monate vorher gegründet hatte. Seitdem war ich fast jede Woche dabei.
Kolja am 5. August 2022 bei der freeAssange-Mahnwache in Köln
Was bedeutet Julian Assange für Dich?
Julian Assange steht für mich für einen Journalisten, der wirklich etwas verändert hat, der die Machenschaften von reichen, einflussreichen Menschen aus Politik und Industrie aufgedeckt hat. Er ist sehr einflussreichen Menschen auf den Schlips getreten, die Veröffentlichung von so vielen Dokumenten in so kurzer Zeit war ein enormer Verdienst. Ich kenne ihn persönlich nicht, kann nichts über ihn als Mensch sagen, aber seine Arbeit schätze ich wirklich sehr. Und die Schmierenkampagne gegen ihn wurde von Nils Melzer und anderen sehr gut aufgearbeitet.
Warum hast Du Dich auf den Weg gemacht?
Ich stehe für eine Gesellschaft ein, in der ich leben möchte. Ich verallgemeinere jetzt natürlich, aber der so genannte freie, liberale, demokratische Westen, der an andere Machthaber oder Regierungen Forderungen stellt, sollte diese erst mal bei sich selbst umsetzen. Wir sollten zuerst bei uns anfangen. Darum trete ich für eine Gesellschaft ein, in der man Journalist werden kann, ohne dass eine Gefängnisstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis droht, wenn man seine Arbeit besonders gut macht. Ich wünsche mir das für die Gesellschaft, für meinen Sohn und letztendlich auch für mich. Ich möchte in einer Welt leben, in der Journalisten keine Repressalien befürchten müssen. Es sollen die Menschen verurteilt werden, die Verbrechen begehen, und nicht die Menschen, die Verbrechen aufdecken. Julian Assange war Publizist und Journalist und sitzt dafür im Hochsicherheitsgefängnis.
Ich war auf der Mahnwache aktiv und habe gesehen, wie viele Menschen einfach nur ihre Stimme abgeben. Menschen, die informiert sind, unterschreiben gerne Petitionen und Offene Briefe, geben also ihre Stimme ab. Für mich war diese Zeit aber vorbei, als die britische Innenministerin entscheiden sollte, ob er jetzt ausgeliefert werden darf oder nicht. Spätestens da musste ich mehr machen.
Mir ging schon öfters durch den Kopf, was man machen könnte, um Aufmerksamkeit auf den Fall zu lenken. Denn es gibt ja enorm viele, die weder den Fall noch Assange noch Wikileaks kennen. Es war für mich Zeit für eine Aufklärungs- und Mutmachaktion.
Kolja am 4. August 2022 bei den Leuchtturm-ARD-Protesten vor dem WDR in Köln
Was verstehst Du unter Aufklärungs- und Mutmachaktion?
Anfangs wollte ich hauptsächlich Aufmerksamkeit auf den Fall lenken und die Menschen informieren. Aber ich bin auf dem Weg vielen Menschen begegnet, die in einem persönlichen Gespräch sagten: „Meinst Du, das bringt überhaupt etwas? Die Mächtigen sind einfach zu stark, das war schon immer so.“ Wenn wir diese Haltung zulassen, wird es auch so bleiben, deswegen möchte ich Menschen Mut machen zu handeln, daher auch eine Mutmachaktion.
Was erwartest Du Dir von der Reise?
Eine Vernetzung von Menschen, auch der Menschen, die mich im Hintergrund unterstützen, und hoffentlich eine Million Menschen vor dem Gefängnis.
Ich denke, dass wir aufstehen müssen, um das zu erreichen, was wir wollen. Petitionen versagen, das erleben wir seit über einem Jahrzehnt. Erst war Assange in der Botschaft eingesperrt und jetzt ist er in einem Hochsicherheitsgefängnis, in Einzel- und Isolationshaft. Ich erwarte, dass wir als Gesellschaft aufstehen und einstehen für die Werte, die uns Politiker dauernd vorhalten. Ich erwarte, dass wir diese Werte auch einfordern. Ich weiß, das ist eine große Erwartung.
Andererseits will ich ihm auch Hoffnung machen. Wenn man Hoffnung hat, hält man länger durch. Er soll wissen, dass es Menschen gibt, die für ihn und für uns alle kämpfen.
Du bist ja schon eine Weile unterwegs, wie waren denn die ersten Tage? Es fing ja eher ungeplant an?
Ja, schon. Ich hatte gekündigt und dachte, jetzt nutze ich die Zeit, um das durchzuziehen. Es gab eine grobe Planung, ich habe mir den Anhänger besorgt und überlegt, wie ich vorgehe und was ich brauche, was für eine Strecke, wo sich ein Stopp lohnt. Das war es aber schon mit der Planung. Die ersten Tage, in denen ich mich auf die Situation einstellen musste, waren begleitet von Pannen, aber jetzt läuft es schon ziemlich gut.
Wo übernachtest Du?
Ab und zu werde ich eingeladen, meistens aber im Zelt. Ich suche mir dann ein schönes Plätzchen, wo ich zur Ruhe kommen kann. Dieser Sommer ist genial für so eine Aktion, relativ wenig Regen macht es leichter, auch wenn es tagsüber schon sehr heiß und anstrengend wird.
Wie viele Kilometer gehst Du jeden Tag?
20 bis 30 km waren geplant, alleine schaffe ich die auch, mein Rekord lag bei 40 km. Gehen andere mit, wird es weniger.
Wer ist denn dabei?
Es sind Aktivisten von anderen Mahnwachen ein Stück mitgekommen, aktuell ist meine Freundin mit dabei. Zeitweise haben uns auch unsere Kinder begleitet, die natürlich andere Bedürfnisse haben. Bei den krassen Temperaturen haben wir da nur ein paar Kilometer geschafft. Auch musste der Wagen umgebaut werden, damit die Kinder darauf sitzen können, aber die Kinder haben tolle Leistungen gebracht.
Wieviel wiegt denn der Wagen?
Ziemlich viel. Es ist ja auch Werkzeug drin, da auf Reisen mal Sachen kaputtgehen. Dann die Essensutensilien, auch für die Kinder, große Pfanne, Topf, Schüsseln, Besteck, das Essen, zwei große Wanderrucksäcke und viel Wasser. Allein der Holzumbau für die Kinder ist 20 kg schwer. Dann der Holzständer für das Plakat, das sichtbar sein soll. Die Konstruktion ist absenkbar, damit ich unter Ampeln durchkomme. Insgesamt hat er sicher 50 bis 60 kg. Auf flachem Gelände ist das kein Problem, aber bei Hügeln …
Die Kinder schlafen auch im Zelt?
Ja, die Kinder haben auch im Zelt geschlafen, sind jetzt aber nicht mehr dabei.
Wie erlebst Du die Reise – wie reagieren die Menschen?
Etwas erschreckend: Im Großen und Ganzen interessieren sich die Menschen kaum dafür, aber es gibt einige, die eine Reaktion zeigen. Ganz prägnant war ein Erlebnis in Düsseldorf. Dort lief ich durch die Stadt und ein Mensch hat mich aus seinem Tesla angehupt und mir den Daumen hoch gezeigt. Da er an der nächsten Ampel stehenblieb, wollte ich ihm meinen Zettel mit Informationen reichen, aber da hat er einfach die Scheibe geschlossen. Das war eine ganz bizarre Situation. Daumen hoch war ok, aber nicht interagieren.
Viele wollen sich einfach nicht tiefer damit auseinandersetzen. Auch heute hatte ich wieder so ein Erlebnis. Der Mensch, mit dem ich sprach, kannte den Fall, aber als das Gespräch tiefer ging, wollte er ganz schnell nach Hause. Sobald die Kriege des Westens angesprochen werden, wird es unangenehm.
Julian Assange steht ja für die Aufdeckung von Menschenrechtsverbrechen, die jetzt an ihm ausgeübt werden. Er steht für Folter in Guantanamo, Abu-Ghraib und allen möglichen Gefängnissen, die quasi von der CIA und anderen Geheimdiensten betrieben werden. Wenn man das oder unsere Kriege wie beispielsweise Afghanistan anspricht, endet das Gespräch oft schnell.
Da ist eine innere Abwehrhaltung, ein Schutzmechanismus: Wenn man die Situation anerkennt, dann müsste man ja aktiv werden und könnte nicht mehr einfach nur gegen den Angriff Russlands wettern und die anderen Kriege ignorieren.
Gab es auch Positives?
Natürlich. Es gab sehr schöne Erlebnisse und Begegnungen. Teilweise kann ich meine Grenzen austesten. Um die Demokratie-Bewegung im Raum Aachen, im Dreiländereck, zu treffen, die einen fixen Termin hatten, mussten wir mit dem Wagen 7 km sprinten, außerdem 220 m Höhenunterschied überwinden, und das in 1 Stunde 20 Minuten. Das hat unheimliche Kräfte mobilisiert, um rechtzeitig dort zu sein. Die Tage danach waren wir recht erschöpft, aber dafür haben wir das gerade noch irgendwie geschafft.
Wie reagieren denn die Menschen, wenn sie Dich mit dem Wagen sehen?
Gelegentlich gibt es ein Hupsignal oder einen Daumen hoch. Ganz selten halten Menschen wirklich an, um mir zu danken und den persönlichen Kontakt zu suchen. Dann entstehen natürlich Gespräche. Es gibt Zuspruch, manchmal eben die Frage, ob es sinnvoll ist oder nicht. Da sind die Menschen unterschiedlicher Meinung. Sehr häufig muss ich tatsächlich Aufklärungsarbeit leisten, weil die Menschen einfach nichts wissen. Ich habe inzwischen Infozettel drucken lassen, auf denen Quellen drauf sind, damit sich die Menschen weiter informieren können. Nils Melzer ist z.B. eine dieser Quellen, er hat ja sehr viel zur Aufklärung des Falles beigetragen.
Wie reagieren die Medien, die Mainstream-Medien insbesondere?
Seitens des Mainstreams reagieren nur Lokalredaktionen. Also, ich bin glücklich, dass sie sich auch als Plattform anbieten, den Fall Assange nochmal zu beleuchten. Die Artikel berichten aber viel mehr über mich als über das, was Julian Assange passiert, dass das Rechtssystem in Großbritannien versagt hat.
Das werde ich jetzt natürlich auch eher tun. In den alternativen Medien ist der Fall ja auch bekannt.
Genau, also in den freien Medien werden solche wichtigen Themen angesprochen. Für mich sind das freie Medien, die durch die Menschen finanziert werden und ohne ideologische Vorgaben für die Menschen schreiben.
Frustriert es Dich nicht, dass die Menschen sich nicht auf das Thema einlassen wollen?
Bei den Menschen … genau dafür werbe ich ja, dafür mache ich diesen Lauf. Die Menschen müssen wieder aufstehen, wir müssen wirklich einfordern, was uns wichtig ist. Sonst führt das nicht nur zu Unrecht wie im Fall Assange. Sonst passieren Dinge, die nicht in unserem Sinne, nicht im Sinne unserer Kinder, nicht im Sinne unserer Alten sind.
Wie meinst Du das?
Ein einfaches Beispiel: Ich habe vor kurzem einen Rentenbescheid bekommen, ich arbeite ja schon lange in der Pflege und werde noch 28 Jahre bis zu meiner Rente arbeiten. Laut diesem Bescheid soll meine Rente 670 Euro betragen. Damit kann ich noch nicht mal die kleine Wohnung in Hamburg finanzieren, die nahe einer Autobahn und mitten in der Einflugschneise liegt. Die ist jetzt nichts Großartiges, aber selbst diese einfache Wohnung werde ich mit dieser Rente nicht finanzieren können. Worauf steuern wir zu?
Ich habe in der lang beklatschten Pflege gearbeitet. Wir haben die versprochenen Corona-Boni nie erhalten. Was soll das? Ich treffe Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben und jetzt in ihrer Verzweiflung Flaschen sammeln, damit sie überhaupt überleben. Volker Pispers hat schon vor Ewigkeiten vorgerechnet, dass wir auf eine Altersarmut von 40 Prozent bei der arbeitenden Bevölkerung zulaufen. Da müssen die Menschen selbst etwas dagegen tun und nicht nur mit den Schultern zucken und sagen „da kann man nichts machen“.
Du willst die Menschen motivieren, sich selber für ihre Zukunft einzusetzen?
Ja, man muss wieder mit anderen ins Gespräch kommen, man muss lernen, sich selbst Informationen zu beschaffen. Man darf nicht nur warten, man darf sich nicht mehr alles gefallen lassen. Man muss wieder für Gerechtigkeit einstehen, auch für globale Gerechtigkeit. Es sind große Ziele, aber irgendwer muss ja damit anfangen.
Wie lange bist Du schon unterwegs?
Ich habe tatsächlich den Luxus, die Zeit jetzt nicht im Blick zu haben, aber heute ist der 11. August, d.h. ich gehe schon einen Monat und neun Tage.
Wo bist Du jetzt?
Ich bin gerade in Aachen auf einem Parkplatz.
Wann, glaubst Du, wirst Du in London ankommen?
Ich habe schon über die Hälfte der Strecke hinter mir – etwas unter 700 km. Noch sind es ca. 500 km bis London – zumindest der Fußweg. Daher hoffe ich, dass die Reise in vier Wochen vorbei ist, also zumindest mein Lauf. Der Kampf um Frieden, Freiheit und Demokratie wird wohl nie enden.
Wie geht es Dir jetzt im Moment?
Ich merke, wie mein Körper wächst, ich habe wirklich krasse Muskeln bekommen, aber auch riesige Adern. Die Beine schmerzen, die Tiefenmuskulatur ist wirklich angespannt. Termindruck wie in Aachen tut mir nicht gut. Und gerade jetzt bin ich ein bisschen gestresst, weil eben jemand auf den Parkplatz kam und meinte: „Gehen Sie bitte weg mit dieser politischen Botschaft“.
Was hast Du heute noch vor?
In der Nähe vom Hambacher Forst habe ich einen jungen Menschen kennengelernt, der Julian Assange kennt und mir für die Aktion gedankt hat. Er meinte, in Aachen gäbe es ein autonomes Zentrum, wo ich mal anklopfen und mich vernetzen soll. Ansonsten soll es hier eine kleine Gruppe aktiver Menschen geben, aber es ist nichts organisiert worden.
Dann gehört es zu meinem Standardprogramm, bei den Kirchen anzuklopfen und bei lokalen Medien vorbeizuschauen, um die Menschen dort auf den Fall aufmerksam zu machen. Ich frage: „Wie kommt es denn, dass Ihr so wenig darüber berichtet?“ Bei Kirchen möchte ich die Pastoren bitten, dass sie die Gemeinde aufklären, dass es diesen Gefangenen in Großbritannien gibt. Es ist aber gar nicht so leicht, da die meisten Kirchenhäuser geschlossen sind. Ansonsten denke ich, dass wir die niederländische Grenze heute noch erreichen werden. Wir sind jetzt auf dem Weg nach Maastricht.
Abschließend, was wünschst Du Dir?
Gestern bin ich an einer Haltestelle vorbeigelaufen, die hieß „Zukunft“. Dort habe ich ein Foto gemacht. „Zukunft“ und „Freiheit für Assange“ – das ist für mich ein Symbol dafür, dass wir das mit der Freiheit und der Demokratie ernst nehmen.
Ich wünsche mir eine erstarkte Gesellschaft, in der wir kommunizieren, was uns wichtig ist, und mehr miteinander reden. Ich wünsche mir, dass wir erkennen, dass das Spaltungsinstrument nur einigen wenigen, sehr einflussreichen Menschen dient. Wir sollten übereinstimmen, dass wir in einigen wenigen Themen eben nicht übereinstimmen, uns davon aber nicht spalten lassen. Denn gemeinsam können wir sehr viel erreichen.
Und dann wünsche ich mir, dass möglichst viele Menschen gelbe Bänder mit den Worten „FreeAssange“ aufhängen.
Wieso das?
Es gab das Lied „Tie a yellow ribbon round the old oak tree“ – das gelbe Band symbolisiert, dass jemand willkommen ist. Es wird von einer internationalen Assange-Unterstützergruppe als Symbol für die Freilassung Assanges genutzt und man will damit sagen, dass er überall willkommen ist.
Wenn Menschen dieses Symbol an ihrer Haustür oder an der Kirche sichtbar platzieren, wird an ihn erinnert. Er soll ja aus der Wahrnehmung der Menschen ausgemerzt werden. So bleibt er in der Erinnerung der Gesellschaft – und wer den Fall nicht kennt, fragt sich vielleicht: „Wer ist Assange?“ Ich mache das auf meiner Reise immer wieder an Plätzen, an denen viele Menschen vorbeigehen.
Dann wünsche ich Dir noch einen guten Marsch heute, viele positive Kontakte und dass Deine Wünsche in Erfüllung gehen.
Vielen Dank. Etwas möchte ich noch loswerden.
Gerne.
Ich möchte allen Unterstützern meinen Riesendank aussprechen – ohne Euch wäre das alles so nicht möglich. Vielen lieben Dank! Das ist unheimlich wichtig für mich, dass es Euch gibt!
Kolja vor der Galerie Arbeiterfotografie in Köln
Informationen zum aktuellen Verlauf der Reise findet man online
Kolja an der Galerie Arbeiterfotografie in Köln - mit freeAssange-Aktivisten, die auf dem Weg zur Mahnwache am Kölner Dom sind
Erstveröffentlichung des Interviews bei NachDenkSeiten
Online-Flyer Nr. 797 vom 31.08.2022
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Globales
Seit dem 2. Juli 2022 auf seinem persönlichen "Long Walk 4 Assange"
Zu Fuß von Hamburg nach London für Julian Assange
Nikolai "Kolja" Rewin – interviewt von Andrea Drescher
Im September entscheidet endgültig der High Court in London über die Auslieferung von Wikileaks-Gründer Julian Assange in die USA. Was kann man tun, diesen mutigen Journalisten und Publizisten zu unterstützen? In einigen Städten gibt es Mahnwachen, es gibt Unterstützungskomitees, Petitionen und journalistische Unterstützung - meist jenseits der Mainstream-Medien. Allgemein herrscht die Vorstellung: "Der Einzelne kann ja eh nichts tun!". Nikolai "Kolja" Rewin aus Hamburg sieht das anders und startete am 2. Juli seinen persönlichen "Long Walk 4 Assange" – Hashtag longwalk4assange. Im Interview erzählt er warum und wie die Aktion bisher verlief.
Kolja am 5. August 2022 bei der freeAssange-Mahnwache in Köln (Fotos: arbeiterfotografie.com)
Wer ist der Mensch, der von Hamburg nach London läuft? Ein Verrückter? Kannst Du Dich kurz vorstellen, bitte?
Ein Verrückter, der sein Leben lebt, das kann man schon so sagen. Es ist vielleicht die große Angst, irgendwann im Sterbebett zu liegen und mich zu fragen: „Habe ich mein Leben gelebt? Ich hätte doch noch so viel erledigen können.“ Vor allem in der jetzigen Zeit finde ich es unglaublich wichtig, dafür einzustehen, was mir wichtig erscheint.
Aber ich bin auch ein ganz normaler Mensch, gehe auf die 40 zu, habe eine Partnerin und einen Sohn, der auch bei der Reise zeitweise mit dabei ist. Ich war seit meiner Schulzeit in der Pflege tätig, meine Studien-Versuche musste ich aus familiären Gründen immer wieder abbrechen. Zuletzt habe ich Vollzeit mit Menschen mit Behinderung gearbeitet, war dort die „Nachteule“. Aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen wurde ich leider krank. Der Umgang meiner Kollegen und der Gesellschaft mit der Situation haben mich richtig krank gemacht.
Mit „der Situation“ meinst Du Corona?
Ja, genau. Die Maßnahmen der letzten 2,5 Jahre, dass die Menschen, die wir betreuten, faktisch eingesperrt wurden, die Unterbesetzung, dauernd mit Maske arbeiten müssen … Die Kommunikation mit Menschen mit Behinderung ist ohne Mimik unheimlich anstrengend. Menschen, die in ihrer eigenen Wohnung leben und nur zeitweise von uns betreut werden, hat mein Arbeitgeber verboten, Besuch zu empfangen. War eine Wohnung von diesem Träger gemietet, durften die Menschen nicht für sich entscheiden, wie sie es handhaben. Besuch wurde – wenn überhaupt – nur getestet und mit Maske erlaubt, obwohl gerade bei Menschen mit Behinderung Selbstbestimmung ganz großgeschrieben wird. Dieser K(r)ampf um mich und die Menschen im Team, das hat mich einfach krank gemacht, ich konnte einfach nicht mehr.
Du bist jetzt krankgeschrieben?
Zunächst war ich krankgeschrieben, aber dann habe ich im Mai nach Rücksprache mit meiner Ärztin gekündigt. Es ist sinnlos, in dem Beruf bei diesen Voraussetzungen weiterzumachen, zumal die einrichtungsbezogene Impfpflicht auch im Raum stand. Ich sehe einfach keine Chance mehr, da weiterzuarbeiten. Ich musste mich neu sortieren.
Trotz der Belastungen bist Du aber in der Zeit auch aktiv auf der Straße gewesen?
Ja, seit fast zwei Jahren. Ich bin im Zuge der Demokratiebewegung auf die Mahnwache für Assange gestoßen und habe die Leute von der Mahnwache kennengelernt, die sich ein paar Monate vorher gegründet hatte. Seitdem war ich fast jede Woche dabei.
Kolja am 5. August 2022 bei der freeAssange-Mahnwache in Köln
Was bedeutet Julian Assange für Dich?
Julian Assange steht für mich für einen Journalisten, der wirklich etwas verändert hat, der die Machenschaften von reichen, einflussreichen Menschen aus Politik und Industrie aufgedeckt hat. Er ist sehr einflussreichen Menschen auf den Schlips getreten, die Veröffentlichung von so vielen Dokumenten in so kurzer Zeit war ein enormer Verdienst. Ich kenne ihn persönlich nicht, kann nichts über ihn als Mensch sagen, aber seine Arbeit schätze ich wirklich sehr. Und die Schmierenkampagne gegen ihn wurde von Nils Melzer und anderen sehr gut aufgearbeitet.
Warum hast Du Dich auf den Weg gemacht?
Ich stehe für eine Gesellschaft ein, in der ich leben möchte. Ich verallgemeinere jetzt natürlich, aber der so genannte freie, liberale, demokratische Westen, der an andere Machthaber oder Regierungen Forderungen stellt, sollte diese erst mal bei sich selbst umsetzen. Wir sollten zuerst bei uns anfangen. Darum trete ich für eine Gesellschaft ein, in der man Journalist werden kann, ohne dass eine Gefängnisstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis droht, wenn man seine Arbeit besonders gut macht. Ich wünsche mir das für die Gesellschaft, für meinen Sohn und letztendlich auch für mich. Ich möchte in einer Welt leben, in der Journalisten keine Repressalien befürchten müssen. Es sollen die Menschen verurteilt werden, die Verbrechen begehen, und nicht die Menschen, die Verbrechen aufdecken. Julian Assange war Publizist und Journalist und sitzt dafür im Hochsicherheitsgefängnis.
Ich war auf der Mahnwache aktiv und habe gesehen, wie viele Menschen einfach nur ihre Stimme abgeben. Menschen, die informiert sind, unterschreiben gerne Petitionen und Offene Briefe, geben also ihre Stimme ab. Für mich war diese Zeit aber vorbei, als die britische Innenministerin entscheiden sollte, ob er jetzt ausgeliefert werden darf oder nicht. Spätestens da musste ich mehr machen.
Mir ging schon öfters durch den Kopf, was man machen könnte, um Aufmerksamkeit auf den Fall zu lenken. Denn es gibt ja enorm viele, die weder den Fall noch Assange noch Wikileaks kennen. Es war für mich Zeit für eine Aufklärungs- und Mutmachaktion.
Kolja am 4. August 2022 bei den Leuchtturm-ARD-Protesten vor dem WDR in Köln
Was verstehst Du unter Aufklärungs- und Mutmachaktion?
Anfangs wollte ich hauptsächlich Aufmerksamkeit auf den Fall lenken und die Menschen informieren. Aber ich bin auf dem Weg vielen Menschen begegnet, die in einem persönlichen Gespräch sagten: „Meinst Du, das bringt überhaupt etwas? Die Mächtigen sind einfach zu stark, das war schon immer so.“ Wenn wir diese Haltung zulassen, wird es auch so bleiben, deswegen möchte ich Menschen Mut machen zu handeln, daher auch eine Mutmachaktion.
Was erwartest Du Dir von der Reise?
Eine Vernetzung von Menschen, auch der Menschen, die mich im Hintergrund unterstützen, und hoffentlich eine Million Menschen vor dem Gefängnis.
Ich denke, dass wir aufstehen müssen, um das zu erreichen, was wir wollen. Petitionen versagen, das erleben wir seit über einem Jahrzehnt. Erst war Assange in der Botschaft eingesperrt und jetzt ist er in einem Hochsicherheitsgefängnis, in Einzel- und Isolationshaft. Ich erwarte, dass wir als Gesellschaft aufstehen und einstehen für die Werte, die uns Politiker dauernd vorhalten. Ich erwarte, dass wir diese Werte auch einfordern. Ich weiß, das ist eine große Erwartung.
Andererseits will ich ihm auch Hoffnung machen. Wenn man Hoffnung hat, hält man länger durch. Er soll wissen, dass es Menschen gibt, die für ihn und für uns alle kämpfen.
Du bist ja schon eine Weile unterwegs, wie waren denn die ersten Tage? Es fing ja eher ungeplant an?
Ja, schon. Ich hatte gekündigt und dachte, jetzt nutze ich die Zeit, um das durchzuziehen. Es gab eine grobe Planung, ich habe mir den Anhänger besorgt und überlegt, wie ich vorgehe und was ich brauche, was für eine Strecke, wo sich ein Stopp lohnt. Das war es aber schon mit der Planung. Die ersten Tage, in denen ich mich auf die Situation einstellen musste, waren begleitet von Pannen, aber jetzt läuft es schon ziemlich gut.
Wo übernachtest Du?
Ab und zu werde ich eingeladen, meistens aber im Zelt. Ich suche mir dann ein schönes Plätzchen, wo ich zur Ruhe kommen kann. Dieser Sommer ist genial für so eine Aktion, relativ wenig Regen macht es leichter, auch wenn es tagsüber schon sehr heiß und anstrengend wird.
Wie viele Kilometer gehst Du jeden Tag?
20 bis 30 km waren geplant, alleine schaffe ich die auch, mein Rekord lag bei 40 km. Gehen andere mit, wird es weniger.
Wer ist denn dabei?
Es sind Aktivisten von anderen Mahnwachen ein Stück mitgekommen, aktuell ist meine Freundin mit dabei. Zeitweise haben uns auch unsere Kinder begleitet, die natürlich andere Bedürfnisse haben. Bei den krassen Temperaturen haben wir da nur ein paar Kilometer geschafft. Auch musste der Wagen umgebaut werden, damit die Kinder darauf sitzen können, aber die Kinder haben tolle Leistungen gebracht.
Wieviel wiegt denn der Wagen?
Ziemlich viel. Es ist ja auch Werkzeug drin, da auf Reisen mal Sachen kaputtgehen. Dann die Essensutensilien, auch für die Kinder, große Pfanne, Topf, Schüsseln, Besteck, das Essen, zwei große Wanderrucksäcke und viel Wasser. Allein der Holzumbau für die Kinder ist 20 kg schwer. Dann der Holzständer für das Plakat, das sichtbar sein soll. Die Konstruktion ist absenkbar, damit ich unter Ampeln durchkomme. Insgesamt hat er sicher 50 bis 60 kg. Auf flachem Gelände ist das kein Problem, aber bei Hügeln …
Die Kinder schlafen auch im Zelt?
Ja, die Kinder haben auch im Zelt geschlafen, sind jetzt aber nicht mehr dabei.
Wie erlebst Du die Reise – wie reagieren die Menschen?
Etwas erschreckend: Im Großen und Ganzen interessieren sich die Menschen kaum dafür, aber es gibt einige, die eine Reaktion zeigen. Ganz prägnant war ein Erlebnis in Düsseldorf. Dort lief ich durch die Stadt und ein Mensch hat mich aus seinem Tesla angehupt und mir den Daumen hoch gezeigt. Da er an der nächsten Ampel stehenblieb, wollte ich ihm meinen Zettel mit Informationen reichen, aber da hat er einfach die Scheibe geschlossen. Das war eine ganz bizarre Situation. Daumen hoch war ok, aber nicht interagieren.
Viele wollen sich einfach nicht tiefer damit auseinandersetzen. Auch heute hatte ich wieder so ein Erlebnis. Der Mensch, mit dem ich sprach, kannte den Fall, aber als das Gespräch tiefer ging, wollte er ganz schnell nach Hause. Sobald die Kriege des Westens angesprochen werden, wird es unangenehm.
Julian Assange steht ja für die Aufdeckung von Menschenrechtsverbrechen, die jetzt an ihm ausgeübt werden. Er steht für Folter in Guantanamo, Abu-Ghraib und allen möglichen Gefängnissen, die quasi von der CIA und anderen Geheimdiensten betrieben werden. Wenn man das oder unsere Kriege wie beispielsweise Afghanistan anspricht, endet das Gespräch oft schnell.
Da ist eine innere Abwehrhaltung, ein Schutzmechanismus: Wenn man die Situation anerkennt, dann müsste man ja aktiv werden und könnte nicht mehr einfach nur gegen den Angriff Russlands wettern und die anderen Kriege ignorieren.
Gab es auch Positives?
Natürlich. Es gab sehr schöne Erlebnisse und Begegnungen. Teilweise kann ich meine Grenzen austesten. Um die Demokratie-Bewegung im Raum Aachen, im Dreiländereck, zu treffen, die einen fixen Termin hatten, mussten wir mit dem Wagen 7 km sprinten, außerdem 220 m Höhenunterschied überwinden, und das in 1 Stunde 20 Minuten. Das hat unheimliche Kräfte mobilisiert, um rechtzeitig dort zu sein. Die Tage danach waren wir recht erschöpft, aber dafür haben wir das gerade noch irgendwie geschafft.
Wie reagieren denn die Menschen, wenn sie Dich mit dem Wagen sehen?
Gelegentlich gibt es ein Hupsignal oder einen Daumen hoch. Ganz selten halten Menschen wirklich an, um mir zu danken und den persönlichen Kontakt zu suchen. Dann entstehen natürlich Gespräche. Es gibt Zuspruch, manchmal eben die Frage, ob es sinnvoll ist oder nicht. Da sind die Menschen unterschiedlicher Meinung. Sehr häufig muss ich tatsächlich Aufklärungsarbeit leisten, weil die Menschen einfach nichts wissen. Ich habe inzwischen Infozettel drucken lassen, auf denen Quellen drauf sind, damit sich die Menschen weiter informieren können. Nils Melzer ist z.B. eine dieser Quellen, er hat ja sehr viel zur Aufklärung des Falles beigetragen.
Wie reagieren die Medien, die Mainstream-Medien insbesondere?
Seitens des Mainstreams reagieren nur Lokalredaktionen. Also, ich bin glücklich, dass sie sich auch als Plattform anbieten, den Fall Assange nochmal zu beleuchten. Die Artikel berichten aber viel mehr über mich als über das, was Julian Assange passiert, dass das Rechtssystem in Großbritannien versagt hat.
Das werde ich jetzt natürlich auch eher tun. In den alternativen Medien ist der Fall ja auch bekannt.
Genau, also in den freien Medien werden solche wichtigen Themen angesprochen. Für mich sind das freie Medien, die durch die Menschen finanziert werden und ohne ideologische Vorgaben für die Menschen schreiben.
Frustriert es Dich nicht, dass die Menschen sich nicht auf das Thema einlassen wollen?
Bei den Menschen … genau dafür werbe ich ja, dafür mache ich diesen Lauf. Die Menschen müssen wieder aufstehen, wir müssen wirklich einfordern, was uns wichtig ist. Sonst führt das nicht nur zu Unrecht wie im Fall Assange. Sonst passieren Dinge, die nicht in unserem Sinne, nicht im Sinne unserer Kinder, nicht im Sinne unserer Alten sind.
Wie meinst Du das?
Ein einfaches Beispiel: Ich habe vor kurzem einen Rentenbescheid bekommen, ich arbeite ja schon lange in der Pflege und werde noch 28 Jahre bis zu meiner Rente arbeiten. Laut diesem Bescheid soll meine Rente 670 Euro betragen. Damit kann ich noch nicht mal die kleine Wohnung in Hamburg finanzieren, die nahe einer Autobahn und mitten in der Einflugschneise liegt. Die ist jetzt nichts Großartiges, aber selbst diese einfache Wohnung werde ich mit dieser Rente nicht finanzieren können. Worauf steuern wir zu?
Ich habe in der lang beklatschten Pflege gearbeitet. Wir haben die versprochenen Corona-Boni nie erhalten. Was soll das? Ich treffe Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben und jetzt in ihrer Verzweiflung Flaschen sammeln, damit sie überhaupt überleben. Volker Pispers hat schon vor Ewigkeiten vorgerechnet, dass wir auf eine Altersarmut von 40 Prozent bei der arbeitenden Bevölkerung zulaufen. Da müssen die Menschen selbst etwas dagegen tun und nicht nur mit den Schultern zucken und sagen „da kann man nichts machen“.
Du willst die Menschen motivieren, sich selber für ihre Zukunft einzusetzen?
Ja, man muss wieder mit anderen ins Gespräch kommen, man muss lernen, sich selbst Informationen zu beschaffen. Man darf nicht nur warten, man darf sich nicht mehr alles gefallen lassen. Man muss wieder für Gerechtigkeit einstehen, auch für globale Gerechtigkeit. Es sind große Ziele, aber irgendwer muss ja damit anfangen.
Wie lange bist Du schon unterwegs?
Ich habe tatsächlich den Luxus, die Zeit jetzt nicht im Blick zu haben, aber heute ist der 11. August, d.h. ich gehe schon einen Monat und neun Tage.
Wo bist Du jetzt?
Ich bin gerade in Aachen auf einem Parkplatz.
Wann, glaubst Du, wirst Du in London ankommen?
Ich habe schon über die Hälfte der Strecke hinter mir – etwas unter 700 km. Noch sind es ca. 500 km bis London – zumindest der Fußweg. Daher hoffe ich, dass die Reise in vier Wochen vorbei ist, also zumindest mein Lauf. Der Kampf um Frieden, Freiheit und Demokratie wird wohl nie enden.
Wie geht es Dir jetzt im Moment?
Ich merke, wie mein Körper wächst, ich habe wirklich krasse Muskeln bekommen, aber auch riesige Adern. Die Beine schmerzen, die Tiefenmuskulatur ist wirklich angespannt. Termindruck wie in Aachen tut mir nicht gut. Und gerade jetzt bin ich ein bisschen gestresst, weil eben jemand auf den Parkplatz kam und meinte: „Gehen Sie bitte weg mit dieser politischen Botschaft“.
Was hast Du heute noch vor?
In der Nähe vom Hambacher Forst habe ich einen jungen Menschen kennengelernt, der Julian Assange kennt und mir für die Aktion gedankt hat. Er meinte, in Aachen gäbe es ein autonomes Zentrum, wo ich mal anklopfen und mich vernetzen soll. Ansonsten soll es hier eine kleine Gruppe aktiver Menschen geben, aber es ist nichts organisiert worden.
Dann gehört es zu meinem Standardprogramm, bei den Kirchen anzuklopfen und bei lokalen Medien vorbeizuschauen, um die Menschen dort auf den Fall aufmerksam zu machen. Ich frage: „Wie kommt es denn, dass Ihr so wenig darüber berichtet?“ Bei Kirchen möchte ich die Pastoren bitten, dass sie die Gemeinde aufklären, dass es diesen Gefangenen in Großbritannien gibt. Es ist aber gar nicht so leicht, da die meisten Kirchenhäuser geschlossen sind. Ansonsten denke ich, dass wir die niederländische Grenze heute noch erreichen werden. Wir sind jetzt auf dem Weg nach Maastricht.
Abschließend, was wünschst Du Dir?
Gestern bin ich an einer Haltestelle vorbeigelaufen, die hieß „Zukunft“. Dort habe ich ein Foto gemacht. „Zukunft“ und „Freiheit für Assange“ – das ist für mich ein Symbol dafür, dass wir das mit der Freiheit und der Demokratie ernst nehmen.
Ich wünsche mir eine erstarkte Gesellschaft, in der wir kommunizieren, was uns wichtig ist, und mehr miteinander reden. Ich wünsche mir, dass wir erkennen, dass das Spaltungsinstrument nur einigen wenigen, sehr einflussreichen Menschen dient. Wir sollten übereinstimmen, dass wir in einigen wenigen Themen eben nicht übereinstimmen, uns davon aber nicht spalten lassen. Denn gemeinsam können wir sehr viel erreichen.
Und dann wünsche ich mir, dass möglichst viele Menschen gelbe Bänder mit den Worten „FreeAssange“ aufhängen.
Wieso das?
Es gab das Lied „Tie a yellow ribbon round the old oak tree“ – das gelbe Band symbolisiert, dass jemand willkommen ist. Es wird von einer internationalen Assange-Unterstützergruppe als Symbol für die Freilassung Assanges genutzt und man will damit sagen, dass er überall willkommen ist.
Wenn Menschen dieses Symbol an ihrer Haustür oder an der Kirche sichtbar platzieren, wird an ihn erinnert. Er soll ja aus der Wahrnehmung der Menschen ausgemerzt werden. So bleibt er in der Erinnerung der Gesellschaft – und wer den Fall nicht kennt, fragt sich vielleicht: „Wer ist Assange?“ Ich mache das auf meiner Reise immer wieder an Plätzen, an denen viele Menschen vorbeigehen.
Dann wünsche ich Dir noch einen guten Marsch heute, viele positive Kontakte und dass Deine Wünsche in Erfüllung gehen.
Vielen Dank. Etwas möchte ich noch loswerden.
Gerne.
Ich möchte allen Unterstützern meinen Riesendank aussprechen – ohne Euch wäre das alles so nicht möglich. Vielen lieben Dank! Das ist unheimlich wichtig für mich, dass es Euch gibt!
Kolja vor der Galerie Arbeiterfotografie in Köln
Informationen zum aktuellen Verlauf der Reise findet man online
- Telegram-Kanal: t.me/longwalk4assange
- Twitter: https://twitter.com/longwalk4julian
- Facebook: https://www.facebook.com/groups/longwalk4julian
Kolja an der Galerie Arbeiterfotografie in Köln - mit freeAssange-Aktivisten, die auf dem Weg zur Mahnwache am Kölner Dom sind
Erstveröffentlichung des Interviews bei NachDenkSeiten
Online-Flyer Nr. 797 vom 31.08.2022
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