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Kultur und Wissen
Zum Gedenken an Mikis Theodorakis
Über drei seiner Jugendjahre
Von Mischi Steinbrück

Theodorakis wurde vielleicht als Genie geboren. Vielleicht werden das aber viele Menschen. Ich war begeistert, als ich in seiner Autobiografie „Die Wege des Erzengels“ und in etlichen anderen Dokumenten entdecken konnte, aus welchen Schätzen er schöpfte, und welches die Voraussetzungen und Momente waren, die zur Entfaltung dieses Giganten führten. Vieles, bestimmt nicht alles, fand ich in seiner Jugend, vor allem in den drei Jahren in Tripolis. 1940 war er 15 Jahre alt, als sein Vater als Staatsbeamter in diese Provinzstadt auf der Peleponnes, nach etlichen anderen Orten, eine Stelle bekam. Mikis, zärtlich von seiner gesamten, zahlreichen Familie geliebt und gefördert – er hatte wegen seiner schon entdeckten Musikalität mit 13 eine Geige geschenkt bekommen, Unterricht erhalten, bereits zu komponieren begonnen; er war durch die sangesfreudige Familie längst mit kretischer, smyrnäischer und der Inselmusik vertraut, vor allem aber auch mit der byzantinischen Kirchenmusik, und es gab schon den Luxus eines Plattenspielers, auf dem Operetten und Opern gespielt wurden, deren Arien alle kannten.

Seine Notenhefte beinhalteten Melodien von Brahms und Beethoven; dies alles war bereits ein lebendiger Fundus, aus dem er schon als Kind schöpfte und mit seinen Gesangs-, Geige- und Kompositionsdarbietungen innerhalb der Familie Applaus erhielt – Mikis hatte eine wunderbare, eine beinah heile Kindheit. Einzig und allein getrübt durch einen, von ihm immer mehr und mehr als unermesslich empfundenen Kummer: Er hatte keine Freunde! Durch die wegen der wechselnden Stellen des Vaters oftmaligen Umzüge der Familie, brach immer alles ab.

Und nun, als er ins Gymnasium in Tripolis eingeschult wurde, kam noch eine Kränkung dazu. Er war mit seinen 15 Jahren bereits 1,95 groß und wurde deshalb gehänselt. Da zog er sich völlig zurück, verriegelte sich sogar vor seiner Familie – das Essen musste ihm vor die Tür gestellt werden – und hasste die Gesellschaft. – Aber er nutzte die selbst gewählte Einsamkeit und las. Platon, Aischylos, Sophokles, die er ins Neugriechische übersetzte. Aber auch Goethe, Hamsun, Nietzsche, Schopenhauer, Solomos, Palamos und Kariotakis. Weiters das Alte Testament mit Hiob und den Psalmen von David und Salomon. Er sucht nach Harmonie, erdenkt sich einen Gott, der das Zentrum dieser Harmonie sein sollte und erdenkt sich eine philosophische und ethische Haltung, die den Menschen zur „Harmonie im Zentrum des Alls“ führen sollte. Und er schreibt Gedichte.

Seine Selbsteinsperrung beunruhigt die Eltern und so schlug ihm sein Vater im Spätsommer 1940 vor, mit der EON, der nationalistischen Jugendorganisation in ein Zeltlager in die Berge Arkadiens zu fahren. Tatsächlich findet er unter diesen Voraussetzungen schnell Anschluss, diskutiert und singt mit den anderen. Hoch oben wird gezeltet. Die militärischen und körperlichen Übungen freuen ihn und helfen ihm, Ängste zu bewältigen. Mikis liebt die Natur und entwickelt Patriotismus.

Dieser Patriotismus schlägt bei ihm wie bei der gesamten griechischen Bevölkerung um in Euphorie, als der Diktator Metaxas dem anderen Diktator, nämlich Mussolini, verwehrt, das italienische Heer in Griechenland einmarschieren zu lassen. Am 28. Oktober 1940 sagt Metaxas OCHI-NEIN, und ganz Griechenland ist auf seiner Seite. Dennoch marschieren die Italiener im Ipiros ein – und Theodorakis schreibt:

„Es war, als würde sich mit dem Angriff der Italiener in Ipiros eine fest verschlossene Tür öffnen, und die Seele des Volkes befreien. Vier Jahre lang hatte die Diktatur den Faschismus, die Achsenmächte, Hitler und Mussolini gepriesen. Das Ganze platzte wie eine Seifenblase. Es bildete sich eine noch nie dagewesene Einmütigkeit. Volk, Armee, Regierung, Junge, Alte, Frauen, Männer, alle zusammen vereint – die Menschen wurden trunken von dieser Euphorie. Wenn abends die Zeitungen mit den Frontnachrichten kamen, fanden regelrechte Kundgebungen statt. Wir gingen in die Schule, nur um zu diskutieren, zu singen und zu schreien – auf dem Höhepunkt unserer patriotischen Begeisterung, zu tanzen. Wir werden sie besiegen – wir werden sie vernichten! … Dann die ersten Bombenangriffe, Panik, Opfer… Langsam begriffen wir, was Krieg bedeutet… Verdunkelungen, Schutzbunker… Man bildete die ersten Luftschutzeinheiten… Aber die neue Situation belebte die Seelen der Menschen, die plötzlich aufrecht gingen und schön aussahen…“

Am 14. November 1940 erfolgte die Gegenoffensive der militärisch weit unterlegenen griechischen Streitkräfte. Mikis, als 15Jähriger, macht den Versuch, an die Front zu kommen. Der misslingt, und aus Enttäuschung über seinen Vater, der ihn nicht noch einmal losziehen lässt, läuft er von zu Hause weg und quartiert sich im Hauptquartier der EON ein. Er schläft dort auf dem Boden oder auf einem Schreibtisch. Dann wird er als Fahrradkurier eingesetzt. Später für die Volksverpflegung der Familien von Frontsoldaten. Als er die ersten Verwundeten hilflos vor dem Bahnhof liegen sieht, fängt er an, sie ins nächste Hotel zu schleppen. Mühselig und über Stunden hinweg. Aber dort, in den Salons, vergnügen sich Offiziere, Politiker und höhere Beamte. Sie zeigen keinerlei Mitleid. Und der Hotelbesitzer will sich weigern, die verwundeten, verkrüppelten, verlausten, dreckigen, jammervollen Gestalten aufzunehmen. Doch Mikis, bereits ranghöheres Mitglied der EON, erpresst ihn mit der Drohung, ob er „gezwungen werden wolle“. Diesem Druck beugte er sich, wie später noch weitere Hoteliers. Sie mussten den Verwundeten die besten Zimmer, saubere Laken, Decken, Seifen usw. geben. Da bemerkte der junge Theodorakis, dass alle diese Offiziere und hohen Funktionäre, die nicht an der Front waren, aus reichen Familien stammten, während die Verwundeten, durchwegs arme Burschen, aus den Dörfern kamen.

Die Siege der griechischen Armee in Albanien führten zu einer weiteren Euphorie, während Mikis seine Hilfe für die Verwundeten bereits mit musikalischer Arbeit verbindet. Er gründet einen Chor mit Mitgliedern der Organisation. 50 Sänger, die er für das weihnachtliche Kalandasingen dirigierte. Eine Sensation in Tripolis. Hunderte von Menschen kamen, waren begeistert und spendeten Geld und Geschenke, die Mikis dann mit den anderen EON-Jugendlichen tagelang verpackte und zu den Familien brachte.

Der Zusammenbruch, schreibt Theodorakis, kam überraschend. Anfang April 1941 greifen italienische, bulgarische und vor allem deutsche Verbände Griechenland an. Am 21. April kapitulierte Griechenland. Von Sommer 1941 an hungerte der Großteil des Volkes. In der Schule, in die Mikis immer noch geht, „…gab es drei Kategorien von Schülern. Die, die hungerten und umfielen. Die, die hungerten und nicht umfielen. Und die, die aßen wie noch nie…“ Nämlich die Kinder der Bauern und der Schwarzhändler. Da beschlossen die Hungernden, die Satten zu erpressen: Keiner von ihnen wurde ins Klassenzimmer gelassen, bevor er nicht Kartoffel, Eier, Mehl usw. abgegeben hatte. Es kam zu Prügeleien. Aber die „Zollgebühren“ setzten sich durch, auch in anderen Gymnasien. Doch gegen den allgemeinen Hunger und den Schwarzhandel war man machtlos. In einem Dorf erlebte Mikis zusammen mit zwei Mitschülern, wie halb verhungerte Waisenkinder aus einem Lastwagen auf die Straße geworfen wurden. Sie waren von Athen aufs Land verschickt worden. Doch die Dorfbewohner gingen grausam mit Steinen und Holzstangen auf die Kinder los, damit sie aus dem Dorf verschwänden. Ohnmächtig mussten die drei Schüler das mitansehen. Später gab ihm einer der Schüler ein Buch, eingewickelt in ein Tuch und unter Kartoffeln versteckt. Es war Lenins Biografie.

Ich komme nun zum letzten, allerdings entscheidenden Kapitel dieser knappen drei Jahre Tripolis. Denn in dieser Zeit wird Mikis Komponist und Kämpfer. Diese Entwicklung geschieht in Wechselwirkung sowohl menschlich, praktisch, ideell und theoretisch.

Er war durchdrungen von seiner philosophischen und literarischen Lektüre. Im Rahmen seiner EON-Aktivitäten fand er auch Freunde, die seine Leidenschaft teilten. Sie gründeten eine literarische Zeitschrift und veröffentlichten ihre Gedichte. Sie machten gemeinsame Spaziergänge und Wanderungen und diskutierten noch in der Natur. So entdeckten sie zum Beispiel die Gedichte von Jannis Ritsos und waren so über die Maßen begeistert, dass sie den Felsen, auf dem sie beim lauten Deklamieren seiner Gedichte saßen de „Ritsos-Felsen“ tauften. Mikis erhält jetzt im Gymnasium auch Klavierunterricht und wird in Harmonielehre unterrichtet. Das Klavier wird ihm unersetzlich. Sein Kopf ist voller Klänge. Er beginnt, Gedichte zu vertonen, eigene, die der Freunde und bedeutender neugriechischer Autoren.

Völlig hingerissen war er von Beethovens 9ter. Er hörte sie zum ersten Mal, als sie in einem deutschen Film, der in Tripolis gezeigt wurde, gespielt wurde. In diesem Augenblick beschloss er, Komponist zu werden. Und er weigerte sich von da an, etwas anderes als Musik zu lernen. Alles andere Wissen erschien ihm mit einem Schlag unwesentlich. Das Mysterium der Harmonien faszinierte ihn. Für einen Volks-Wettbewerb komponierte er Anfang 1942 „I Kassianí“, ein vielstimmiges religiöses Chorwerk, das er mit ausgesuchten Sängern einstudierte und in der Kirche der Hlg. Barbara uraufführte. Die Kirche war überfüllt. Es hatte sich herumgesprochen, dass es etwas ganz Neues gab. Denn Mehrstimmigkeit gab es in der griechischen Kirchenmusik bis dahin nicht. Es war eine Revolution. Es wurde danach in einem privaten Salon wiederholt und schließlich sogar im zentralen Kino von Tripolis wieder aufgeführt. Wieder war der Saal voll. Und diesmal waren sogar alle italienischen Offiziere gekommen, was noch Bedeutung haben sollte.

In der Zwischenzeit haben sich in ganz Griechenland die verschiedensten Widerstandsorganisationen gegründet. Und seit Anfang 1942 reisten auch in Tripolis Repräsentanten einer „Geheimorganisation“ an. Ironisch erzählt Theodorakis, wie daraufhin Gymnasiasten und Studenten anfingen, sich auffällig ernst und konspirativ zu benehmen. Die fremden Führungsgestalten nahmen mit allen seinen Freunden Kontakt auf, nur nicht mit ihm. Sie fürchteten den Einfluss, den er trotz seiner Jugend bereits auf seine Umgebung hatte.

Am 25. März stand das Gedenken an die Befreiung Griechenlands von der osmanischen Fremdherrschaft an. Ein nationaler Feiertag, an dem die Leute von Tripolis sich am Ehrengrab eines der bedeutendsten Freiheitskämpfers, des Kolokotronis, versammeln. In diesem Jahr wurde die Siegesfeier von den italienischen Besatzern verboten. Doch Mikis war zu Ohren gekommen, dass die „Geheimorganisation“ das Volk zur Versammlung aufrief. Da beschloss er, der nicht eingeweiht und eingeladen war, allein zu der Versammlung zu gehen. Er identifizierte sich mit den mythischen Helden, die sich für die Heimat opferten einerseits. Andererseits aber wollte er es denen, die ihn außenvor gelassen hatten, heimzahlen. Als dann tatsächlich eine, eher unbedeutende, Versammlung vor dem Kolokotronis-Denkmal zustande kam, marschierten zuerst die griechischen Gendarmen, wenig später die italienischen Soldaten auf. Das war der Moment der großen Wende in Theodorakis‘ Existenz.

Er schlug einen italienischen Offizier, an dessen Hut eine Feder steckte und der eine Pistole in der rechten Hand hielt, ins Gesicht. Er war sicher getötet zu werden und rief „Es lebe die Sowjetunion!“ Die Gendarmen stürzten sich auf ihn und verprügelten ihn. Dann wurde er von den Italienern verhaftet und in Ketten durch die Straße geführt. Innerlich dankte er den Besatzern und fühlte sich von ihnen in den Himmel gehoben. Im italienischen Gefängnis wurde er dann allerdings systematisch und bis zur Bewusstlosigkeit gefoltert. Zum Glück konnte ein Ehrenbürger der Stadt erreichen, dass er in das griechische Gefängnis überstellt wurde. Dort lernte er einen Schuster kennen, der Kommunist war und Leiter des Widerstandes in der Region Tripolis. Nach seiner Freilassung ließ er ihm Bücher über den Marxismus zukommen. Theodorakis sagte: „Ich habe Gott gesucht – und den Arbeiter gefunden“. Er beantragte seine Aufnahme in der EAM, der Widerstandsorganisation der Kommunisten. An seiner Schule wird er schließlich Aktivist der EAM.

Wieder wird er von den Italienern festgenommen und gefoltert. Zum ersten Mal erlebt er, wie später noch einige Male, die Vorbereitung zu seiner Hinrichtung. Da rettet ihn ein Bombenangriff, der die Folterer tötet. Aber die Überlebenden bringen ihn wieder nach Tripolis ins italienische Gefängnis. Das schizophrene und paradoxe Verhalten des italienischen Oberkommandanten Festuccio rettet ihn noch einmal. Denn der hatte Theodorakis Kassiani-Konzert damals im Kino in Tripolis gehört. Bald würden die Deutschen Tripolis besetzen. Und der Kommandant will nicht, dass ein so viel versprechender junger Komponist den Deutschen in die Hände fällt. Er schickt ihn nach Athen. Auf der Fahrt ins dortige Gefängnis desertieren die zwei italienischen Soldaten, die ihn bewachen sollten. Und Theodorakis kann in Athen ins Haus seines Onkels flüchten, sich verstecken – und bald danach im Untergrund weiter für die Befreiung kämpfen. Dort begannen für ihn, wie er kurz vor seinem Tod bekannte, die schönsten Jahre seines Lebens: Im Kampf zusammen mit der Arbeiterschaft von Piräus.

Online-Flyer Nr. 798  vom 19.09.2022

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